Judith
„Das war sehr lecker, vielen Dank.“ Freddy sieht meine Mutter beinahe beschämt an. Die beiden großen Lasagneschüsseln sind komplett leer und auch auf unseren Tellern ist nicht einmal ein winziger Rest übrig. Ob es Freddy unangenehm ist, dass er und sein Bruder die jeweils letzten Portionen bekommen haben? Dabei haben wir alle betont, dass wir wirklich satt sind, was zumindest für meinen Teil auch stimmt. Und auch für meine Geschwister lege ich meine Hand ins Feuer, denn was Mamas Lasagne betrifft, gönnen wir uns normalerweise nichts.
Ich beobachte Freddy, der mir gegenübersitzt und nun wieder den Blick auf seinen leeren Teller gerichtet hält. Während des Essens hat er sich nur kurz am Gespräch beteiligt, als Samuel vom Jugendzentrum berichtet hat. Er streicht mit den Fingerspitzen über die Tischdecke und unter seinen Lidern zucken seine Augen unruhig hin und her.
„Kann ich noch ein bisschen Playstation spielen?“, fragt Elias, ehe ich auch nur Luft holen kann, um etwas zu sagen, was Freddy aus der für ihn offenbar unangenehmen Situation befreien kann.
„Hast du deine Hausaufgaben alle fertig?“, fragt Papa.
„Klar.“
„Na dann, aber nicht so lang.“
Elias springt auf und wirft Finn, der neben ihm sitzt einen fragenden Blick zu.
„Hast du Lust, mitzuspielen?“
Über Finns Gesicht huscht ein Lächeln und mit einem Nicken folgt er meinem Bruder aus der Küche. Freddy sieht wieder auf und scheint, ich hätte es kaum für möglich gehalten, noch eine Spur unsicherer zu sein. Er ist auf der Hut, vor allem, was er sagt, was jemand fragt, vor dem, was passiert. Es macht mich fertig.
„Sollen wir noch beim Aufräumen helfen?“, fragt Freddy hastig, als ob er unsere Brüder damit in der Küche halten könnte.
Mama schüttelt lächelnd den Kopf. „Das ist lieb, aber das braucht ihr nicht.“
Unsere Runde löst sich auf, und während meine Geschwister in ihre Zimmer verschwinden, bleibe ich etwas unschlüssig sitzen und weiß nicht, was ich machen soll. Eigentlich würde ich auch gern in mein Zimmer gehen und Freddy mitnehmen. Wir könnten ein bisschen reden oder schweigen. Wie oft habe ich mir das schon vorgestellt! Allerdings habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wie wir dorthin kommen. In meinen Vorstellungen war Freddy einfach bei mir, ohne dass wir an meiner Familie vorbeigemusst hätten. Das müssten wir jetzt streng genommen auch nicht, niemand würde uns aufhalten. Aber trotzdem will ich Freddy nicht einfach fragen, ob er mit nach oben kommen mag. Es fühlt sich nicht so selbstverständlich an.
Ich greife nach der Wasserflasche vor mir auf dem Tisch, stehe auf und stelle die Flasche in den Kühlschrank.
Wow. Das hat mich richtig nach vorne gebracht.
Jetzt stehe ich am Kühlschrank und weiß nicht weiter. In Filmen werden solche Übergangsszenen auch ständig weggelassen. Die Leute sind plötzlich irgendwo, wie sie dahinkommen, bleibt ungewiss. Ratlos ziehe ich die Teeschublade auf und wieder zu.
„Magst du noch einen Tee?“
Freddy nickt und ich sinke vor Erleichterung beinahe bis auf den Küchenboden. Wahllos ziehe ich zwei Pakete aus der Schublade, halte sie hoch und als Freddy scheinbar genauso wahllos auf das linke zeigt, kann ich mir ein nervöses Kichern nicht verkneifen. Dass er genauso verunsichert ist wie ich, macht es mir leichter und so drücke ich Freddy, sobald das Teewasser fertig ist, die Tasse mit dem Beutel in die Hand und bedeute ihm mit einem Kopfnicken mir zu folgen.
Schließlich sitzen wir uns in meinem Zimmer gegenüber, ich ans Bett gelehnt, er an mein Bücherregal, und halten unsere Teetassen zwischen unseren Knien. Wir schweigen noch immer, aber jetzt fühlt es sich nicht mehr ganz so schlimm an. Wenn wir allein sind, kann ich mich damit begnügen, Freddy anzusehen. Das lockige Haar, das er im Nacken zusammengebunden hat, und das heute etwas durcheinander wirkt. Seine schlanken Finger, die die Teetasse umschließen, und sein Blick der scheu durch mein Zimmer wandert.
