Kapitel 23 - Warten auf Hoffnung

Freddy

Es ist erst eine gute Stunde her, dass Mama von einer Schwester in dem Krankenbett zum OP gebracht wurde, und schon jetzt kann ich den Wartebereich, wo ich mit Finn platzgenommen habe, nicht mehr sehen. An den beigen Wänden hängen abstrakte Gemälde, nicht zu aufdringlich, auch nicht unbedingt hässlich. Ich kann sie trotzdem nicht leiden. Ich will sie nicht sehen, will nicht hier sein. Jeder andere Ort wäre mir gerade lieber, und doch verkehrt. Sven hat mir für heute einen Tag Sonderurlaub gegeben, Finn hat eine Beurlaubung für die Schule. Wir könnten uns ohnehin nicht auf Ausbildung oder Unterricht konzentrieren. Stattdessen sitzen wir hier nebeneinander, warten und werden mit jeder Minute nervöser. 

Gestern Abend haben wir seit Ewigkeiten mal wieder Pizza bestellt und gemeinsam mit Mama einen Film geschaut.

 

Zwei Stunden Pseudoglück und heile Welt, bevor heute der Kampf beginnt.

 

Nicht nur Mamas Kampf, sondern auch Finns und meiner. Ein Kampf, bei dem Verlieren auf beiden Seiten keine Option sein darf.

Finn zieht einen Basketball in Miniaturformat aus seiner Jackentasche und fängt an, ihn von einer Hand in die andere zu werfen. Eine Weile verfolge ich mit meinem Blick die Flugbahn der orangen Kugel, lausche dem Pock-Pock-Pock, das erklingt, wenn Finn den Ball in seiner Hand auffängt.

 

Es nervt unheimlich. Ich bin schon kurz davor, ihm das blöde Ding wegzunehmen und in dem Papierkorb in der Ecke zu versenken, als ich mich doch noch beherrsche und stattdessen nach einer der Zeitschriften auf dem Tisch zwischen uns greife. Finn will sich schließlich auch nur ablenken, und das sollte ich jetzt auch dringend tun.

 

Leider taugen die bunten Bilder über Schlagerstars und Mitglieder von Königshausen nicht dazu, meine Gedanken von diesem Ort abzulenken. Denn für die portraitierten Personen scheint es nur zwei Optionen zu geben; entweder sie stecken in einer tiefen Beziehungskrise oder sind todkrank. Als eine rote Überschrift etwas vom Krebsdrama der Prinzessin Sowieso verheißt, schlage ich die Zeitschrift zu und werfe sie zurück auf den Tisch.

Wie kann man auf einer Onkologie oder überhaupt in einem Krankenhaus so etwas auslegen? Abgesehen davon, dass die Artikel eh alle frei erfunden sind, geht es doch sicher keinem Patienten oder Angehörigen besser, wenn sie lesen, dass irgendein Promi auch an einer (ausgedachten) Krebserkrankung leidet.

 

Pock-Pock-Pock.

 

Finn lässt den Ball immer schneller zwischen seinen Händen fliegen. Dann hält er ihn kurz fest, nur um ihn anschließend auf seinem Zeigefinger kreisen zu lassen. Er ist verdammt geschickt. Als ob er mit dem Finger meines Bruder verbunden wäre, dreht sich der Ball um die eigene Achse.

Neidisch darauf, dass Finn eine Ablenkung gefunden hat, sehe ich ihm zu. Wenn ich nur meine Gitarre bei mir hätte. Ich müsste nicht einmal richtig spielen, die E-Gitarre ohne Verstärker würde mir schon reichen. Hauptsache, ich könnte mich an den Stahlsaiten festhalten, ein paar vertraute Akkorde greifen oder mich in ein paar Riffs verlieren. Man sollte Wartezimmer nicht mit Schmierblättern, sondern Instrumenten ausstatten.

 

Der kleine Basketball verliert an Schwung und kippt Finn von der Hand. Mein Bruder versucht noch, ihn aufzufangen, greift aber daneben, und der Ball fliegt auf mich zu. Geistesgegenwärtig fange ich ihn auf und werfe ihn zurück zu meinem Bruder. Finn grinst und wirft den Ball wieder zu mir. Eine Weile passen wir hin und her, wobei ich bei jedem von Finns Würfen merke, wie professionell er den Ball hantiert.

