Freddy
Ich habe Judith beinahe geküsst.
Der Gedanke lässt mich nicht mehr los und rast unaufhörlich durch meinen Körper. Abends beim Einschlafen jagt er mir wohlige Schauer über die Haut. Ich kann ihre Nähe spüren, rieche den Duft ihres Apfelshampoos und ihren Früchteteeatem.
Morgens beim Aufwachen versetzt mich die Erinnerung hingegen in Panik. Ich habe Judith beinahe geküsst, verdammt. Ich muss aufpassen, ich darf nicht zulassen, dass es noch einmal passiert. So viel Nähe bedeutet Gefahr.
Und doch ist es genau das, wonach mein Herz sich sehnt. Ich will wieder Judiths Hand halten, sie umarmen, das fortführen, wobei Finn uns vor ein paar Tagen unterbrochen hat.
Warum musste er ausgerechnet in jenem Moment ins Zimmer platzen?
Wie gut, dass er uns gestört hat.
Oh Mann, ich würde so gerne noch weiter gehen. Möchte ihre Haut auf meiner fühlen, ihren Körper erkunden.
Ich verschlucke mich an meiner Mate und stelle hustend die Flasche ab. Was denke ich hier eigentlich? War ich jemals so dermaßen neben der Spur?
Zum Glück, leider, holt Sven mich in diesem Moment nach vorn in den Verkaufsraum, um ihm bei der Annahme einer Lieferung zu helfen. Die Kontrolle, Einpflegung und Einpreisung der Notentaschen und Gitarrencases lenkt mich von meinem Gedankenwirrwarr ab.
Zuhause beherrscht Judith jedoch sofort wieder mein Denken. Zwar habe ich auch hier genug Hausarbeit zu tun, aber die Handgriffe sind zu vertraut, um mich geistig zu fordern. Dabei gebe ich mir heute besonders Mühe beim Putzen.
Morgen kommt Mama aus dem Krankenhaus zurück und Finn und ich haben uns vorgenommen, ihr einen schönen Empfang zu bereiten. Sie soll sehen, dass wir es schaffen, uns um alles zu kümmern, und sie sich aufs Gesundwerden konzentrieren kann. Finn hat bereits das Badezimmer geputzt, bevor er zum Basketballtraining gefahren ist. Trotzdem wische ich noch einmal über die Oberflächen. Der blaue Lappen fährt die Duschwand auf und ab.
Ob Judith genauso viel an mich denkt, wie ich an sie?
Lappen auswaschen, über die Fliesen wischen. Hinter den Tuben mit unserem Shampoo und Duschgel her.
Gibt es einen schöneren Duft als Apfelshampoo? Meine Finger graben sich in Judiths Haar, fühlen die warmen weichen Strähnen.
Als ich feststelle, dass ich nur träume, werfe ich den Putzlappen frustriert ins Waschbecken. Ich ziehe den Staubsauger aus seiner Ecke und gehe damit ins Wohnzimmer. Vielleicht hilft staubsaugen, um meine lauten Gedanken zu übertönen. Aber obwohl das alte Ding einen Höllenlärm veranstaltet, hält mein Kopf stur dagegen. Judith will einfach nicht daraus verschwinden. Ich will das ja auch nicht. Eigentlich.
Ach, Mann!
Schließlich ist die ganze Wohnung geputzt und aufgeräumt, Mama wird Augen machen. Ich schnappe mir meine Gitarre, setze mich aufs Sofa und wie von selbst finden meine Finger ihren Weg, gleiten über die Saiten, brechen Akkorde und schwingen im Rhythmus meines Herzschlags. Ich summe eine Melodie.
Wie konnte es so weit kommen? Vor wenigen Monaten war Judith nicht mehr als irgendein Mädchen in der Menge, ein Fixpunkt, den ich während des Konzerts angelächelt habe. Es hatte nichts zu bedeuten. Warum geht sie mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf?
Was hat sie mit mir gemacht? Und wie? Ich hätte mich nicht darauf einlassen dürfen, als sie mich im ProTone indirekt nach meiner Nummer gefragt hat. Und dann all unsere Nachrichten, während meiner Zeit in Bayern. Der reinste Wahnsinn. Damals hätte ich es einfach abbrechen können, mich nicht mehr melden und ihre Nummer einfach löschen können.
