Kapitel 10 - Ausgeschlossen

Judith

Am Fenster des Reisebusses zieht regnerisch graue Landschaft vorbei. Nicht gerade stimmungshebend. Ich lehne meinen Kopf gegen die Scheibe und sehe den Regentropfen nach, die im Fahrtwind in wilden Mustern das Glas entlangrinnen. Julia sitzt neben mir, hat sich aber abgewendet und quatscht leise mit Sabrina, die auf der anderen Seite des Gangs sitzt. Sabrina kichert leise und ich spitze die Ohren. Sprechen sie über mich? Ich sehe mich zu den beiden um, und bin halbwegs erleichtert, dass meine Klassenkameradinnen auf Herrn Willms deuten, der vorne hinterm Busfahrer sitzt und eingenickt ist. Zwar weiß ich nicht, was an einer schlafenden Person so witzig ist, aber ich bin froh, dass ausnahmsweise einmal nicht ich das Ziel von Spott bin. Die Erleichterung hält nur für ein paar Sekunden an.

Ich muss auf der Hut sein.

 

Zwar sind Julia und Sabrina nicht so schlimm wie Kilian oder Melanie, ich werde während der LK-Fahrt sogar das Zimmer mit ihnen teilen, aber die Erlebnisse der letzten Wochen haben mich vorsichtig werden lassen. Es ist besser, keine Angriffsfläche zu bieten. Als auch weiter hinten im Bus getuschelt wird, setze ich meine Kopfhörer auf. Vielleicht geht es gar nicht um mich, aber mir fehlt die Kraft, mich zu vergewissern. Leider lenkt mich meine Playlist diesmal nicht so ab wie sonst. Als eines der Lieder von Escape erklingt, wandern meine Gedanken automatisch zu meinem Treffen mit Freddy zurück. Wie er vor mir zurückgewichen ist und unseren Spaziergang abrupt abgebrochen hat. War ich zu forsch? Tausendmal habe ich seit Samstag eine Nachricht an Freddy begonnen, letztlich aber immer wieder jedes Wort gelöscht. Er hat sich auch nicht gemeldet. Wahrscheinlich will er mich nicht wiedersehen. Er hat beim Abschied ja nicht mal richtig auf meine Frage reagiert. Ich war naiv zu hoffen, dass er, der strahlende Musiker, sich für mich interessieren könnte. Dabei hatte ich wirklich das Gefühl, unser Chat würde ihm ähnlich viel bedeuten wie mir.

Als wir endlich auf der Fähre nach England sind, gehe ich nicht mit den anderen ins Innere, sondern stelle mich an Deck an die Reling und schaue auf den Ärmelkanal.

 

Die Tränen, die mir kurz darauf übers Gesicht laufen, könnten auch vom Herbstwind kommen.

 

Mit Julia, Sabrina, Amira und Imke auf einem Zimmer fühle ich mich beinahe willkommen. Sabrina stellt ihren mitgebrachten Wasserkocher auf, ich habe Tee für alle mitgebracht.

„Super Auswahl“, sagt Julia. „Toll, dass du an Kräutertee gedacht hast.“

Ich lächle sie dankbar an. Wenn sie wüsste, wie gut dieser Satz nach den letzten Wochen tut. Für einen Moment wird mir ganz warm, auch ohne Tee. Beim anschließenden Erkundungsspaziergang halte ich mich in den Gesprächen dennoch zurück, da auch Melanie und Kilian nicht weit sind. Erst als wir zurück im Hostel sind und auf dem Doppelbett von Sabrina und Julia sitzen, Karten spielen und Schokolade essen, schwindet meine Scheu. Ich würde fast behaupten, dass ich Spaß habe. Vielleicht wird die LK-Fahrt doch ganz okay.

Am nächsten Morgen ist die Unsicherheit jedoch mit einem Schlag wieder da, als wir uns auf den Weg zur Gloucester Cathedral machen. Melanie, Oksana, Kilian und Lili gehen am Ende unserer Gruppe. Inzwischen hasse ich es, sie im Rücken zu haben und ich sehe mich skeptisch nach ihnen um. Kilian hat seinen Arm um Oksanas Hüfte gelegt und zeigt den anderen etwas auf seinem Handy, woraufhin sie auflachen. Sofort schlägt mein Herz wieder bis zum Hals. Es gelingt mir nicht, mir einzureden, dass es vermutlich irgendein Mist ist, den Kilian bei Instagram oder so gefunden hat.

 

Hat er nicht gerade zu mir rüber genickt?

