Kapitel 27 - Gut genug?

Freddy

Schon als ich den Proberaum betrete, sehe ich Bens zufriedenes Grinsen. Er lehnt mit seiner Gitarre auf einem der Sessel und macht ein paar Fingerübungen, während seine Mundwinkel sich fast von einem Ohr zum anderen strecken.

„Moin, was hast du für gute Laune?“

Johnny, der auf einem Verstärker hockt, lacht spöttisch auf und schiebt seine Basecap auf dem Kopf von links nach rechts. „Das versuche ich auch schon seit zehn Minuten aus ihm rauszukriegen. Aber der Affe sagt nichts.“

Bens Grinsen wird noch breiter. „Wartet halt, bis die Mädels da sind.“

Johnny mault noch herum, obwohl wir beide wissen, dass das bei Ben nicht zieht. Ich befreie also meine Gitarren aus den jeweiligen Cases und stimme durch. Plötzlich blinkt mein Handy auf, das ich neben mir abgelegt habe, und zeigt eine neue Nachricht in unserem Gruppenchat an.

 

Mädels, wo bleibt ihr? Macht hin!

 

Ich werfe Johnny einen zweifelnden Blick zu. „Ernsthaft?“

Ehe unser Bassist etwas erwidern kann, öffnet sich die Tür und Kris und Joshie betreten den Proberaum.

 

„Hier sind wir, was gibt’s so Dringendes?“, fragt Joshie und gleitet geschmeidig an Johnny vorbei hinters Schlagzeug.

 

Ben lässt die Fingerübungen sein und sieht verheißungsvoll in unsere Runde. „Ein Kollege aus der Musikschule hat mir heute erzählt, dass das Tonstudio übernächstes Wochenende spontan frei geworden ist, und ich hab uns eingetragen.“

 

Klappernd fallen Joshie die Drumsticks aus den Händen. Ich kann mich nicht erinnern, dass das jemals zuvor passiert wäre.

 

„Wow.“ Kristinas Stimme ist kaum mehr als ein Hauchen und ihre Finger krallen sich fest um die Kante des Klavierhockers. So wie meine um den Hals meiner Gitarre. Das ist eine krasse Nachricht. Natürlich haben wir uns in den letzten Wochen nach einer Möglichkeit für gescheite aufnahmen umgesehen, aber trotzdem war das immer noch so weit weg. So theoretisch.

 

Mein Herz schlägt bis zum Hals. „Übernächstes Wochenende“, krächze ich. „So früh?“

 

Ben nickt. „Ich weiß, das ist sehr spontan, aber die Gelegenheit können wir uns einfach nicht entgehen lassen.“

 

„Stimmt“, sagt Johnny, zieht die Kappe vom Kopf und setzt sie gleich darauf wieder auf.

 

Ben sieht uns fragend an. „Könnt ihr euch den Samstag freihalten oder freimachen?“

 

Die Mädels nicken sofort. Johnny überlegt einen Augenblick, nickt dann aber auch. Nun haften alle Blicke auf mir. Ob Sven nach meiner Flucht neulich bereit ist, meinen Dienst zu tauschen? Und selbst wenn, kann ich Mama den ganzen Tag allein lassen? Noch geht es ihr relativ gut, aber ich habe schon vor Monaten aufgehört, mich darauf zu verlassen.

 

Je länger ich zögere, desto dunkler wird Bens Blick, und auch die anderen sehen verunsichert aus. Klar, sie müssen auf mich zählen können. Und ich will sie nicht enttäuschen. Die Musik ist unser Traum. Mein Traum.

 

„Okay“, sage ich. Irgendwie bekomme ich das schon hin.

 

Die anderen sehen mich erleichtert an und Johnny boxt mir freundschaftlich auf den Oberarm. Ben meint, dass wir uns bis dahin möglichst oft zum Proben treffen sollten, am besten täglich, damit wir im Studio schnell vorankommen. Sofort sinkt mir wieder der Mut. Wie soll ich das schaffen? Selbst wenn ich jeden Tag pünktlich Feierabend mache, kann ich Finn nicht die gesamte Hausarbeit überlassen.

 

Zum Glück hat diesmal auch Johnny Bedenken. „Jeden Tag geht nicht. Ich hab von morgen bis Sonntagabend eine Veranstaltung und Dienstag direkt die nächste, da bin ich abends tot.“

 

Ben verzieht das Gesicht, es ist offensichtlich, dass ihm das nicht in den Kram passt, aber natürlich kann er nicht gegen unsere Arbeitszeiten in der Ausbildung argumentieren.

 

„Ich muss auch gucken, wie es meiner Mutter geht und wie viel Unterstützung sie braucht“, sage ich, nachdem ich erst gezögert habe. Leicht fällt es mir noch nicht über die Situation zu Hause zu reden.

 

„Also, wenn es um einkaufen oder kochen geht, das kann ich gern übernehmen“, sagt Kristina sofort.

 

Ich sehe sie überrascht an. „Ehrlich?“

 

„Klar, ich habe in der Regel früher Schulschluss als du.“ Ihr aufrichtiges Lächeln zeigt mir, dass sie es ernst meint, trotzdem zögere ich, ihr Hilfsangebot anzunehmen. Kristina scheint mich zu durchschauen, denn sie sieht mich streng an und schüttelt den Kopf.

