Kapitel 8 - Alles nur Fassade?

Judith

Mit gierigen Schlucken leere ich meine Wasserflasche, während mir der Schweiß über die Stirn perlt. Obwohl es Ende September ist, gibt die Sonne noch einmal alles und hat die Halle gut aufgeheizt. Was unsere Trainerin nicht daran gehindert hat, uns hart ranzunehmen. Mein Shirt klebt am Körper und ich öffne meine Sporttasche, um mein Duschzeug rauszuholen. Wie üblich schaue ich dabei kurz aufs Handy. Eine neue Nachricht.

 

Hi Judith, wie geht’s? Hast du zufällig ein Hamburg-Bild für mich? Grüße, Freddy.

 

Verwundert lese ich die Nachricht ein zweites Mal. Ein Hamburg-Bild? Hat er etwa Heimweh?

 

Hast du die Alpenkulisse schon nach einer Woche satt?

 

Hoffentlich versteht er meinen belustigten Unterton. Ich lege das Handy zurück in die Tasche und gehe duschen. Aber anstatt den anderen zuzuhören, wie sie über das Training stöhnen oder Spielzüge diskutieren, bleibe ich in Gedanken bei Freddy. Im Gegensatz zum Wochenende, als er seine Nachrichten mit Emojis kombiniert hat, war in dieser Nachricht keins enthalten. Das muss natürlich nicht unbedingt etwas bedeuten, aber mir fällt sein müder und besorgter Ausdruck ein, der bei unserem letzten Zusammentreffen auf seinem Gesicht lag. Hat er letzte Woche nicht gesagt, dass ihm die Berufsschule in Bayern überhaupt nicht in den Kram passe? Aber was will er mit einem Bild von Hamburg? Abgesehen davon, dass die Frage ganz schön unkonkret ist. Was will er haben? Landungsbrücken, Jungfernstieg, Elbstrand, ElPhi?

Mit dem Handtuch um die Brust gewickelt tapse ich zurück in die Umkleide und schaue direkt wieder aufs Handy. Unwillkürlich schlägt mein Herz schneller, als ich sehe, dass Freddy tatsächlich geantwortet hat.

 

Nee, bin nur frustriert. Hab gedacht, vielleicht hilft ein Heimatbild dagegen.

 

Frustriert? Ich schau, was ich machen kann.

 

Obwohl ich es normalerweise genieße, nach dem Training zusammen mit Helena nach Hause zu fahren, kann ich es heute kaum erwarten, dass sich unsere Wege an der Kreuzung wieder trennen. Sie hat mich schon letzte Woche, als ich mit den Zimtschnecken bei ihr ankam, nach allen Regeln der Kunst ausgequetscht. Noch so ein Verhör dieser Art brauche ich so schnell nicht. Sobald Helena abgebogen ist, verlangsame ich mein Tempo und sehe mich nach rechts und links um. Was soll ich für Freddy fotografieren? Den Isebekkanal?

Als ich an Jörns Fischbude vorbeikomme, halte ich abrupt an. Das ist das perfekte Motiv! Ich zücke mein Handy und fotografiere die Möwe, die sich gerade über das Fischbrötchen eines verdutzt dreinblickenden Mannes hermacht.

Das kann dir in Bayern nicht passieren, schreibe ich und schicke das Bild ab.

Erst zwei Stunden später, nach dem Abendessen mit meiner Familie, sehe ich die fünf tränenlachenden Emojis, die Freddy mir als Antwort geschickt hat. Hastig werfe ich meine Schulsachen für morgen in meinen Rucksack und lasse mich mit dem Handy aufs Bett fallen.

 

Bist du jetzt nicht mehr so frustriert?

 

Ich beobachte die auf und ab hüpfenden Punkte, während er schreibt.

 

Ja, das Möwenbild hat echt geholfen. Danke.

 

Was war denn los? Ich zögere. Ist die Frage zu direkt? Andererseits hat er mir mit seiner Bitte diese Frage praktisch aufgedrängt. Mein Daumen schwebt über dem Senden-Pfeil – und schließlich schicke ich die Nachricht ab.

Wieder tanzen Punkte auf und ab. Und verschwinden wieder. Tanzen. Verschwinden. Bin ich ihm doch zu nahe getreten mit der Frage? Oder ist er einfach nur abgelenkt? Ich schließe die Augen und lege das Handy umgedreht auf meinen Bauch. Ich muss echt aufhören, alles so zu zerdenken. Gegen das Kribbeln, das die Vibration meines Handys auslöst, kann ich mich allerdings nicht wehren. Halbwegs erleichtert lese ich Freddys Antwort.