 

Ich hefte meinen Blick auf die beeindruckende Fassade der Kathedrale, während unser Lehrer zum Ticket-Schalter geht, um uns anzukündigen. Gleich werde ich mit Kilian und den anderen Ergebnisse unserer Projektarbeit präsentieren müssen. Wie abgesprochen, habe ich etwas zur Geschichte vorbereitet. Ob die anderen ihre Beiträge auch parat haben, weiß ich nicht. Meine letzten Nachfragen haben sie geflissentlich ignoriert.

Herr Willms kommt mit einem freundlich blickenden älteren Herrn zu uns zurück. Er stellt ihn uns als Mr Lukies, unseren Guide vor, und erwähnt sogleich, dass wir in unserer Klasse fünf Experten für die Gloucester Cathedral hätten.

„Splendid“, sagt Mr Lukies und seine Augen funkeln hinter der Brille. Wir könnten ihn bei der Führung gern unterstützen und kontrollieren, ob er auch keine Fehler mache, fügt er belustigt hinzu. Wie die anderen würde ich gern über diesen Witz lachen, aber es bleibt mir in der Kehle stecken. Stattdessen fangen meine Hände unkontrolliert an zu zittern und sind plötzlich schweißnass. Mit unsicheren Schritten folge ich meiner Klasse. Und während meine Mitschüler gleich Harry Potter Vibes bekommen und ins Schwärmen geraten, bin ich damit beschäftigt, nicht in Ohnmacht zu fallen. Schwankt der Boden tatsächlich? Ich bekomme kaum mit, wie Mr Lukies etwas zur Architektur erzählt und dabei immer wieder Oksana ansieht, die ein paar Dinge ergänzt. Mit festen Bewegungen massiere ich meine Ohrläppchen, um wieder etwas klarer zu werden. Es hilft etwas gegen den Schwindel. Ich ziehe meine Wasserflasche aus dem Rucksack, doch meine Hände zittern noch immer, sodass mir ein ordentlicher Schluck über die Jacke läuft. Auch das noch. Ich sehe Melanie grinsen. Hastig stecke ich die Flasche wieder zurück.

Im Kreuzgang bleibt Mr Lukies mit uns an einer Ecke stehen und erläutert die Fenster, das Fächergewölbe. Ich lehne mich an die Mauer und genieße den kühlen Stein im Rücken. Gerade ist eine britische Schulklasse mit klackenden Schritten an uns vorbei gegangen, als sich eine weitere Besuchergruppe nähert.

 

„Guck mal, Judith, ich glaube, das ist deine Reisegruppe“,

 

sagt Kilian und deutet auf ein gutes Dutzend Nonnen in graublauem Habit.

Der Kloß, der augenblicklich in meinem Hals hängt, ist so groß, dass ich weder etwas erwidern, geschweige denn atmen kann. Ironischerweise hat Kilian sogar recht. Ich würde viel lieber mit den Nonnen die Kathedrale besuchen als mit meinem Englischkurs. Weniger deshalb, weil sie Nonnen sind, sondern einfach nur, um weg von Kilian zu kommen. Aber ich bin hier an der Mauer wie festgeklebt, ich kann lediglich meinen Kopf drehen. Eine der Nonnen lächelt mir im Vorbeigehen zu. Ich würde das Lächeln gern erwidern, stattdessen brennt es verdächtig in meiner Kehle und ich muss mich ganz darauf konzentrieren, nicht loszuheulen. Nicht hier, nicht vor den anderen.

Ausgerechnet jetzt wendet sich Mr Lukies an mich und fragt mich, ob ich etwas zu den Anfängen des Klosters erzählen könnte. Ich starre ihn an als wäre er aus dem Nichts vor mir erschienen. Mein Kopf ist leer. Alles, was ich in den letzten Wochen über die Geschichte der Kathedrale recherchiert und gelernt habe, was ich vor einer halben Stunde noch im Kopf hatte, ist weg. Egal, wie sehr ich mich bemühe, es wiederzufinden – es bleibt verschollen. Melanie und Oksana kichern, Kilian grinst breit. Es dröhnt in meinen Ohren.

„I’m sorry“, bringe ich hervor und erschrecke darüber, dass ich selbst bei diesen zwei Wörtern ins Stottern gerate. Nun kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schießen mir in die Augen, verschleiern meinen Blick und verschließen mir Hals und Nase.

 

Ich muss hier raus. Sofort. Am besten ganz weit weg.

 

Frau Kemper, die als zweite Lehrerin unsere Fahrt begleitet, kommt auf mich zu, nimmt mich sanft an der Schulter und führt mich nach draußen. Dort bugsiert sie mich zu einem Mauervorsprung, auf den ich mich fallen lasse.

