Kapitel 17 - Aus dem Takt

Freddy

Obwohl ich seit meinem Abschluss nicht mehr hier gewesen bin, ist mir der Weg über den Schulhof noch vertraut.

Finn hockt vor dem Direktorat auf einem Stuhl, anderthalb Meter weiter sitzt ein weiterer Junge. Finn starrt auf den Boden, der andere Schüler wirft meinem Bruder hingegen feindliche Blicke zu. Nur dem mir unbekannten Lehrer, der den beiden gegenübersteht, ist es wohl zu verdanken, dass er nicht auf Finn losgeht.

 

„Guten Tag.“

Finn sieht auf. Erst jetzt fällt mir das Kühlpac auf, das er sich gegen Kinn und Unterlippe hält.

 

Eine Prügelei, na prima.

 

Der Lehrer macht einen Schritt auf mich zu und streckt mir die Hand entgegen. „Herr Hermann?“

Er mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn, sodass es mir nicht schwerfällt, seine Gedanken zu erraten, und wenn es in dieser Situation nicht absolut unpassend wäre, würde ich darüber lachen.

Als ob ich alt genug wäre, um Finns Vater zu sein!

Ehe ich unser Familienverhältnis aufklären kann, kommt eine Frau den Flur entlanggeeilt und stürzt auf den anderen Junge zu.

„Eike!“ Mit dramatischer Geste geht sie vor ihm in die Knie und begutachtet ihn besorgt. Augenblicklich ändert sich Eikes Miene. Der feindselige Ausdruck verschwindet, stattdessen zieht er einen Schmollmund und schnieft kurz.

„Hallo, Mama“, sagt er weinerlich.

Finn rollt mit den Augen gen Decke und lässt das Kühlpac sinken, sodass die aufgeplatzte Lippe und eine Rötung am Kinn offenbar werden. Was haben Eike und er nur für eine Auseinandersetzung gehabt?

In diesem Moment wird die Tür zum Direktorzimmer geöffnet und der Direktor bittet uns einzutreten. Ich kenne Herrn Schmidt noch von früher als strengen, aber fairen Lehrer. Was auch immer zwischen meinem Bruder und diesem Eike vorgefallen ist, ich hoffe sehr, dass der Direktor auch jetzt fair bleibt. Natürlich bin ich nicht objektiv, aber ich bin mir sicher, dass Finn nicht allein schuldig ist.

Wir nehmen gegenüber des großen Schreibtischs Platz, wobei mir der missbilligende Blick von Eikes Mutter nicht entgeht. Sie ist sicher davon überzeugt, dass Eike hier das Opfer ist. Herr Schmidt sieht Finn und Eike durchdringend an.

„So, Jungs, was ist los? Wieso habt ihr euch geprügelt?“

Finn hält den Kopf wieder gesenkt und schweigt.

„Dieser Idiot hat mich angegriffen“, ruft Eike. Keine Spur mehr von dem Weinerlichen Tonfall. Die Feindseligkeit ist zurück.

„Nicht solche Ausdrücke, Eike“, rügt Direktor Schmidt und wendet sich dann Finn zu. „Ist das wahr, Finn?“

 

Mein Bruder schweigt weiterhin, sieht nicht einmal auf.

 

Ist das ein Geständnis? Er hat gesagt, er habe Mist gebaut. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Finn ohne Grund auf einen Mitschüler losgeht.

„Finn“, bitte ich ihn leise, in der Hoffnung, dass er es leugnen wird. Aber er zuckt nur mit den Schultern und nickt schließlich. Ich seufze, was allerdings in einem theatralischen Ausruf von Eikes Mutter untergeht.

„Na bitte. Immerhin ist er geständig. Was gedenken Sie jetzt mit dem Jungen zu tun?“

Ich presse die Kiefer zusammen und atme tief ein. Was fällt dieser Frau ein, Finn wie einen Schwerverbrecher darzustellen?

„Nicht so schnell, Frau van der Beek“, sagt Herr Schmidt ruhig, aber bestimmt. „Finn, wieso bist du auf Eike losgegangen?“

Wieder breitet sich Schweigen aus. Eine trügerische Ruhe, in der Eikes Mutter ungeduldig mit dem Bein auf und ab wippt und übertriebene Blicke auf ihre Armbanduhr wirft, die ich sogar aus dem Augenwinkel sehe, während ich Finn beobachte. Warum sagt er nichts? Warum sieht er nicht einmal mich an?

„Bei allem pädagogischen Verständnis, Herr Schmidt, aber ich denke nicht, dass dieses Gespräch hier zielführend ist“, sagt Frau van der Beek, wobei sie das Wort Gespräch spöttisch betont. „In dieser Familie scheint ja einiges falsch zu laufen, wenn nicht einmal die Mutter zum Gespräch erscheint.“

Heiß lodert die Wut in mir auf und nur weil ich meine Fingernägel ruckartig in die Handflächen bohre, kann ich mich davon abhalten, vom Stuhl aufzuspringen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, zähle ich stumm.