 

Wollte am Wochenende eigentlich nach Hause kommen. Aber das Zugticket ist zu teuer.

 

Soll ich dir was leihen?, frage ich spontan.

 

Diesmal antwortet er sofort.

 

Auf gar keinen Fall!!!!!!!!! So gut kennen wir uns noch gar nicht. Außerdem brauchst du dein Geld bestimmt selbst.

 

Er hat recht. Eigentlich kennen wir uns fast überhaupt nicht. Wir haben uns genau dreimal gesehen und zweimal miteinander gesprochen. Wenn man die abgehackten Gesprächssituationen denn so bezeichnen will. Dennoch fühlen sich unsere Chats seltsam vertraut an. Warum sonst hat er mich und nicht einen seiner Bandkollegen nach einem Foto gefragt? Ja, mag sein, vielleicht bin ich zu vertrauensselig, das hat Helena mir schon öfter gesagt. Trotzdem würde ich Freddy unterstützen, wenn es ihm so wichtig ist nach Hamburg zu kommen. Ich denke an das Geld, das ich vor einiger Zeit für die LK-Fahrt in zwei Wochen zur Seite gelegt habe. Allerdings habe ich auf die England-Reise gerade wenig Lust und glaube nicht, dass ich großartig shoppen gehen werde.

Kurz überlege ich, ob ich ihm noch mal meine Unterstützung anbieten soll, lasse es aber doch bleiben. Freddy war mit seiner Antwort mehr als deutlich.

 

Dann bleiben wir bei Möwenbildern,

 

schreibe ich stattdessen und ernte wieder lachende Emojis.

Gute Nacht. Träum was Schönes, fügt er hinzu und noch ehe ich etwas erwidern kann, ist er offline.

Anstatt es ihm gleichzutun und ins Bett zu gehen, scrolle ich durch meinen Instagram-Feed und bleibe bei den Bildern einer Austauschorganisation hängen. Ein Junge namens Dario macht einen Take-Over zu seinem Freiwilligendienst in Panama. Die Bilder von bunt gekleideten Menschen, spektakulären Sonnenuntergängen und grünen Wäldern wecken in mir sofort das Fernweh. Schon vor zwei Jahren wusste ich, dass ich nach dem Abi erst einmal ein Auslandsjahr machen will. Aber jetzt wird es langsam konkreter. In weniger als einem Jahr werde ich meinen Abschluss in der Tasche haben, und dann will ich dort sein, wo Dario gerade ist. Ich genieße das aufgeregte Kribbeln in der Magengegend und lausche meinem Herzschlag, der mein Blut rauschend durch meine Adern pumpt. Panama. Ganz schön weit weg. In unseren Familienurlauben oder den Pfadfinderlagern bin ich immer in Europa geblieben. Vor allem aber war ich immer in einer Gruppe unterwegs. Jetzt will ich wissen, ob ich auch zurechtkomme, wenn ich auf mich allein gestellt bin. Mit dem breit grinsenden Dario vor atemberaubender Kulisse fällt es leicht zu glauben, dass das gar nicht so schwer sein kann.

 

In den nächsten Tagen sammle ich Bilder und Videos und stelle sie in einem digitalen Moodboard zusammen. Jedes Mal, wenn ich mein Notebook öffne, sehe ich nun bunte Panamabilder, und jedes Mal fühle ich dieses Kribbeln durch meinen Körper fließen. Als ich im Englischunterricht das Notebook öffne, schaut Melanie mir über die Schulter und lacht höhnisch.

 

„Sag bloß, du gehst auf Weltreise nach dem Abi? Ich hätte drauf gewettet, dass Flugreisen deinem Karma-Konto bei Gott schaden.“

 

Von einer Sekunde zur nächsten verändert sich das aufgeregte Kribbeln in heiße Wut, und nur weil ich meine Fingernägel tief in meine Handflächen bohre, gelingt es mir, meiner Klassenkameradin nicht das Notebook um die Ohren zu hauen. Ich könnte darauf hinweisen, dass mein christlicher Glaube erstmal nichts mit dem buddhistischen Karma zu tun hat. Aber das ist sinnlos und außerdem geht es Melanie gar nicht darum. Deshalb überdecke ich nur schnell den Bildschirmhintergrund mit einem neuen Textdokument und sage: „Nein, ich gehe nicht auf Weltreise. Ich möchte einen Freiwilligendienst in Panama machen.“

Melanie könnte es jetzt dabei belassen, schließlich sollen wir uns in dieser Stunde mit unserem Referat für unser LK-Fahrt beschäftigen. Aber sie lässt es nicht. Stattdessen lehnt sie sich mit verschränkten Armen auf ihrem Stuhl zurück und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Und dann bist du die neue Mutter Teresa vom Dienst? Willst du mit armen Kindern in einer Lehmhütte wohnen, oder was?“

Meine Kehle schnürt sich zu. Ich weiß nicht, ob ich wütend oder fassungslos oder verletzt bin – aber in diesem Moment ist mir einfach nur zum Heulen. Was hat sie eigentlich gegen mich? Warum kann sie mich nicht mein Ding machen lassen?