„Schön hast du’s hier. Habt ihr alle euer eigenes Zimmer?“
Ich nicke. „Ja. Früher waren mein und Ruths Zimmer eins, aber vor ein paar Jahren haben wir dann die Schrankwand als Raumtrenner eingebaut.“
Freddy grinst mich über seine Teetasse hinweg an. „Das heißt, wenn ich mich jetzt schräg dagegen lehne, dreht sich alles und ich sitze bei deiner Schwester im Zimmer?“
Ich muss über seine Idee so laut lachen, dass ich etwas von meinem Tee auf mein Knie verschütte. Autsch. Vorsichtshalber stelle ich die Tasse auf dem Boden ab.
„Schöner Vorschlag, aber das ist nur unser Haus, nicht Narnia.“
„Haben sie das in Narnia nicht auch gedacht?“, erwidert Freddy provozierend und drückt mit der einen Schulter gegen das Regal. Natürlich bleibt es an Ort und Stelle stehen.
„Einen Versuch war es wert“, sagt er.
„Wärst du gern in Narnia?“
Ich meine die Frage ernst, auch wenn ich natürlich weiß, dass es Narnia nicht gibt.
Das Lächeln verschwindet aus Freddys Gesicht und ich wünsche mir, ich hätte die Frage nicht gestellt.
„Heute Morgen hätte ich nichts dagegen gehabt“, sagt er nach einigem Zögern.
„Das glaube ich. Das Warten muss schrecklich gewesen sein.“
Freddy deutet ein Nicken an, schüttelt dann aber entschieden den Kopf. „Was war bei dir so los in den letzten Tagen?“
Seinem Blick ausweichend greife ich wieder nach meiner Tasse und sehe auf den noch leicht dampfenden roten Spiegel des Früchtetees. Freddys Frage klang ehrlich interessiert, aber ich kann ihm nicht von dem neuen Video und von der vergeigten Bio-Abfrage erzählen. Er braucht meine Sorgen nicht noch zusätzlich zu seinen eigenen.
„Schule, nichts Besonderes.“
In diesem Moment verkündet mein Handy den Eingang einer Nachricht und ich ziehe es reflexartig aus meiner Hosentasche, ehe mir aufgeht, dass das wahrscheinlich unhöflich ist. Aber da habe ich die Nachricht von Dario schon geöffnet.
Hi Judith, cool, dass du die Bewerbung abgeschickt hast. Ich drück dir die Daumen, dass es klappt. Und mach dich wegen der anderen nicht verrückt. Es ist unmöglich, es allen Recht zu machen. Viele Grüße aus Santiago de Veraguas
Er schickt ein Bild vom Sandstrand und kitschig blauem Wasser mit, das direkt Lust macht, loszuschwimmen.
„Gute Nachrichten?“,
fragt Freddy und ich wache aus meiner kurzen Träumerei wieder auf. Mit heißen Wangen lege ich das Smartphone wieder weg.
„Sorry, ja, sozusagen. Ich habe mit jemandem geschrieben, der gerade sein FSJ in Panama macht.“
„Wow, cool. Wie kommt’s?“
Ich zögere einen Moment. Soll ich Freddy von meiner Bewerbung erzählen? Was macht das dann mit uns? Nicht, dass bislang viel passiert wäre und man ernsthaft von einem uns sprechen könnte, aber gerade wünsche ich mir fast nichts sehnlicher als das. Aber gerade dann wäre es nicht fair zu schweigen. Mit zusammengekniffenen Lippen und gesenktem Blick atme ich tief durch, dann erzähle ich Freddy von meinen Plänen.
„Ich träume schon seit zwei Jahren davon, nach Panama zu reisen und dort in einem Sozialprojekt mitzuarbeiten, aber ich wusste nicht, ob ich mich wirklich bewerben sollte“, sage ich, höre selbst die wachsende Begeisterung in meiner Stimme, und lasse Freddy keine Sekunde aus dem Blick.
Ist er enttäuscht? Verärgert? Ich kann in seiner Miene nicht lesen, aber als er spricht, höre ich deutlich die Überraschung. „Wieso hast du gezweifelt?“
Mist, wie erkläre ich ihm das jetzt, ohne doch alles von der Schule zu erzählen?
„Ich war mir nicht sicher, ob es richtig ist.“
Jetzt fällt es mir nicht schwer, Freddys Mimik zu deuten. Die Irritation zeichnet sich in zwei tiefen Falten auf seiner Stirn ab.
„Ich habe mich gefragt, ob das wirklich nachhaltig ist oder nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Und ob ich es für die Menschen dort mache oder ob die nur Mittel zum Zweck sind, damit ich exotische Erinnerungen sammeln kann und mich gut dabei fühle.“
Ich schaue wieder in meine Teetasse, aus der es nun nicht mehr dampft. Dario hat mir geschrieben, dass die Hilfe in den Projekten nicht vergebens ist, dass es sich lohnt zu helfen und die meisten Freiwilligen den Projekten ein Leben lang verbunden bleiben. Dennoch kann ich die höhnische Stimme von Melanie nicht aus meinem Hinterkopf verbannen.