Als ob, hättest du nicht, funkt mein Hirn höhnisch dazwischen und widerwillig muss ich ihm recht geben. Ich bin Judith längst verfallen. Das macht es besonders schwer. Ich will sie und weiß doch ganz genau, dass ich sie nicht haben kann. Schließlich habe ich gesehen, aus welchen Verhältnissen sie kommt. Sie hat eine heile Familie, Eltern, die sich um sie kümmern, rosige Zukunftspläne. Es versetzt mir einen kurzen Stich, als ich an ihr aufgeregtes Gesicht denke, während sie mir von Panama erzählte. Das ist ihr Traum, den soll sie leben. Was kann ich ihr schon bieten?
Nichts außer ständige Sorgen um eine chronisch und akut kranke Mutter, einen Haufen Arbeit bei der Ausbildung und zu Hause, und hin und wieder mal ein Konzert im Jugendzentrum. Wow.
Ich halte die Saiten fest, drücke den Stahl in meine Fingerkuppen. Es fühlt sich gut an, vertraut. Auf die Musik kann ich mich verlassen, darauf sollte ich vertrauen. Egal, was passiert, sie ist da.
Auch jetzt fängt sie wieder an zu spielen. Ja, nicht ich bin es, der spielt, sondern die Musik benutzt mich, um zu erklingen. Erneut wandern meine Finger über die Bünde des Gitarrenhalses, spielen die Akkorde von eben und ich summe die Melodie mit. Meine Lippen formen Worte, wieder und wieder. Ich versinke in der Musik, in der ich eins bin mit der Gitarre – und mit Judith, die mir zulächelt und ihre Lippen synchron zu meinen bewegt.
„Neuer Song?“
Ich fahre zusammen und falle beinahe vom Sofa. Finn steht neben mir und grinst mich an. Wann ist er zurückgekommen?
„Äh, ja, vielleicht“, murmle ich und lege die Gitarre zur Seite.
„Klingt cool“, sagt Finn und fährt sich durchs Haar. „Gibt’s noch was zu essen? Ich hab mega Hunger.“
Erschrocken springe ich auf. Verdammt, über die Gedanken an Judith und die Musik habe ich komplett vergessen, unser Abendessen zu machen. Entschuldigend sehe ich meinen Bruder an.
„Ich mach uns schnell ein paar Nudeln, okay?“
Später sitze ich auf meinem Bett und spiele weiter meinen neuen Song, zu dem ich nun auch einige Textzeilen geschrieben habe. Als Finn seine letzten Hausaufgaben beendet hat und ins Zimmer kommt, lasse ich die Gitarre sinken.
„Willst du schlafen?“
Finn nickt. „Aber spiel ruhig weiter, das stört mich nicht.“
Ich lächle und spiele weiter, während er sich umzieht und schließlich unter seine Decke kriecht. Schon vor Jahren habe ich ihn abends in den Schlaf gespielt.
„Don’t you worry, tonight I’ll watch your sleep“, singe ich leise und klimpere die Akkorde mit.
Über mir im Bett höre ich Finn zufrieden seufzen.
Mama zieht die Nase kraus und schnuppert.
„Sagt bloß, es gibt Germknödel.“
„Erraten“, sage ich und nehme ihr die Jacke ab, während Finn ihr Gepäck ins Wohnzimmer trägt. Ich habe extra bei Peter nach dem Rezept gefragt und mir YouTube-Tutorials angeschaut, um die Knödel gut hinzubekommen.
Mama folgt uns an den bereits gedeckten Tisch und wenige Minuten später schließt sie genüsslich die Augen.
„Wow, das schmeckt wie Urlaub. Danke.“
Ihre Freude und ihr Lob wärmen mich beinahe mehr als die Germknödel, die mir tatsächlich gut gelungen sind. Seit Mama erzählt hat, dass sie früher, wenn sie mit Oma in Österreich im Urlaub war, immer Germknödel gegessen hat, habe ich mir vorgenommen, ihr wenigstens kulinarisch diese Reise zu ermöglichen. Jetzt ist der beste Zeitpunkt dafür. Mama sieht gut aus – also, so gut wie man nach so einer OP halt aussehen kann. Aber sie scheint schmerzfrei und sogar glücklich zu sein.
