Judith
„Ich hab Lust auf Kuchen“, sagt meine Schwester während wir nach dem Gottesdienst zurück nach Hause laufen.
„Wir können nachher Waffeln machen“, schlägt Mama vor, woraufhin Elias in Jubel ausbricht. Ruth sieht unsere Mutter jedoch mitleidig an und schüttelt vehement den Kopf.
„Mama, ich sagte Kuchen. Waffeln sind kein Kuchen.“
Für einen Augenblick scheint Mama zu überlegen, ob sie auf Ruths spitzen Kommentar eingehen soll, entscheidet sich aber letztlich dagegen und zuckt nur mit den Schultern.
„Dann wirst du wohl Kuchen backen müssen.“
Ruth reibt sich die Hände und ihre Augen leuchten vor Vorfreude.
„Was dagegen, wenn ich mitmache?“, frage ich sie. Abgesehen davon, dass ich jede Gelegenheit, in der ich nicht ins Grübeln geraten kann, dankend annehme, habe ich richtig Lust, mal wieder etwas gemeinsam mit meiner Schwester zu unternehmen.
„Nö, du darfst meine Assistentin sein“, sagt sie lachend.
Ich gebe ein frustriertes Schnauben von mir, das ich aber nicht richtig ernst meine. War ja klar, dass Ruth mich zur Handlangerin abkommandiert. Aber mir soll es recht sein. Die bessere Aufgabenteilung ist es definitiv. Ruth muss sich nicht abmühen, die Rezepte auf dem Handy zu vergrößern, und ich kann nicht versehentlich Eigelb ins sorgfältig getrennte Eiweiß mischen.
Eine halbe Stunde später stehe zumindest ich ratlos vor unserem Vorratsschrank und habe keine Ahnung, wie Ruth aus den vorhandenen Zutaten einen Kuchen backen will.
„Das wird ein ziemlich kleiner Kuchen“, sage ich und halte die halbe Tüte Mehl hoch. Offenbar hat jemand vor dem letzten Einkauf nicht an spontane Backaktionen gedacht.
Ruth verzieht das Gesicht, schiebt mich zur Seite, um selbst den Vorratsschrank zu durchforsten, und murmelt irgendetwas Unverständliches. Nach einem Blick in den Kühlschrank hellt sich ihre Miene wieder auf.
„Ha!“, ruft sie, einen angebrochenen Beutel Möhren in der Hand haltend. „Möhrenkuchen.“
Sie drückt mir das Gemüse, Reibe und Schüssel in die Hand und ich will schon loslegen, da hält meine Schwester mich zurück.
„Halt, wie viel brauche ich von den anderen Zutaten?“, fragt sie und reicht mir ihr Handy, auf dem sie bei Instagram ein Rezept geöffnet hat. Ich überfliege die Zutatenliste und schreibe sie in extra großen Buchstaben auf einen Block, damit Ruth sie mit ihrer geringen Sehkraft lesen kann.
„Anleitung auch?“
Ruth beugt sich über den Block und schüttelt dann den Kopf. „Nee, geht so, danke.“
Sie macht sich fachmännisch ans Werk und ich beginne, die Möhren zu raspeln, was so laut ist, dass ich nicht mitbekomme, worum es in den Chatnachrichten geht, die Ruth sich in doppelter Geschwindigkeit vorlesen lässt. Es geht mich ja auch nichts an.
Ich habe mein Handy seit Freitagabend nicht mehr beachtet.
Zu groß ist meine Angst, dass ich durch einen blöden Zufall doch das neue Video mit mir sehen könnte. Ich sollte nicht daran denken. Unwillkürlich drücke ich die Möhre fester auf das Metall.
„Autsch.“ Der Schmerz schießt von meinem Finger direkt ins Hirn und erstaunlich schnell pulsiert Blut hervor. Hastig halte ich die Hand über die Spüle.
Ruth verzieht das Gesicht. „Bis eben war der Kuchen vegetarisch.“
„Sehr lustig“, erwidere ich, wickle mir ein Stück Küchenpapier um den Finger und gehe ins Bad, um ein Pflaster zu besorgen. Als ich mich verarztet habe und zurück in die Küche komme, hat Ruth die geraspelten Möhren mit den übrigen Zutaten vermischt und füllt den Teig pfeifend in eine Backform.
„Große Vorfreude auf den Kuchen?“, frage ich sie.
