Freddy
Fassungslos halte ich mein Handy in der Hand. Welcher Teufel hat mich geritten, Judith wieder zu schreiben? Es wäre besser gewesen, das, was vorgefallen ist, totzuschweigen. Nicht mehr zu reden. Zu schreiben.
Aber meine Finger haben wie von selbst unseren Chat geöffnet und jene Nachricht getippt. Angesichts ihrer Antwort schlägt mein Herz noch schneller als es sollte. Mein Verdacht, dass Judith etwas bedrückt, hat sich bestätigt. Dass ihre Klassenkameraden sie allein gelassen haben, geht echt gar nicht. Ob das schon öfter vorgekommen ist? Hatte sie deshalb keine Lust mitzufahren? Ich warte auf eine weitere Nachricht von ihr, aber unser Chat bleibt stumm.
Stattdessen erscheint eine Nachricht von Ben in unserem Band-Chat.
Richtig guter Song. Müssen wir unbedingt zusammen arrangieren, wenn ihr alle wieder da seid.
Johnny kommentiert Bens Nachricht mit einem Daumen hoch und schreibt mir kurz darauf privat.
Hätte nicht gedacht, dass du mich beim Wort nimmst. Aber nice!
Hätte ich auch nicht, aber ich habe schon vor langem aufgehört, die kreativen Abwege meines Hirns in Frage zu stellen. Ich ziehe die Gitarre wieder auf meinen Schoß und spiele noch einmal die Akkorde vor mich hin, gleite von a-Moll zu G-Dur und zurück, dann in einen Septakkord. Gedankenverloren probiere ich ein wenig herum und breche die Akkorde auf und finde mich schließlich in einer eingängigen Schleife wieder.
Ich starte die Aufnahmefunktion am Handy und spiele den Song noch einmal ein. Früher fand ich es merkwürdig, mich selbst singen zu hören. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, bin aber meistens kritischer mit mir selbst als andere. Auch diesmal fallen mir gleich zwei, drei Stellen auf, an denen ich die Töne nicht ganz sauber getroffen habe. Aber für ein erstes Demo ist die Aufnahme zu gebrauchen.
Ich schicke auch diese Version an die Band und aus einer spontanen Laune auch an Judith. Vielleicht muntert es sie auf. Hoffentlich kann sie sich heute Abend mehr auf die Gesellschaft ihrer Klassenkameraden verlassen.
Tief durchatmend lege ich die Gitarre zurück. Ich denke schon wieder zu viel über Judith nach. Habe ich nicht schon genug Sorgen? Muss ich mich auch noch mit Judiths Problemen befassen? Aber zu wissen, dass ihre Leute sie im Stich gelassen haben, macht mich wütend. Sie ist so liebevoll und offenherzig.
Wer könnte sie im Stich lassen wollen?
Die Erkenntnis durchfährt mich eiskalt und sticht mir unbarmherzig in die Brust. Ich habe sie auch hängen lassen wollen. Und ein nicht unwesentlicher Teil von mir verurteilt den mickrigen Rest, dass ich es nicht getan, sondern mich wider besseren Wissens wieder bei ihr gemeldet habe. Trotzdem, es ist nicht fair, dass sie in London ohne Judith losgefahren sind. Wenn ihr was passiert wäre …
Mach dich nicht lächerlich. Judith ist kein Kind mehr und kennt sich in Großstädten aus. Sie kommt klar.
Mein Hirn entwirft ein Szenario nach dem nächsten, als würde es um Finn gehen. Wenn ich mir um meinen Bruder diese Sorgen machen würde, wäre es ja noch zu verstehen. Aber Judith?
Der Eingang weiterer Nachrichten reißt mich aus meinen absurden Gedanken. Joshie und Kris, die gerade selbst auf LK-Fahrt in Prag sind, teilen Bens und Johnnys Begeisterung für meine Songidee. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, explodiert unser Chat.
Kris: Ohhhh, so schön. Ich lieb’s jetzt schon.
Joshie: True. Schaut euch das an.
Wenige Sekunden später folgt ein Bild. Offenbar sind die beiden mit ihrem Kurs in einer Bar, wo Livemusik gespielt wird. Kris sitzt mit Silberblick und Kopfhörern da und schaut auf den Keyboarder der Liveband.
Johnny: Wen oder was meinst du Kris? Freddys Song oder den Typen?
Ben schickt ein tränenlachendes Emoji. Johnny kann seine Frage nicht ernst gemeint haben. Der Mann am Keyboard ist locker Anfang sechzig und hat ein rotes Stirnband mit weißen Punkten um seine schulterlangen weißen Haare gebunden, was ihn wie einen aus der Zeit gefallenen Hippie aussehen lässt.