Sie legt jeweils einen Arm um Finn und mich und zieht uns nah an sich heran. „Ich bin so froh, wieder zu Hause zu sein. Und dass ich euch habe.“
„Wir auch“, antwortet Finn leise. Seine Stimme wackelt bei diesen zwei Worten und er rückt noch ein Stück näher an Mama heran. Mama drückt ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Dass ich euch nichts von meiner Diagnose erzählt habe, war eine bescheuerte Idee. Das tut mir leid“, sagt sie nach einer Weile. „Ab jetzt gibt’s keine Geheimnisse mehr, okay?“
„Okay“, sage ich und wünsche mir, dieser Moment möge nicht vergehen. Es ist ewig her, dass wir drei so eng und vertraut zusammengesessen haben, und es fühlt sich fast wieder wie früher an, als Finn und ich noch klein waren. Beinahe so wie bei Judith und ihrer Familie, schießt es mir durch den Kopf.
Ich zucke unter dem Schmerz zusammen, der mir daraufhin ins Herz sticht, und ich löse mich aus Mamas Umarmung und sammle das Geschirr zusammen. Warum muss ich jetzt wieder an Judith denken? Unsere Familien haben nichts gemeinsam, wie komme ich nur auf diese verrückte Idee?
Während ich in der Küche aufräume und die Teller spüle, findet mein Herz langsam wieder zu einem normalen Rhythmus zurück und auch das mit dem Atmen klappt besser. Ich muss das in den Griff bekommen. Für Mama, für uns.
Nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet habe, gehe ich ins Wohnzimmer zurück, wo Mama und Finn inzwischen auf dem Sofa sitzen.
„Ich hab dich schon so lange nicht mehr Gitarre spielen hören“, sagt Mama. „Magst du uns etwas vorspielen?“
Überrascht sehe ich sie an. Ich kann mich nicht erinnern, wann sie mich das letzte Mal darum gebeten hat, ihr vorzuspielen. In unserer kleinen Wohnung ist es nicht zu überhören, wenn ich Musik mache, weshalb sie es sonst auch gehört hat, selbst wenn ich nicht ausdrücklich für sie gespielt habe.
„Am besten deinen neuen Song“, schlägt Finn vor.
„Du hast einen neuen Song geschrieben?“
Ich zucke die Schultern, versuche es runterzuspielen. Der Song ist noch so neu und eigentlich auch nichts Besonderes. Aber meine Familie sieht mich so erwartungsvoll an, dass ich einlenke, meine Gitarre hole und mich zu ihnen setze.
Im ersten Moment bin ich noch nervös. Seltsam, das bin ich vor Gigs selten, aber vor Mama und Finn ist es was anderes. Aber dann finden meine Finger ganz selbstverständlich in die Akkorde, ich singe die Worte, die ich gestern Abend aufgeschrieben habe und ich werde wieder eins mit den Tönen.
„Wahnsinn. Freddy, das ist das Beste, was du je geschrieben hast.“ In Mamas Augen steht ein feuchter Glanz und sie hat die Arme um die Knie geschlungen, als müsste sie sich daran festhalten.
„Für Judith, oder?“, sagt Finn, es klingt mehr nach einer Feststellung als einer Frage, und augenblicklich werden meine Wangen heiß.
„Wie kommst du darauf?“, versuche ich dennoch jeden Verdacht zu zerschlagen. Aber mein Bruder rollt nur mit den Augen und steht auf.
„Das sieht doch ein Blinder.“
Verdutzt sehe ich ihm hinterher, wie er im Bad verschwindet. Hat er letzte Woche doch mehr in Judiths Zimmer gesehen als ich gedacht habe? Zu meiner Überraschung scheint auch Mama Finns Beobachtung zu teilen. Sie lächelt.
„Hast du es Judith schon vorgespielt?“
Ich schüttle energisch den Kopf. Vermutlich ist es besser, wenn ich diesen Song für mich behalte. Aber meine Mutter ist offenbar der gleichen Meinung wie mein Herz, das sich heftig gegen meinen Verstand wehrt.
„Solltest du. Sie tut dir gut. Und du hast recht, sie ist mehr als nur irgendein Mädchen.“
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