„Unsere Mutter hat einen wichtigen Termin“, sage ich leise.

„Ja glauben Sie, ich hätte nichts Besseres zu tun?“

Frau van der Beek sieht mich an, als wäre es unter ihrer Würde mit mir zu sprechen, und mit einem Mal kann ich Finn verstehen. Wenn Eike auch nur im Ansatz so ist wie seine Mutter, wird er Finn provoziert haben.

 

Ich halte mich an der Wut fest,

 

umklammere sie wie ein Seil, damit mich die Angst nicht übermannt, die mich zusammen mit der Wut überfallen hat. Wenn Eikes Mutter sich nicht mit dem Gespräch hier beim Direktor begnügt, sondern Finn anzeigt, wegen was auch immer, wenn sie die Polizei oder das Jugendamt informiert …

„Er hat sich über Nahid lustig gemacht“, sagt Finn.

Wer ist Nahid? Ein Mitschüler? Ich kann mich nicht erinnern, dass Finn den Namen schon einmal erwähnt hätte.

„Die neue Mitschülerin?“, fragt Herr Schmidt.

Finn nickt. „Eike hat über ihre Klamotten gelästert.“

„Das ist doch kein Grund, auf jemanden loszugehen, Finn. Warum hast du nicht das Gespräch gesucht?“

„Hab ich ja. Ich hab ihm gesagt, er soll das lassen.“

„Hab ich doch“, ereifert Eike sich, und ich muss mir auf die Lippen beißen, um ein Grinsen zu verbergen, das sich bei seine Geständnis auf meinem Gesicht bilden will.

„Ja, und als du dich umgedreht hast, hast du Altkleidersammlung gesagt.“

Verdammt. Bislang habe ich geglaubt, dass Finn sich nicht viel aus Mode macht, dass es ihm egal ist, wie mir. Naive Hoffnung. Wenn er von Typen wie Eike umgeben ist, kann es ihn nicht unberührt lassen, dass es bei uns nur für Second-hand-Klamotten reicht. Der Kommentar über Nahids Klamotten muss Finn persönlich getroffen haben. Sonst wäre er nicht ausgetickt.

„Ist das wahr?“, fragt Herr Schmidt, diesmal an Eike gerichtet.

Dieser wirkt plötzlich recht kleinlaut und zuckt nur die Schultern. Seine Mutter verzieht keine Miene.

„Ich dulde an dieser Schule weder Gewalt noch Mobbing in irgendeiner Form. Eike, du wirst dich bei Nahid entschuldigen. Und Finn, du entschuldigst dich bei Eike. In den nächsten drei Wochen werdet ihr beide außerdem den Hofdienst übernehmen und lernen, friedlich zusammenzuarbeiten.“

Eike und seine Mutter heben die Köpfe, die Münder zu empörtem Protest geöffnet.

„Ich denke, ich habe mich klar ausgedrückt“, sagt Herr Schmidt mit einem weiteren strengen Blick in unsere Runde.

Finn nickt und streckt Eike die Hand entgegen. „Entschuldigung, ich hätte dich nicht schlagen dürfen. Es tut mir leid.“

Frau van der Beek hebt skeptisch eine Augenbraue, sie kennt Finn nicht und glaubt ihm offenbar kein Wort. Aber er meint es aufrichtig, sagt es nicht nur so dahin, um der Situation zu entkommen. Eike zögert kurz, nimmt dann aber Finns Hand und schüttelt sie.

„Mir auch“, murmelt er.

„Schön, dann wäre das ja geklärt“, sagt Frau van der Beek kühl, schultert ihre Handtasche und erhebt sich von ihrem Platz. „Sie entschuldigen uns.“

Herr Schmidt nickt, kann aber eine Spur von Unmut nicht ganz verbergen. Sein Mund ist ein dünner Strich. Als er meinen Blick bemerkt, fängt er sich wieder und verabschiedet sich lächelnd von Finn und mir, nicht, ohne meinen Bruder noch einmal zu ermahnen.

„Tut mir leid.“ Finn hält den Blick gesenkt, als wir nach draußen auf den Schulhof treten.

 

„Schon okay, ich wär‘ vermutlich auch ausgerastet“, gestehe ich ihm.

 

Er sieht mich an, etwas verunsichert, als könne er mir nicht glauben, aber als ich ihm kumpelhaft auf die Schulter klopfe, grinst er.

„Jetzt müssen wir nur noch Mama deine dicke Lippe erklären.“

„Wir haben gerade Boxen im Sportunterricht“, erklärt Finn unbekümmert.

Ich nicke nachdenklich, Finns Ausrede klingt glaubwürdig. Wenn Eikes Mutter die Füße still hält und Eike und Finn nicht wieder aneinandergeraten, ist die Prügelei in zwei Wochen hoffentlich vergessen.

„Bringst du Brötchen vom Bäcker mit?“, fragt Finn, ehe er sich umdreht, und zur Bushaltestelle hastet.