Joshie: Auf jeden Fall nicht den Song, den die hier spielen. Kris jammert schon die ganze Zeit rum, wie furchtbar die Band ist.
Kris: Ist sie auch. Die spielen schon seit einer Stunde und haben noch nicht gemerkt, dass die Gitarre fast einen Halbton tiefer ist als das Keyboard.
Ich bekunde Kris meine Anteilnahme in Form eines weinenden Emojis. Kristina hat das Glück – oder in diesem Fall Pech – über ein absolutes Gehör zu verfügen. In unseren Bandproben ist sie unsere verlässlichste Quelle, wenn es um Intonation geht. Meistens reicht ein Blick Richtung Klavier und wir wissen Bescheid.
Kristina schickt einen kurzen Videoclip, um uns an ihrem Martyrium teilhaben zu lassen, und kurz darauf schreiben auch Johnny und Ben Mitleidsbekundungen. Die Missstimmung zwischen Gitarre und Keyboard ist selbst ohne absolutes Gehör zu erkennen.
Ben: Autsch! Na los, stürmt die Bühne und spielt Escape-Songs.
Kris: Joshie ist schon dabei.
Es folgt ein weiteres kurzes Video. Diesmal von Joshie, die mit einem Paar Teelöffel zwischen ihrer geöffneten Handfläche und der Tischkante einen Rhythmus schlägt.
Lachend lehne ich mich zurück und schaue mir Joshies Percussion ein paar Mal an. Für Chats wie diese liebe ich meine Freunde. Wir finden die Musik überall und teilen sie miteinander, auch wenn sie noch so schräg ist. Ich kann es kaum erwarten, sie endlich wiederzusehen und mit ihnen zu proben. Zwar hat auch die Session mit Peter, Debbie und Sascha gestern Spaß gemacht, und gewissermaßen habe ich ihnen meinen neuen Song zu verdanken, aber es war nicht das gleiche wie mit der Band. Ben, Johnny, Kris, Joshie und ich verstehen uns auf einer musikalischen Metaebene. Es reichen Nuancen von Tönen, Feinheiten im Anschlag von Akkorden und wir wissen, wie jemand von uns drauf ist. Vielleicht müssen wir deshalb nicht so viel reden. Wir legen alles in die Musik.
Ob wir damit bei dem Band-Wettbewerb überzeugen können?
Ich schließe die Augen und versuche mir vorzustellen, wie es wäre auf einer Festivalbühne zu stehen. Dabei war ich bislang nicht einmal als Besucher auf einem Festival. Das größte Konzert, das wir mit Escape gespielt haben, war letzten Sommer auf einer Bühne während des Straßenfests in Elmsbüttel. Die Leute haben geklatscht und uns nach unserem Auftritt sogar angesprochen. Aber es war wohl niemand extra für die Musik gekommen, sondern eher für Fischbrötchen, Pommes und die bunten Verkaufsstände und Hüpfburgen.
Mein Smartphone vibriert. Etwa ein weiteres Video aus Prag?
Etwas verschlafen öffne ich die neue Nachricht.
Mein Herz schlägt einen Purzelbaum. Judith hat geantwortet.
Vielen Dank für den Song. Der ist wunderschön. Erinnert mich an unseren Spaziergang. Ist es okay, wenn ich ihn zum Einschlafen höre?
Ein Schauer rieselt mir über die Haut, während es gleichzeitig in meiner Herzgegend ziept. Kann es wirklich sein, dass Judith seit unserem verkorksten Spaziergang das gleiche gefühlt hat wie ich?
Mit einem Mal scheint mir mein Herz aus dem Mund zu springen und Schweiß steht mir auf der Stirn. Hastig lege ich das Handy auf den Nachttisch und presse meine Zeigefinger auf die Schläfen.
Bloß keine Panik, beschwöre ich mich. Allerdings mit wenig Erfolg. Wie soll ich bitte nach dieser Nachricht schlafen?
„Freddy?“
Ich zucke zusammen, als Debbie mich unsanft anstößt und mit einer tiefen Falte auf der Stirn ansieht. Ist sie sauer? Wieso?
„Was denn?“
„Hast du einen Euro für den Einkaufswagen?“
„Oh, Moment.“ Ich ziehe meinen Geldbeutel aus der Hosentasche und fingere nach einer Münze, was Debbie nicht schnell genug geht.
„Kannst du das Handy nicht mal wegpacken? Dann geht’s leichter.“
Zum Glück finde ich endlich das passende Geldstück und drücke es meiner Mitbewohnerin in die Hand. Ich warte auf sie, während sie einen Wagen holt, und drücke zum dritten Mal die Wahlwiederholung.