„Jetzt atme ein paar Mal tief durch“, sagt Frau Kemper, nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit vor mich hin geschluchzt habe. Ich schließe die Augen, konzentriere mich darauf, Luft durch die Nase zu ziehen und durch den Mund wieder auszuatmen. Langsam versiegen meine Tränen.

Frau Kemper reicht mir ein Taschentuch und anschließend einen Müsliriegel. Ich nehme beides dankbar an, wobei ich meine Hand ähnlich fest um den Riegel schließe wie um das Taschentuch. Vermutlich ist gleich nur noch Matsch in der Verpackung.

„Geht’s wieder besser?“

Ich nicke.

„Was war denn los?“

Sie hat nicht gehört, was Kilian gesagt hat, sonst würde sie nicht fragen. Aber ich werde ihr nichts davon erzählen. Was soll sie auch tun? Selbst wenn sie Kilian zu einer Entschuldigung zwingen würde, es würde langfristig doch nichts ändern.

„Mir geht’s heute nicht so gut. Hab schlecht geschlafen, vermutlich bekomme ich meine Tage“, sage ich daher. Letzteres ist nicht einmal gelogen und Frau Kemper fragt nicht weiter. Meine Erklärung scheint ihr plausibel genug.

Meine Zimmergenossinnen fragen mich später, wie es mir geht und was los war. Ich tische ihnen die gleiche Erklärung auf wie Frau Kemper.

„Magst du gleich trotzdem mit in den Pub kommen? Dort ist Live-Musik und wir gehen alle hin“, sagt Imke.

„Ich glaube, ich würde gern früh schlafen“, antworte ich. Mir fehlt die Kraft, mich noch einmal meinem Kurs zu stellen.

„Das kann ich verstehen. Mach dir einen Tee“, schlägt Sabrina vor, und Amira schenkt mir augenzwinkernd eine Tafel Schokolade, die garantiert bei Periodenschmerz hilft.

Als die vier gegangen sind, trinke ich tatsächlich eine Tasse Tee und esse etwas von der Schokolade. Aber obwohl ich müde bin und ich mich fest in die Bettdecke kuschle, kann ich nicht einschlafen.

 

Ich weiß, dass einige meiner Klassenkameraden im Pub über mich reden, und dass es nichts Nettes ist.

 

Drei Tage später sind wir in London. Seit dem Vorfall in der Gloucester Cathedral hat Kilian nichts mehr gesagt, was aber vielleicht auch daran liegt, dass ich einen weiten Bogen um ihn mache. Trotzdem habe ich seit dem Abend das Gefühl, dass die anderen noch mehr zusammenhängen als vorher schon. Vielleicht hätte ich doch mit in den Pub gehen sollen. Hätte. Sollte. Es ist vorbei.

Wir haben den Vormittag zur freien Verfügung und ich schließe mich Julia und den anderen aus meinem Zimmer an, um zum berühmten Camden Market zu fahren. Die bunten, trubeligen Gassen gefallen mir, und ich finde in einem der Shops sogar ein hübsches Top, das ich mir kaufe. Sabrina bleibt vor einem Laden mit verschiedenen Trommeln stehen.

Sie schlägt ein paar Takte auf einem der Felle. „Glaubt ihr, eine Djembe passt noch mit in den Bus?“

„Möglich. Aber wehe, du trommelst den ganzen Weg nach Hamburg durch“, erwidert Imke lachend.

Zu unserm Glück übersteigt der Preis für die Djembe Sabrinas Budget und wir ziehen weiter in ein Café. Mein Herz, das für eine Weile beinahe leicht war, sinkt mir in die Knie, als ich sehe, wer sich ebenfalls an einem der Tische niedergelassen hat.

„Oh, schaut, da sind Melli, Lili und Oksana.“ Julia winkt den dreien und steuert zielstrebig auf ihren Tisch zu. Mir bleibt kaum etwas anderes übrig, als ihr und den anderen zu folgen und mich mit meiner heißen Schokolade und dem Cupcake zu ihnen zu setzen.

 

„Voll cool hier, oder? Habt ihr auch was gekauft?“,

 

fragt Melanie und präsentiert sogleich eine Auswahl an Klamotten. Julia zeigt ihren neuen Pullover, Imke ein paar Schuhe und Amira ein Seidentuch, das sie als neues Kopftuch tragen will.

„Wow, das ist mega“, ruft Oksana und streicht mit den Fingern über den glänzenden Stoff.

Ich ziehe an dem Top in meiner Tüte, würde es auch gern zeigen. Aber mir versagt die Stimme. So besonders ist das Top ja auch nicht. Ich löffle die Sahne von dem Kakao und nehme einen Bissen vom Cupcake. Er ist wahnsinnig süß, aber schmeckt fantastisch.