Mir gefriert das Blut in den Adern und wie festgenagelt bleibe ich auf dem Gehweg stehen, während der Regen auf mich niederstürzt. Dass ich eigentlich zum Bäcker wollte, habe ich total vergessen. Genauso wie das ProTone. Shit. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche, um Sven anzurufen, sehe aber sofort, dass es dafür zu spät ist. Meine Mittagspause ist dreimal vorbei und die Anrufliste zeigt zwei verpasste Anrufe.

 

Mechanisch bewege ich das Plek über die Saiten.

 

Ab ab auf. Ab ab auf. Ab ab ab ab ab. Ben lässt seine Hände vom Hals seiner Gitarre gleiten und schüttelt den Kopf.

„Aus. Freddy, was machst du da für’n Scheiß? Wir sind noch nicht bei der Bridge.“

„Tschuldigung.“ Ich habe tatsächlich nicht darauf geachtet, bei welcher Strophe wir sind. Es kommt mir vor, als würden wir schon ewig dieses Lied spielen.

„Noch mal“, bestimmt Ben, gefolgt von einem Seufzen.

Joshie gibt mit den Sticks den Takt vor und wir beginnen von vorn. Intro. Ab auf ab ab. Sven war ganz schön sauer, als ich gestern endlich wieder am Laden ankam. Ich könnte doch nicht einfach so lange wegbleiben. Zum Glück hat er meine Entschuldigung akzeptiert, und ich habe sofort versprochen, die versäumte Zeit nachzuarbeiten. Ab ab auf. Ab ab auf. Mama war schon im Bett, als ich von der Arbeit nach Hause kam und schlief noch immer, als ich die Wohnung nach dem Frühstück heute wieder verlassen habe. Die Frühschicht und der Arztbesuch müssen sie sehr angestrengt haben. Ab ab auf. Ab ab auf.

„Verdammt noch mal!“ Ben schlägt mit der flachen Hand auf den Korpus seiner Westerngitarre, dass es dröhnt. „Freddy, jetzt waren wir bei der Bridge, da wird’s schneller.“

Wie konnte ich das verpassen? Ich hebe den Blick und sehe in Bens verärgertes Gesicht. Selbst Johnny und Joshie sehen einigermaßen genervt aus und Kris sitzt mit hängenden Schultern am Klavier.

„Sorry, ich …“

„Ja, sorry, sorry. Wie wäre es mit ein bisschen Konzentration? Wenn du morgen beim Livestream genauso scheiße spielst, können wir es gleich lassen.“

Johnny schiebt sein Basecap am Schirm hin und her und sieht erschrockener aus als ich mich fühle. „Mach mal halblang, Ben, kann doch passieren.“

Kurz werfe ich meinem Freund einen dankbaren Blick zu, schüttle aber gleich darauf den Kopf. „Schon okay, Ben hat ja recht. Ich hab scheiße gespielt.“

Joshie lässt ihre Sticks in den Fingern kreisen und zeigt mit dem rechten schließlich auf mich. „You did.“

Obwohl die Situation nicht komisch ist und Ben immer noch maximal genervt aussieht, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Joshie lässt sich von niemandem so schnell aus der Ruhe bringen und findet immer noch einen Spruch, der alles wieder etwas auflockert. Ich stelle mich noch näher neben das Schlagzeug, dann spüre ich den Beat hoffentlich noch mehr. Die Gedanken an Zuhause und die Ausbildung muss ich jetzt einfach ausblenden.

 

Ich schließe die Augen, stelle mir eine Kiste vor, in die ich die Gedanken nacheinander hineinwerfe;

 

ob Eikes Mutter noch Ärger macht, wie es Mama geht, wie ich Sven zeigen kann, dass mir meine Ausbildung keinesfalls egal ist. Mit einem imaginären Klebeband schließe ich die Kiste und stelle sie auf das hinterste Regal auf einem imaginären verstaubten Dachboden.

Ich öffne die Augen wieder, schaue auf das Plek zwischen meinen Fingern und die silbrigen Stahlsaiten. Alles, was mir Kraft gibt, werde ich hier finden.

„Können wir noch mal?“, bitte ich die anderen.

„Klar“, sagt Johnny direkt, Kris nickt und auch Joshie ist sofort wieder in Startposition. Nur Ben murmelt noch ein „Verkack’s nicht wieder.“

Eins, zwei. Eins, zwei, drei vier. Joshie gibt den Takt vor und wir steigen ein. Das Plek gleitet über die Saiten, ab auf ab ab, und die Akkorde schießen von den Fingerspitzen direkt in meinen Körper, bis nicht mehr Blut, sondern Musik durch meine Adern fließt.

Ich verkack es nicht. Der Song läuft gut, genauso wie der nächste und übernächste. Johnny grinst mir zu und sogar Ben sieht wieder versöhnt aus, als wir am Ende der Probe noch Run spielen.

 

„Run until you fly, run until you fly”,

 

singen wir gemeinsam, und in diesem Moment fühle ich es ganz deutlich. Ich muss nicht mehr rennen, ich fliege bereits.

 

vorheriges Kapitel                                                                                 nächstes Kapitel

Kommentar schreiben

Kommentare: 0