Das Freizeichen ertönt. Einmal, zweimal, dreimal …
Just in dem Augenblick, als Debbie neben mir mit dem Einkaufswagen auftaucht, wird das Gespräch entgegengenommen.
„Hi Freddy.“
„Finn, endlich“, rufe ich erleichtert und vielleicht etwas zu laut, denn ein älteres Paar, das an Debbie und mir vorbei auf den Eingang des Supermarkts zuläuft, sieht sich irritiert zu uns um. Egal, ich bin froh, meinen Bruder endlich zu erreichen. „Wieso gehst du denn nicht dran?“
„Mach ich doch gerade“, gibt Finn zurück. „Außerdem hatte ich bis eben Training.“
Erst jetzt fällt mir auf, dass er ein wenig außer Atem klingt, und dass Freitag ist. Seit zwei Jahren geht mein Bruder freitags schon zum Basketballtraining. Das sollte ich eigentlich wissen. Aber hier in Bayern ist es mir entfallen.
„Sorry. Ich hab mir nur Sorgen gemacht. Gestern hast du dich auch nicht gemeldet.“
„Freddy, kommst du?“ Debbie sieht mich abwartend an und ich bedeute ihr, schon einmal vorzugehen. Augenrollend schüttelt sie den Kopf und betritt den Supermarkt.
„Hab mit Anton gelernt. Wir haben heute Mathe geschrieben“, erzählt Finn.
„Und, wie lief’s?“
„Ganz gut.“
„Und wie ist es sonst zuhause?“
Finn bleibt still, was mein Herz unwillkürlich schneller schlagen lässt. Wie ich es hasse, dass ich ihn jetzt nicht sehen kann. An seinem Blick könnte ich erkennen, wie ich sein Schweigen deuten muss. So macht sie mich nervös.
„Wie immer“, sagt Finn.
Soll mich das etwa beruhigen? Wie immer war in letzter Zeit eher scheiße.
„Es geht ganz gut. Die Medikamente helfen. Mama ist nur ziemlich müde.“
„Okay.“ So richtig überzeugt mich die einsilbige Antwort meines Bruder noch nicht. Mama hat mir zwar gestern das gleiche erzählt, aber sie hat auch behauptet, dass es ihr gut geht, als sie im Krankenhaus lag. Nur um mich zu beruhigen. Sie weiß, dass ich sofort kommen würde, wenn es nicht gut wäre.
„Ich schaff das schon, Freddy“, versichert Finn mir. „Muss jetzt Schluss machen. Ciao.“
„Ciao“, antworte ich, aber Finn hört wohl nur die Hälfte, da hat er schon aufgelegt. Nachdenklich und mit einem nagenden Gefühl der Enge sehe ich auf das Display. Ich will Mama und Finn so gern glauben, ich wünsche mir, dass alles in Ordnung ist. Aber was, wenn sie sich verschworen haben, und mir nichts sagen, nur damit ich weiter zur Schule gehe? Warum nur werde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas im Busch ist?
Kurz überlege ich, noch einmal meine Mutter anzurufen. Aber dann stecke ich das Handy doch wieder in die Hosentasche. Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein.
In der Tür zum Supermarkt stoße ich mit Debbie zusammen, die einen vollen Einkaufswagen schiebt.
„Oh, du bist schon wieder da.“
„Und du stehst immer noch hier rum“, entgegnet sie ärgerlich und beginnt, die Einkäufe in ihren Rucksack zu packen. Schließlich drückt sie ihn mir in die Hand. „Hier, den kannst du tragen. Dann bist du wenigstens nicht ganz umsonst mitgekommen.“
Bereitwillig nehme ich den Rucksack auf meine Schultern. Debbie hat ja recht. Dafür, dass ich versprochen habe, ihr beim Einkaufen zu helfen, hab ich bislang noch nichts dazu beigetragen. Von dem Euro für den Einkaufswagen mal abgesehen.
„Tut mir leid“, sage ich, als wir uns auf den Weg zurück zur WG machen. „Es war wichtig.“
Seit ich den Rucksack trage, ist Debbie nicht mehr so eingeschnappt. „Schon okay“, erwidert sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Hast du alles klären können?“
Nein. Nichts ist geklärt.
„Ja“, sage ich, weil es einfacher ist.
Und vermutlich, weil Debbie mich nicht gut kennt, nimmt sie meine Antwort hin. Mein schlechtes Gewissen ihr gegenüber hält sich in Grenzen. In zwei Wochen werden sich unsere Wege erst einmal trennen und ich muss mich nicht länger anstrengen, mein Leben vor ihr und den anderen WG-Bewohnern geheim zu halten. Ganz im Gegensatz zu einer gewissen anderen Person, der ich bald räumlich wieder gefährlich nahe sein werde.
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