„Ich find das heuchlerisch, ein Jahr so zu tun, als würde man sich voll für die Armen einsetzen, und danach kehrt man wieder in sein normales Leben zurück und schert sich nicht mehr drum, dass die Leute da trotzdem noch verhungern.“

Ihre Argumentation ist gar nicht mal schlecht, das muss ich ihr leider zugestehen. Aber die Lösung kann ja nicht sein, gar nichts zu tun. Und außerdem gibt es Möglichkeiten, auch über ein Freiwilligenjahr hinaus zu helfen. Ich habe weder Lust noch Gelegenheit, weiter mit Melanie darüber zu diskutieren, denn in diesem Moment kommt unser Lehrer an unseren Plätzen vorbei und erinnert uns daran, uns mit der Gloucester Cathedral zu beschäftigen.

Melanies Worte haben sich jedoch in meinem Kopf festgesetzt.

 

Ist es verkehrt, nur für ein Jahr Freiwilligendienst zu leisten?

 

Für ein FSJ um die Welt zu fliegen? Gäbe es nicht auch hier in Deutschland genug zu tun? Ich könnte einen Bundesfreiwilligendienst machen wie Samuel. Hat Melanie nicht irgendwie recht? Nutze ich die Projekte in Panama aus, um meinen Traum zu verwirklichen? Was ist das Richtige?

Ich entsperre meinen Handybildschirm, wobei sich schlechtes Gewissen in das Kribbeln mischt, als ich auf das Panamabild im Hintergrund sehe. Vielleicht sollte ich den Hintergrund wieder ändern. Ich scrolle durch das Fotoarchiv und entdecke das Möwenbild, das ich Freddy geschickt habe. Kurzentschlossen setze ich es als Bildschirmfoto ein. Da ich nun schon dabei bin, öffne ich direkt die Nachrichten-App und suche den Chat mit Freddy raus.

Moin, wie läuft die zweite Woche in Bayern?

Leider antwortet Freddy diesmal nicht direkt. Wahrscheinlich hat er selbst gerade noch Unterricht. Zum Glück ist die Playlist von Escape inzwischen abgespeichert und ich verziehe mich mit der Musik in die letzte Ecke des Schulflurs, in der Melanie mich garantiert nicht stören wird.

 

Some days I just can’t stand the smell of fish n chips and seagulls

Some days I just feel like I’m the next shrimp on the barbe

How can I fly my destiny

Does it really need to be

The end of what I am

When everyone’s just fighting for themselves?

 

Ich habe nicht genau darauf geachtet, in welcher Reihenfolge die Lieder abgespielt werden. Noch nie habe ich die Lyrics so gut nachvollziehen können und unwillkürlich zieht sich mein Herz zusammen und in meinem Hals wird es enger. Die Akkorde von Freddys E-Gitarre schwingen in meinen Adern nach und während er mit Ben zweistimmig in das Run until you fly übergeht, sehe ich vor meinem inneren Auge wieder den Konzertabend vor mir. Wie Ben und Freddy uns zum Klatschen animiert haben. Wie wir eins wurden. Ich war allein auf dem Konzert, aber spätestens ab Run fühlte ich mich als Teil der Gruppe, die die Musik von Escape gefeiert hat.

Erst als ein Tropfen auf meine Hand fällt, bemerke ich, dass mir Tränen übers Gesicht laufen. Verstohlen wische ich sie weg. Vor der nächsten Stunde sollte ich besser noch einen Abstecher zu den Toiletten machen.

 

Das fehlte noch, dass mich gleich jemand so verheult sieht.

 

So wie die Leute aus meinen Kursen drauf sind, unterscheiden sie nicht zwischen Glückstränen und anderen Tränen. Sie hätten nur einen weiteren Grund, sich über mich Lust zu machen. Auf Instagram suche ich den Post von Escape raus, auf dem sie Run angeteasert haben. Ein paar Leute haben bereits kommentiert, der Post ist auch schon einige Monate alt. Ich setze ein Like und schreibe ebenfalls einen Kommentar.