„Oh, wir müssen gleich los, um 15 Uhr ist Treffpunkt an Westminster Abbey“, sagt Sabrina irgendwann.

Amira geht noch zur Toilette und ich folge ihr. Leider sind alle Kabinen besetzt und ich muss einen Augenblick warten. Als ich meinen Tampon gewechselt, die Hände gewaschen habe und ins Café zurückkomme, fehlt von meinen Klassenkameradinnen jede Spur. Hastig sehe ich mich um, laufe nach draußen. Aber in der wuseligen Gasse kann ich keine von ihnen entdecken. Wo sind sie, verdammt noch mal? Ich schaue auf mein Handy. Keine Nachricht. Die Uhrzeit verrät mir jedoch, dass es nur noch eine dreiviertel Stunde ist, bis wir an Westminster Abbey sein müssen. Vielleicht sind die anderen schon zur Underground vorgelaufen. Ich schlängle mich zwischen den Besucherströmen hindurch zum Eingang zur Underground, wo wir vor ein paar Stunden angekommen sind. Auf dem Bahnsteig sind einige Leute, aber weder Julia, noch Melanie, noch sonst jemand aus der Gruppe.

 

Sie müssen ohne mich gefahren sein.

 

Ich schaue nochmal aufs Handy, um zu schauen, wie ich nach Westminster Abbey komme. Die Verbindung ist nicht schwer und wird mich wohl noch rechtzeitig zum vereinbarten Treffpunkt bringen. Wenigstens etwas. Gerade will ich das Smartphone wieder in die Jackentasche stecken, als eine Nachricht eingeht. Meldet sich Julia doch noch? Oder wenigstens Amira?

 

Hi Judith, sorry, dass ich mich jetzt erst melde. Hab mich Samstag total blöd verhalten. Wollte dich nicht einfach so abwimmeln. Ich fand unseren Spaziergang sehr schön. Hoffe, es geht dir gut. LG, Freddy

 

Schon wieder schießen mir Tränen in die Augen. Diesmal allerdings vor Erleichterung. In all diesem Mist, den ich den letzten Tagen erlebt habe, ist Freddys Nachricht ein Geschenk des Himmels. Etwas flattert in meiner Brust, dass ich beinahe glaube, gleich gen Decke des Underground-Tunnels zu schweben. Es stimmt nicht, dass er mich nicht sehen will. Ob er seit Samstag auch tausend Nachrichten an mich angefangen und wieder gelöscht hat?

Meine Bahn fährt ein und ich bekomme sogar einen Sitzplatz. Mit fliegenden Fingern schreibe ich meine Antwort.

 

Hi Freddy, du glaubst gar nicht, wie froh ich gerade bin, von dir zu hören. Bin gerade allein auf dem Weg von Camden nach Westminster – meine Leute sind einfach ohne mich gefahren. Ich fand es Samstag auch sehr schön mit dir. Hoffe, dir geht es besser. Liebe Grüße

 

Während ich im Tunnel bin, geht die Nachricht nicht raus, und als ich umsteigen muss, fehlt mir die Zeit, in die App zu schauen. Aber als ich endlich bei der berühmten Abtei ankomme, werfe ich einen Blick aufs Display und ich spüre ein Lächeln sich auf meinem Gesicht ausbreiten.

 

Oh no, das ist echt mies. Komm gut an. Run until you fly 😉

 

Mein Englischkurs ist bereits vollzählig vor Westminster Abbey versammelt, dabei ist es noch nicht ganz halb vier. Niemand von meinen Klassenkameraden nimmt von mir Notiz. Erst als Herr Willms mit strenger Miene die Arme über dem Kopf zusammenschlägt, werden sie aufmerksam.

„Judith, wo kommst du allein her? Du weißt, dass ihr mindestens zu dritt unterwegs sein sollt.“

Ich fange Amiras Blick, sie macht ein zerknirschtes Gesicht. Ob sie die anderen erst zurückgehalten hat? Dann wäre sie vermutlich die einzige, denn die meisten anderen aus meinem Kurs grinsen nur schadenfroh.

„Tut mir Leid. Ich habe getrödelt und es nicht mehr rechtzeitig in die Tube geschafft“, flunkere ich. Es hätte genauso wenig Sinn, meinem Lehrer die Wahrheit zu sagen, wie vor ein paar Tagen Frau Kemper. Ich halte mich an die Nachricht von Freddy. Run until you fly. Irgendwann muss es vorbei sein.   

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