 

„Du bist echt richtig gut geworden“, sage ich. Nicht, dass ich das tatsächlich beurteilen könnte, Ballsportarten waren mir schon immer ein Graus, aber allein wenn ich seine Bälle fange, spüre ich, dass er sie anders geworfen hat, als ich.

Finn tut mein Lob mit einem Schulterzucken ab, und anstatt mir den Basketball wieder zuzuwerfen, nimmt er sein Spiel vom Anfang wieder auf.

 

„Finn? Ist alles klar?“

 

Er wirft mir einen kurzen spöttischen Blick zu und schnaubt verächtlich. „Klar, alles super. Ist doch völlig normal, hier abzuhängen und zu warten, dass Mama aus dem OP kommt.“

 

Ich zucke unter seinen Worten zusammen. So deutlich und verbittert hat er noch nie mit mir gesprochen. Entschlossen nehme ich ihm den Ball weg und sehe Finn fest in die Augen.

 

„Du weißt genau, dass ich nicht das gemeint habe“, sage ich und umschreibe mit einer kurzen Geste den Raum.

 

Finn zuckt noch einmal gleichgültig die Schultern. „Ist doch egal.“

 

„Ist es nicht. Sag schon, was ist los.“

 

„Tino sagt auch, dass ich gut bin. Er meint, ich hätte gute Chancen für den Jugendkader.“

 

Jugendkader? Das ist der Wahnsinn, und ich könnte vor Stolz platzen. Aber Finn sieht nicht so aus, als ob ihn der Zuspruch seines Trainers freuen würde.

 

„Hast du dir das nicht immer gewünscht?“

 

Es dauert, bis Finn aufsieht, und als sein Blick meinen trifft, glänzen seine Augen.

 

„Mehr als alles andere. Aber geht halt nicht.“

 

Trotz der Wärme hier im Wartezimmer läuft mir ein kalter Schauer über die Haut. Bislang habe ich immer geglaubt, Finn würde fast genauso unbeschwert durchs Leben gehen wie seine Klassenkameraden. Ich dachte, es sei mir gelungen, alles von ihm fernzuhalten. Ganz offensichtlich habe ich mich getäuscht. Die Resignation in der Stimme meines Bruders macht mich fertig.

 

„Wieso geht es nicht?“, frage ich dennoch. Vielleicht hat Finn zu früh aufgegeben?

 

Er sieht mich an, als hätte ich ihm weißmachen wollen, den Weihnachtsmann gäbe es wirklich. „Das wäre viermal pro Woche Training, mindestens. Und jedes Wochenende ein Spiel. Wie sollen wir das mit Mama schaffen? Und bessere Turnschuhe können wir uns auch nicht leisten.“

 

Ich hasse es, ich hasse es so sehr. Finn macht sich keine Illusionen und ich kann ihm nicht einmal widersprechen. Wie konnte ich nur vergessen, dass er inzwischen zu alt ist, um die Illusion zu glauben, die ich ihm gern bauen würde. Es schnürt mir die Luft ab, ihn so hoffnungslos zu sehen. Und obwohl ich keine Ahnung habe, wie ich dieses Problem lösen soll, gehe ich vor meinem Bruder in die Knie, drücke ihm den kleinen Basketball wieder in die Hände und sehe ihn fest an.

 

„Wir schaffen das, okay? Ich tu alles, was ich kann, damit du Basketball spielen kannst.“

Finn nickt nur leicht, aber es ist ein Anfang.

 

Zwei Stunden später dürfen wir endlich zu Mama.

 

Sie ist noch müde, aber zum ersten Mal seit Ewigkeiten liegt wieder ein vollständiges Lächeln auf ihrem Gesicht. Die Anästhesie hat ganze Arbeit geleistet, und nicht nur die Empfindung während der OP, sondern auch ihre chronischen Schmerzen für den Moment betäubt. Vermutlich ist sie auch zu erledigt, um sich Sorgen um das zu machen, was auf sie und uns zukommt. Ich halte ihre Hand in meiner, sehe zu, wie sich ihr Oberkörper unter der Decke langsam hebt und senkt und versuche, etwas von Mamas Entspannung in mir selbst zu finden. Die OP ist gut verlaufen, hat die Ärztin gesagt, und das ist irgendwo beruhigend. Aber die Operation war nur der erste Schritt von vielen. Es werden noch viele folgen, an denen es schief gehen kann. Der Befund aus der Pathologie steht noch aus.