Starker Song, fühl ich gerade so sehr. Danke dafür.

Am liebsten würde ich noch die anderen Songs aus der Playlist hören, aber meine Handyuhr verrät mir, dass die Pause in drei Minuten vorbei ist. Ich stecke das Smartphone also in die Tasche und husche zu den Toilettenräumen.

 

Am späten Nachmittag sitze ich grübelnd über meinen Biohausaufgaben, was weniger am Ökologie-Thema liegt, als vielmehr an der Broschüre über Freiwilligendienste, die ich auf meinem Schreibtisch liegen hatte. Jetzt habe ich sie zwischen zwei alte Collegeblöcke gesteckt. Die Erinnerung an das, was Melanie gesagt hat, lässt sich dennoch nicht mehr vertreiben. Es stört mich selbst, dass ich mir von ihrem Kommentar die Laune so verderben lasse und mich schlecht fühle. Am liebsten würde ich mich einfach auf das Gute konzentrieren, mich wieder über die Bilder freuen, die ich im Moodboard zusammengestellt habe. Aber je stärker ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, desto weniger gelingt es mir.

Frustriert schlage ich das Biobuch zu. In der Zeit, in der ich auf den Text gestarrt habe, ist dieser See, über den ich etwas schreiben soll, bestimmt schon dreimal umgekippt. Der Aufsatz wird heute nicht mehr fertig.

„Judith, kommst du essen?“

Ich zucke zusammen und sehe meinen Vater, der im Türrahmen steht, vermutlich ziemlich erschrocken an.

„Ich habe geklopft“, verteidigt er sich direkt. „Störe ich gerade?“

Lachend schüttle ich den Kopf. „Nein, schon okay. Ich komme.“

Ehe ich meinem Vater in die Küche folgen kann, blinkt jedoch mein Handy auf und ich bleibe doch noch kurz im Zimmer.

 

Hi Judith, sorry für die späte Antwort. Hatte bis eben Unterricht. Zweite Woche ist okay. Und bei dir?

 

Ein Lächeln fliegt über mein Gesicht.

 

Wie verrückt ist es eigentlich, mit jemandem zu schreiben, den ich eigentlich kaum kenne?

 

Trotzdem fühle ich mich ihm gerade näher als sonst jemandem. Nicht einmal Helena.

 

Geht so, ehrlich gesagt. Aber Run hat heute gut geholfen. Ist ein wirklich cooler Song. Schön, dass es bei dir besser läuft. Hast du Bedarf an neuem Hamburg-Content?

 

Diesmal antwortet er wieder direkt.

 

Ach, dann war der Kommentar auf Insta von dir? Danke. Freut mich sehr, dass dir der Song gefällt. Am Wochenende kann ich Hamburg-Content wieder live bekommen.

 

Sag bloß, du kommst!

 

Freddy schickt ein breit grinsendes Emoji. Ja, ein Klassenkamerad fährt zu seinen Eltern nach Göttingen und kann mich bis dahin mitnehmen. Von dort aus ist das Ticket bis Hamburg zum Glück nicht so teuer.

 

Ich schicke ein Emoji mit Partyhut zurück. Das freut mich für dich. Cool, dass du eine Mitfahrgelegenheit hast.

 

Ja, richtig nice.

 

Kaum, dass ich diese Nachricht erhalten habe, sehe ich, dass er weiterschreibt. Aber dann verschwindet das Zeichen wieder, nur um kurz darauf wieder aufzutauchen. Gebannt starre ich auf den Bildschirm. Als Freddys Nachricht dann tatsächlich erscheint, fällt mir das Smartphone beinahe aus der Hand und mein Puls beginnt von einer Sekunde zur nächsten zu rasen.

 

Hast du Bock auf ein kurzes Treffen? Also, komme Freitag erst spät und muss Sonntag Mittag auch wieder los, aber vielleicht ein kleiner Spaziergang oder so?

 

Damit mir das Handy nicht wirklich noch runterfällt, umklammere ich es mit beiden Händen und lehne mich an den Schreibtisch. Nie und nimmer hätte ich mit dieser Frage gerechnet. Das ist so absurd. Und trotzdem tippe ich mit beiden Daumen meine Antwort.

„Judith, wo bleibst du denn?“, höre ich Papa von unten aus dem Flur rufen.

„Ich komme“, rufe ich, schicke die Nachricht ab und laufe die Treppe hinunter zur Küche. Mit einem Mal ist mir viel leichter ums Herz als noch vor einer Stunde. Vielleicht ist es total verrückt, was ich hier mache, aber gerade fühlt es sich gut an. 

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