„Auch“, sagt Ruth und schließt die Ofentür. Ein breites Lachen liegt auf ihrem Gesicht, zieht sich von einem Ohr zum anderen, und verrät mir, dass dem Kuchen nicht die Hauptfreude gilt.
„Was denn noch?“
Ruth wickelt sich eine ihrer weißen Haarsträhnen um den Zeigefinger und spitzt die Lippen. Aber sie hält dieses Zieren nicht lange durch.
„Ich bin nachher zum Filmabend bei Simon eingeladen“, platzt es nach nur wenigen Sekunden aus ihr heraus. Gleich darauf springt sie mit einem verzückten Quietschen in die Höhe, wobei sie nur knapp den Griff der Ofenklappe verfehlt.
Jetzt kann ich mir ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen und vermutlich entfährt mir auch ein begeisterter Quietschlaut, als ich meiner Schwester um den Hals falle. Die Schwärmerei für ihren Klassenkameraden war in den letzten Wochen nicht zu übersehen. Ich freue mich für Ruth, dass Simon sie einlädt. Wenn er nur halb so toll ist, wie Ruth behauptet, muss ich mir keine Sorgen machen.
Ein stechender Schmerz fährt mir in die Brust
und ich wende mich ab, damit meine Schwester nichts bemerkt. Wie oft haben wir uns Gedanken gemacht, dass Ruth wegen ihres Albinismus gemobbt werden könnte. Aber sie hat nie Probleme mit Klassenkameraden gehabt. Dafür hat es mich getroffen. Wie viele aus meiner Stufe das neue Video wohl schon gesehen haben? Ob es schon in anderen Jahrgängen umgeht? Panik überfällt mich und ich muss mich an der Anrichte festhalten, um nicht umzufallen. Ruhig. Tief durchatmen. Ruth hätte etwas gesagt, wenn das Video ihre Stufe erreicht hätte. Hoffentlich bleibt es so. Ich will nicht, dass irgendjemand aus meiner Familie davon erfährt. Ich muss nur noch sechs Monate durchhalten, dann muss ich niemanden aus meiner Stufe mehr wiedersehen.
„Was machst du heute Abend?“
Ruths Frage holt mich zurück in die Realität unserer Küche, in der sich inzwischen wunderbarer Kuchenduft ausbreitet. Ich schlucke noch einmal und bemühe mich um eine betont lockere Haltung.
„Nichts Besonderes“, sage ich schulterzuckend.
„Schade, den Abschluss vom Wochenende sollte man mit etwas Schönem verbringen.“
Wie von der Tarantel gebissen mache ich einen Satz. „Heute ist Sonntag!“
Ruth sieht mich irritiert an. „Äh, jaaa?“
Dann ist heute Abend der Livestream von Escape! Wie hatte ich das vergessen können? Freddy hat mir bestimmt geschrieben und einen Link geschickt, und ich habe es nicht gesehen. Ich sprinte die Treppe nach oben in mein Zimmer und angle in der Schultasche nach meinem Handy. Ein schwarzes Display starrt mich an. Mist, das hätte ich mir ja denken können. Wo ist nur das Ladegerät?
Als das Handy endlich am Strom hängt, warte ich mit wild pochendem Herzen darauf, dass es wieder hochfährt. Bing bing bing. Sechs neue Nachrichten.
Hi Judith, unser Stream startet morgen um 19 Uhr. Freu mich, wenn du zuhörst. Liebe Grüße
Unter Freddys Nachricht ist der Link zum Twitch-Kanal von Escape. Ich will schon darauf klicken, als mir auffällt, dass das gar nicht seine letzte Nachricht war.
Wenn du Lust hast, kannst du auch im Fleet21 vorbeikommen. Wir streamen aus dem Proberaum.
Die Nachricht ist von gestern Abend. Vor zwei Stunden kam eine weitere.
War nur eine Idee. Kannst auch von zuhause zuschauen.
Kein Emoji, wie sonst. Bestimmt ist Freddy enttäuscht, dass ich nicht geantwortet habe. Dabei ist der Vorschlag großartig. Dass er mich einlädt, live im Proberaum dabei zu sein, lässt mich beinahe gen Zimmerdecke schweben. Run until you fly singt mein Hirn, während ich mit fliegenden Fingern meine Antwort tippe.
Bin dabei!