 

Plötzlich schließt sich Mamas Hand fester um meine. „Freddy.“

 

Ich sehe auf. Meine Mutter lächelt schwach und drückt ihre Fingerspitzen sanft in meine Handinnenfläche.

 

„Du guckst so nachdenklich“, sagt Mama leise.

 

Mist, wenn ihr das in ihrem Zustand auffällt, muss es wirklich deutlich sein. Ich bemühe mich um ein unbeschwertes Lächeln und schüttle den Kopf. Sie soll sich keine Gedanken um mich machen, jetzt geht es nur um sie.

 

„Macht euch keine Sorgen. Ich bin hier. Es wird alles gut.“

 

Hektisch schlucke ich ein paarmal, um das Brennen, das in meiner Kehle aufsteigt, wieder loszuwerden. Ich will Mama glauben. Wirklich. Und ich wünsche mir, dass sie selbst es glaubt und sie recht behält. Aber die Erfahrung hat uns etwas anderes gelehrt. In den letzten Jahren ist es nicht gut geworden. Dass wir jetzt hier sind, ist der beste Beweis dafür.

 

„Versprochen“, schiebt Mama leise, aber nachdrücklich hinterher, als ob sie die Zweifel in meinem Gesicht gelesen hätte.

 

„Okay“, flüstert Finn. Ich selbst kann nur nicken.

 

Wir bleiben an ihrer Seite,

 

als Mama kurz darauf wieder einschläft. Ich habe keinen Plan, wie der Rest des Tages aussehen soll, und längst habe ich das Gefühl für Zeit verloren. Aber ich werde nicht einfach aufstehen und gehen und riskieren, dass Mama allein ist, wenn sie wieder aufwacht. Die Wärme im Zimmer, und vermutlich auch die Tatsache, dass ich in der letzten Nacht nicht viel geschlafen habe, lassen mich schläfrig werden. Finn hat seinen Kopf längst auf Mamas Bett abgelegt und atmet ruhig.

 

Das Vibrieren meines Handys lässt mich zusammenfahren. Zuletzt habe ich heute Morgen, bevor wir aufgebrochen sind, aufs Handy geschaut. Umso erstaunter bin ich, dass in den letzten Stunden mehrere Nachrichten eingegangen sind. Die anderen aus der Band haben geschrieben, nicht in unserem Gruppenchat, sondern jede und jeder für sich.

Kris war die erste heute um kurz nach sieben.

 

Ich wünsche euch alles Gute heute. Ich denke an euch.

 

Johnnys Nachricht folgte eine knappe Stunde später.

 

Weiß nicht, ob das die richtigen Worte sind, aber ich wünsch deiner Mutter viel Glück für die OP. Mach dich nicht verrückt. Wir sind da.

 

Ich schlucke. Es ist mir nicht leicht gefallen, der Band zu erzählen, warum ich letzte Woche abgehauen bin, aber sie haben sich alle sofort verständnisvoll gezeigt und ihre Unterstützung zugesagt. Ihre Nachrichten zeigen, dass es nicht nur leere Worte waren.

 

Hoffe, es ist alles gut verlaufen? Ich drücke immer noch sämtliche Daumen. Ben

 

Joshies Nachricht lässt mich schmunzeln.

 

Nicht hektisch werden, das bringt dich nur aus dem Rhythmus. Liebe Grüße und alles Gute.

 

Obwohl mir die guten Wünsche von Kris, Johnny und Ben sehr viel bedeuten, tut es auch gut, den flapsigen Spruch von Joshie zu lesen. Es ist ein Hauch von Normalität in diesem ganzen Wahnsinn, wofür ich unglaublich dankbar bin.

Die jüngste Nachricht lässt mein Herz jedoch schneller schlagen und beschert mir ein aufgeregtes Kribbeln in der Magengegend.