Plötzlich drückt etwas gegen meine Fußspitzen.
Erschrocken sehe ich auf. Freddy ist ein Stück auf mich zugekommen und sitzt mir nun direkt gegenüber, wobei eins seiner Sprunggelenke meine Füße berührt. Die Nähe kribbelt warm in mir hoch und mein Herz schlägt unwillkürlich schneller. Er ist hier, bei mir, seine Augen blicken ernst.
„Hast du Finn und mich eingeladen, damit du dich gut fühlst? Oder hast du deinetwegen meiner Mutter zugehört?“
Ich schlucke. In seiner Stimme klingt kein Vorwurf, trotzdem trifft mich die Frage bis ins Mark. Sie tut weh, weil sie an meine Ängste rührt. Die Angst, weitere Sprüche von Melanie, Kilian oder den anderen zu hören. Die Angst, Freddy zu verlieren, obwohl ich nicht einmal weiß, was das zwischen uns ist, aber mir wünsche, dass es etwas wird. Ich kann nicht verhindern, dass sich eine Träne aus meinem Auge löst. Ich wische sie weg und schüttle energisch den Kopf.
„Ich möchte, dass es euch gut geht“, sage ich. „Dass du nicht allein bist“, füge ich leise hinzu.
„Dann ist es nicht egoistisch“, erwidert Freddy ebenso leise. „Danke.“
Noch immer sieht er mich aus ernsten Augen an, mit einem Blick, den ich schon bei so vielen Patientinnen und Patienten gesehen habe. Ein Blick, der das kurze Danke mit viel mehr Inhalt belädt als sich bei den zwei Silben vermuten lässt. Ein Blick, der in mir den Wunsch auslöst, Freddy in meine Arme zu ziehen.
Doch ehe ich mich zu ihm vorbeugen kann, rutscht er mit einem Lächeln neben mich und deutet auf mein Handy.
„Zeig mal ein paar Bilder von Panama.“
„Äh, ich war doch noch gar nicht da.“
„Das habe ich verstanden. Aber dieser Typ, mit dem du schreibst, hat doch bestimm Bilder hochgeladen.“
„Der Typ heißt Dario, aber ja, er hat tolle Bilder bei Insta“, sage ich und öffne die App. Ich gehe auf Darios Profil und zeige Freddy die Posts über das Projekt, in dem Dario arbeitet, und von der Landschaft.
„Ja“, sagt er schließlich, „das ist nicht Narnia, aber doch ganz schön.“
Lachend boxe ich ihm in die Seite. „Spinner.“
Freddy lacht auch, sieht mich aber gleich darauf wieder ernst an. „Die Bilder aus dem Projekt sind toll. Du solltest das machen, ich glaube, das ist genau dein Ding.“
Überrascht lasse ich das Handy sinken. „Echt?“
„Echt.“
Plötzlich liegt seine Hand auf meiner, seine Finger verhaken sich mit meinen, ehe seine Fingerspitzen sanft die Innenfläche meiner Hand berühren. Wärme durchströmt mich und mein Herz schlägt noch eine Ahnung schneller und lauter, sodass ich Wummern in den Ohren hören kann. Ich suche seinen Blick, der noch immer ruhig auf mir liegt, versinke in dem Waldgrün seiner Iriden. Ich will mich in diesem Blick festhalten und wage nicht zu blinzeln, denn ein Wimpernschlag könnte den Moment zerstören.
Langsam nähern wir uns einander an …
… da klopft es kurz an der Tür, die schon im nächsten geöffnet wird. Finn steht im Türrahmen.
„Freddy, wollen wir fahren? Elias soll jetzt ins Bett und ich bin auch ziemlich müde.“
Halb erschrocken, halb enttäuscht über Finns plötzliches Auftauchen, schaue ich zu Freddys Bruder auf, dem die Müdigkeit tatsächlich anzusehen ist.
„Ihr könnt auch gern hier übernachten. Ich kann drüben bei Ruth schlafen.“
Freddy ist schon aufgesprungen und auf Finn zugegangen, dreht sich nun aber zu mir um. „Das ist lieb von dir, aber ich glaube, heute Nacht schlafen wir besser zu Hause.“
Da ist es wieder, dieses halbe Lächeln auf seinem Gesicht. Das Offene und Sanfte in seinem Blick ist verschwunden. An seine Stelle tritt wieder der zurückhaltende, unnahbare Freddy.
Ich begleite die beiden nach unten, wo sie sich von meinen Eltern verabschieden und noch einmal für das Essen bedanken. Natürlich winkt Mama ab und lädt sie ein, gern wiederzukommen. Finn geht schon die Treppen zur Straße hinunter, als Freddy mich zum Abschied noch einmal umarmt.
„Danke für heute“, flüstert er mir, dann läuft er seinem Bruder nach.
Ich sehe ihm hinterher und spüre der Wärme nach, die sein Satz neben meinem Ohr hinterlassen hat.
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