Beim Kaffeetrinken eine Stunde später lächle ich mit Ruth um die Wette. Nur wir wissen, dass unsere gute Laune nicht ausschließlich mit Ruths fantastischem Kuchen zu tun hat.
Beinahe komme ich mir vor wie ein Eindringling, als ich um kurz nach halb sieben vor dem Jugendzentrum stehe und Freddys Nummer anklingle. Das Fleet21 hat sonntags geschlossen, aber von Samuel weiß ich, dass Alex, der Leiter des Jugendzentrums, Johnnys Onkel ist. Vermutlich hat er Escape ein paar Sonderrechte eingeräumt, was die Raumnutzung betrifft. Die Tür wird geöffnet und Freddy empfängt mich mit strahlendem Lächeln.
„Hi, cool, dass du da bist.“
„Hi.“ Ich umarme ihn, nicht zu fest, aber innig, und er erwidert die Umarmung herzlich. Der Geruch, der an seinem Pullover haftet, steigt mir in die Nase. Popcorn?
„Warst du im Kino?“, frage ich, während wir den Flur entlang auf die Kellertreppe zulaufen.
Freddy lacht auf. „Nein. Joshie wird heute achtzehn und hat eine Minipopcornmaschine bekommen. Unser Abendessen bestand praktisch aus Popcorn in unterschiedlichen Varianten.“
Ich bleibe abrupt auf der obersten Treppenstufe stehen.
„Was? Joshie hat Geburtstag? Warum hast du das nicht gesagt.“
Freddy verzieht verlegen das Gesicht, zuckt dann aber mit den Schultern und läuft die Treppe hinunter. Mir bleibt nichts übrig, als ihm zu folgen. Der Popcorngeruch wird mit jeder Stufe stärker, und als ich hinter Freddy den Proberaum betrete, habe ich endgültig das Gefühl im Kino zu sein. Wenn da nicht all die Instrumente wären, die im Halbkreis angeordnet sind, und vor denen mit etwas Abstand ein Stativ mit einer Kamera aufgebaut ist.
„Hi“, sage ich und sehe mich etwas unsicher um. Hat Freddy den anderen überhaupt gesagt, dass er mich eingeladen hat? Was, wenn sie es nicht so cool finden, dass ich hier bin? Meine Sorge ist unberechtigt, wie ich schnell feststelle.
„Hey Judith, schön dich zu sehen“, begrüßt Kristina mich und umarmt mich, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Hinter ihr kommt Joshie auf mich zu.
„Hi, welcome to the show“, sagt sie lachend.
„Danke. Und alles Gute zum Geburtstag. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Kuchen mitgebracht.“
Joshie winkt ab. „Alles gut. Wir haben sowieso schon einen Zuckerschock vom Popcorn.“
„Ja, und wessen Schuld ist das?“, fragt ein Junge mit ebenso brauner Haut wie Joshies.
„Hey, ich hab niemanden gezwungen Popcorn zu essen“, ereifert Joshie sich und verzieht sich schulterzuckend hinters Schlagzeug.
„Seid ihr soweit?“ Ben hängt sich seine Gitarre um und sieht in die Runde. Auch Freddy nimmt seine Gitarre, Johnny wirft einen letzten Blick auf die Kamera und greift nach seinem Bass. Kristina setzt sich hinters Keyboard und ich ziehe mich auf die andere Seite des Raums zurück, wo der Junge hinterm Laptop sitzt und auf den Bildschirm schaut.
„Hi, Kiron“, stellt er sich vor.
„Joshies Bruder?“, vermute ich. Er nickt und ich stelle mich ebenfalls vor.
„Freddys Freundin?“, will er wissen.
Hitze schießt mir ins Gesicht und ich bin froh, dass der Raum in dieser Ecke nicht besonders gut ausgeleuchtet ist. Die Frage trifft mich völlig unvorbereitet.
„Kiron, alles klar?“, ruft Ben zu uns rüber und erspart es mir so, Joshies Bruder zu antworten.