 

Lieber Freddy, wie geht es euch? Seid ihr noch in der Klinik? Liebe Grüße, Judith.

 

Die Schmetterlinge tanzen auf und ab.

 

Mistviecher, verräterische. Aber ich kann mir nicht helfen, irgendwie bin ich auch froh, dass sie da sind. Ich gebe den Bandmitgliedern ein kurzes Update, dann antworte ich Judith, ehe ich das Handy wieder weglege.

 

Ich muss tatsächlich kurz eingeschlafen sein, denn als mich jemand sanft an der Schulter berührt, muss ich mich erst einmal orientieren, was gar nicht so leicht ist, da die Perspektive seltsam verschoben ist. Die Uhr an der Wand liegt auf der Seite, der Fernseher hängt hochkant daneben. Nein, hängt er natürlich nicht. Ich richte mich langsam auf und reibe mir den Nacken, der sich schrecklich steif anfühlt.

 

„Hey, sorry, ich wollte dich nicht wecken.“

Neben mir steht Judith und lächelt. In meinem Halbschlafmodus kommt sie mir wie eine Erscheinung vor, aber dann begreife ich, sie ist echt.

 

„Schon okay. Was machst du hier?“ Oh Mist, war das unhöflich? Gott, ich bin viel zu müde, um klar zu denken. Und dieses Kribbeln im Bauch macht die Sache nicht leichter. Ich hätte daran denken sollen, mir eine Flasche Mate mitzunehmen. Wann habe ich überhaupt das letzte Mal etwas getrunken? Oder gegessen? Was denke ich hier eigentlich? Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht und massiere mit den Fingerknöcheln meine Wangen, um ein bisschen wacher zu werden.

 

„Ich wollte schauen, wie es euch geht. Und Finn und dich zum Essen einladen. Bei uns zu Hause gibt es Lasagne.“

 

Fassungslos starre ich Judith an und versuche zu begreifen, was sie gerade gesagt hat. Doch noch ehe ich zu einem schlüssigen Ergebnis komme, schlägt Mama die Augen auf.

 

„Hallo Judith. Schön, dich zu sehen.“

 

„Hallo, Frau Hermann. Wie geht es Ihnen?“

 

„Sag Sandra“, bittet Mama und lächelt. „Ich bin noch etwas müde, aber sonst geht’s gut.“

 

Ich bemerke, dass ich noch immer ihre Hand halte und lasse sie auch nicht los, als ich unsicher zwischen Mama und Judith hin und her sehe.

 

„Wir können uns doch nicht einfach bei euch einladen“, sage ich.

 

Judith zieht die Nase kraus, wobei sich gleichzeitig eine Falte in ihrer Stirn bildet. Ihr Blick spiegelt Unverständnis. „Tut ihr ja nicht, weil wir euch schon eingeladen haben. Meine Mutter hat euch fest eingeplant.“

 

Ich zögere. Die Einladung ist bestimmt lieb gemeint und inzwischen habe ich auch wirklich Hunger. Aber es widerstrebt mir, Mama zurückzulassen. Zuhause weiß ich, was ich tun kann. Hier muss ich dieses unsichere Gefühl von Kontrolle abgeben.

 

Mama drückt meine Hand, sieht aber Judith an. „Das ist sehr nett von euch. Sag deinen Eltern einen lieben Gruß.“

 

Ich sehe Mama fragend an und kann in ihrem Gesicht lesen, dass sie für uns entschieden hat.

„Wir können dich doch nicht allein lassen“, versuche ich einen schwachen Protest.

 

Meine Mutter schüttelt sogleich den Kopf. „Ich bin nicht allein. Hier sind Pfleger, die sich gut um mich kümmern. Und ich kann beruhigter schlafen, wenn ich weiß, dass ihr auch nicht allein seid.“

 

Das ist alles ganz schön viel auf einmal. Die Nachrichten, Judiths Einladung, Mamas Entschlossenheit. Langsam stehe ich auf und muss mich am Bett festhalten, weil mir plötzlich schwindelig wird. Judith hält mich fest und reicht mir meine Jacke.

„Kommt“, sagt sie leise.

Als ich mich in der Zimmertür noch einmal umdrehe, sehe ich Mama zufrieden lächelnd winken.

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