Kiron checkt ein paar Einstellungen, nickt und startet auf Bens Zeichen hin den Livestream. Joshie gibt einen Takt vor, und die fünf beginnen zu spielen. Ben hat zunächst die Führung, spielt ein paar Akkorde, an die die anderen sich dranhängen. Dann übernehmen nach und nach Freddy und Kristina an E-Gitarre und Klavier. Zuerst schaue ich noch abwechselnd auf die Band und Kirons Bildschirm. Aber die aufploppenden Kommentare neben dem Stream irritieren mich nur. Also mache ich es mir auf einem Sitzkissen bequem und lasse mich ganz in die Musik fallen. Ich erkenne einzelne Melodieteile aus verschiedenen Songs, mal von Kristina eingeworfen, aber auch Johnny spielt am Bass die ein oder andere markante Figur.
„Hallo zusammen, cool, dass ihr zuhört.“
Freddys Stimme reißt mich aus den sanften Tönen, die mich eben noch umschlossen haben., und es braucht einen Moment, bis ich begreife, wenn er mit ihr meint. Richtig, der Livestream. Freddy rutscht mit der Hand die Saiten der E-Gitarre entlang und erzählt von dem Versprechen, heute Abend einen neuen Song vorzustellen.
„Wir wollen euch auch gar nicht lang auf die Folter spannen, aber vorher noch etwas ganz Wichtiges: Joshie hat heute Geburtstag! Happy Birthday!“
Kristina trommelt mit den Zeigefingern auf eines der Becken, wovon man aber kaum etwas hört. Und während Freddy grinsend von der Minipopcornmaschine berichtet, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie im Chat Glückwünsche an Joshie eintrudeln. Sie steht kurz auf und verbeugt sich Richtung Kamera, ehe sie Freddy mit einer abwehrenden Handbewegung zu verstehen gibt, dass sie nun genug Aufmerksamkeit bekommen hat.
„Okay. Wie gesagt, wir haben einen neuen Song für euch, der ist sozusagen frisch geschlüpft. Hier ist für euch 31 Days of Rain in November.“
Freddy sagt euch, aber sein Blick ruht auf mir.
Mein Herz schlägt schneller und meine Hände sind auf einmal feucht. Ich schiebe sie zwischen Oberschenkel und Sitzkissen und sehe gebannt zu, wie Freddy die Finger auf die Saiten legt. Ich hatte gedacht, ich würde den Song inzwischen auswendig kennen, so oft wie ich mir die Demoversion schon angehört habe. Jetzt werde ich eines Besseren belehrt. Die Akkorde klingen so viel sanfter, die einzelnen Töne, die Kristina vom Keyboard einwirft, perlen wie Regentropfen durch den Raum. Freddy hat die Augen geschlossen, singt die ersten Zeilen. Seine Stimme rieselt mir über die Haut, sanft, nicht wie November-, eher wie Mairegen. Er singt so ruhig, umschließt den Gitarrenhals als wäre er aus Glas – und doch ist er so präsent, so da, dass der Rest der Band völlig zu verschwinden scheint.
Der Einsatz des Schlagzeugs lässt mich zusammenfahren, aber schon nach zwei Takten habe ich mich wieder gefangen. Freddy lässt mich während des Refrains nicht aus den Augen, und ich hänge an seinen Lippen.
Feels like 31 days of rain in november
Thought it’d be over, but there’s still one more …
Unser Spaziergang im Park fällt mir wieder ein. Verdammt, wie hatte ich ihm damals zu nahetreten können? Ich wollte ihn nicht verletzen. Sein Blick ruht auf mir und ich sehe, dass er lacht. Allerdings nur mit einem Auge. In dem anderen liegt ein seltsamer Glanz und eine undurchdringliche Melancholie. Ob das den Zuschauern des Streams auffällt? Ich würde am liebsten aufspringen und Freddy in den Arm nehmen, wünsche mir so sehr, dass er mit beiden Augen lacht. Aber ich sitze wie festgeklebt auf dem Sitzkissen.
„Wow“, flüstert Kiron neben mir, kaum dass der letzte Akkord verklungen ist. Ich werfe einen kurzen Blick auf den Chat, in dem sich die Emojis geradezu überschlagen. Ich kann die Begeisterung der Zuschauer verstehen, will zurück in diesen Song, diese Melodie voller Sehnsucht, in der trotz allem noch Hoffnung mitschwingt.
Ben schaut auf sein Handy, das neben ihm auf dem Verstärker liegt. Offenbar hat er den Stream dort geöffnet, denn er liest nun einige Kommentare vor. So schön, mega, bitte nochmal.
„Danke, vielen Dank“, sagt Freddy lächelnd.
„Magst du erzählen, was dich zu dem Song inspiriert hat?“, liest Ben vor.
Für den Bruchteil einer Sekunde huscht Freddys Blick zu mir, und ich glaube, mein Herz bleibt stehen. Zum Glück sitze ich hinter der Kamera, niemand weiß, dass ich hier bin. Trotzdem lässt mich die Frage nicht los. Habe ich den Song richtig interpretiert? Ging es wirklich um unseren Spaziergang, das, was zwischen uns ungesagt blieb, weil ich zu voreilig war?
Freddy lächelt noch immer, nett, aber unverbindlich. „Das war einfach so ein Gefühl, das mal rausmusste. Ihr kennt das wahrscheinlich. Man hetzt sich ab und denkt, man hat’s gepackt, und dann tritt das Leben doch noch mal nach. Und man fühlt sich so, als wären alle gegen dich.“
Du hast so recht, kenn ich, taucht im Chat auf.
Ich atme erleichtert aus. Zum Glück lässt sich das Lied auch so direkt interpretieren. Ben liest ein paar Songwünsche vor und die fünf legen in Windeseile eine kurze Setlist für die nächsten Minuten fest.
Bei Run until you fly wippe ich mit den Füßen im Takt und auch Burn lässt mich nicht stillsitzen.
Als Escape sich verabschiedet und die Zuschauer in einen anderen Stream weiterempfohlen haben, schaltet Kiron die Kamera ab und ich springe auf.
„Das war mega.“ Ich wünschte, mir würde ein anderes Wort einfallen, aber es gibt keins, das wirklich beschreibt, was mir durch den Kopf geht.
„Danke.“ Freddy stellt die E-Gitarre ab, greift nach einer Mate-Flasche und trinkt mit großen Schlucken. „Voll schön, dass du gekommen bist.“
Er lächelt, aber diesmal erreicht das Lachen keines seiner Augen. Als ob jemand ihn ausgewechselt hätte, steht vor mir nicht der coole, etwas geheimnisvolle Musiker, sondern ein beinahe schüchterner und verschlossener Junge. Welcher von ihnen ist der wahre Freddy? Oder sind es nur zwei Seiten? Wie kann er in einer Minute Witze vor der Kamera reißen und im nächsten Moment die Schotten dicht machen? Verwundert stelle ich fest, dass mein Herz gegenüber diesem verschlossenen Freddy noch höher schlägt als für den coolen Musiker.
„Hast du morgen Nachmittag schon was vor?“
Freddy stellt die leere Mate-Flasche auf den Verstärker und schüttelt zögernd den Kopf. „Keine Ahnung. Ist viel liegen geblieben in den letzten Tagen. Meiner Mutter geht’s seit Freitag nicht so gut, Finn hatte Ärger in der Schule und die Ausbildung ist ein bisschen zu kurz gekommen.“
Als ob mir jemand in den Magen geboxt hätte, zucke ich zusammen, und ich halte mich mit einer Hand an der Wand fest, die zum Glück direkt neben mir ist. Die Kühle hilft mir, nicht umzufallen, während die Erinnerungen an Freitag durch meinen Kopf jagen. Warum fällt mir das jetzt erst auf? Wieso habe ich die Verbindung nicht schon früher erkannt? Ich kann ihnen das nicht antun. Finn ist erst dreizehn. Mein Großer steckt mitten in der Ausbildung. Die Sätze der Patientin hallen wie ein Echo zwischen meinen Ohren. Scheiße. Verdammter Mist. Die Frau, die mir nun schon zweimal ihre Sorgen anvertraut hat, ist Freddys Mutter, und so wie es aussieht, hat sie ihren Söhnen ihre Brustkrebsdiagnose tatsächlich verschwiegen. Die Erkenntnis brennt in meinen Adern und die Scham zwingt mich, Freddys Blick auszuweichen. Wie könnte ich ihm in die Augen schauen, wenn er hier vor mir steht und keine Ahnung hat, wie krank seine Mutter wirklich ist?
„Okay“, krächze ich. „Kein Ding. Wir können ja schreiben.“
Ich umarme ihn flüchtig und verabschiede mich hastig von den anderen. Dann eile ich aus dem Proberaum, die Treppenstufen hinauf und nach draußen. Verfolgt von der Verzweiflung von Freddys Mutter und Freddys Songzeile. Thought it’d be over, but there’s still one more.
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