 

„Keine Widerrede. Wenn ich durch Einkaufen dazu beitragen kann, dass du zur Probe kommst, mach ich das.“

 

„Und ich putze notfalls auch euer Bad“, fügt Joshie grinsend hinzu.

 

Ich muss lachen. „Darauf komme ich zurück. Danke.“

 

Mir ist ganz warm und leicht zu Mute. In diesem Moment scheint es mir plötzlich lächerlich, dass ich meine Probleme so lang vor der Band geheim gehalten habe. Kris, Joshie, Johnny und Ben verurteilen mich nicht deswegen, und ich brauche mir keine Sorgen zu machen, dass sie zum Jugendamt gehen. Diese Gewissheit lässt mir eine ganze Lawine Steine vom Herzen fallen.

 

Ich rutsche mit meiner Hand den Gitarrenhals entlang. „Vielleicht ist es nicht der beste Zeitpunkt, weil wir üben sollten, aber ich habe einen neuen Song geschrieben“, sage ich.

 

Johnny richtet sich auf. „Lass hören“, fordert er.

 

Kurz schaue ich in die Runde, dann schließe ich die Augen, lege die Finger auf die Saiten und beginne zu spielen, wie schon vor ein paar Tagen, als ich den Song geschrieben habe. Ich bin nicht mehr im Proberaum, sondern stehe auf der Bühne, sehe Judiths Gesicht am Rand des Publikums, nur um kurz darauf neben ihr zu sitzen und ihre warme Hand in meiner zu spüren. Als wir uns langsam näherkommen, ertönen plötzlich ein Schlagzeug und ein Klavier.

 

Verwundert öffne ich die Augen. Ich bin wieder im Proberaum und Joshie und Kris sind an ihren Instrumenten in meinen Song eingestiegen. Johnny sitzt mit offenem Mund da, die Finger auf den Basssaiten, aber er spielt nicht. Ben hat die Augen geschlossen und die Lippen aufeinandergepresst. Gefällt ihm das Lied nicht?

Ich schaue zu Joshie, sie lacht mir zu und ich spiele den letzten Refrain mit etwas mehr Power und deute schließlich mit einer Kopfbewegung das Ende des Songs an. Joshie lässt die Sticks über die Toms fliegen und schlägt zum Abschluss auf das Ride Becken.

 

Ben schüttelt den Kopf, während der Klang langsam verhallt.

 

„That was fucking brilliant!“, sagt er schließlich.

 

Kristina dreht sich auf dem Klavierhocker um und zwirbelt mit den Fingern an ihren Haarspitzen. „Ehrlich mal. Das nächste Mal, wenn ich Judith sehe, werde ich ihr die Füße küssen und ihr einschärfen, dass sie dich niemals verlassen darf.“

 

Obwohl die Vorstellung amüsant ist, sehe ich Kris entsetzt an. „Wer sagt denn, dass es in dem Song um Judith geht?“

 

„Um wen denn sonst?“ Johnny schnaubt und rollt, ebenso wie Joshie und Kris, mit den Augen.

 

„Aber wir sind nicht zusammen.“

 

Wieder schüttelt Ben den Kopf. „Nach dem Song seid ihr es.“

 

Fassungslos starre ich meine Freunde an. Wieso weiß hier eigentlich jeder besser als ich, wie es mit Judith und mir weitergehen soll? Erst Mama und Finn vor ein paar Tagen, jetzt die Band. Bin ich wirklich so gut zu lesen wie ein offenes Buch? Ich sehe auf meine Finger, die immer noch auf den Saiten liegen. Wenn es nur um Gefühle ginge, dann …

 

Kopfschüttelnd sehe ich auf. Um Judiths und meine Beziehung oder Nicht-Beziehung geht es hier nicht.

 

„Also wollt ihr den Song arrangieren?“

 

Joshie sieht mich mit aufgerissenen Augen an. „Scherzfrage?“

 

„Wir müssen“, sagt Johnny.

 

„Und am besten sofort, damit wir vor nächster Woche noch üben können“, fügt Ben hinzu.

 

Kris steht auf, geht zu Ben und legt ihm die Hand auf die Stirn. Dann verzieht sie anerkennend das Gesicht. „Wow, kurz habe ich gedacht, du wärst krank.“

 

Ben schiebt Kristinas Hand weg. „Lass den Scheiß. Ja, ich hatte erst überlegt Run gescheit aufzunehmen. Aber Freddys Song ist besser.“

 

Wow. Einfach wow.

 

Dass Ben so uneingeschränkt meinen Song über seinen eigenen, zugegebenermaßen ziemlich coolen Song, stellt, macht mich sprachlos. Und als die anderen sich kurz darauf dafür aussprechen, auch 31 days im Studio aufzunehmen, bin ich endgültig geflashed.

Draußen vor dem Fleet21 lehne ich mich an die Wand und atme gierig die kalte Luft. Zumindest bis statt der frischen Luft eine Nikotinwolke in meine Nase dringt. Hustend halte ich mir die Hand vor den Mund.

 

„Alles klar?“, fragt Johnny.

 

„Du meinst, abgesehen davon, dass ihr meine Songs gerade in den Himmel gelobt habt und du mir deinen Zigarettenqualm ins Gesicht bläst?“

 

Johnny schnippt die Zigarette weg, was ihm sicher einen Anschiss von Alex einbringen würde, wenn sein Onkel das gesehen hätte. „Sorry“, sagt er und wischt sich die Hände an der Hose ab. „Aber deine Songs sind einfach super. Judith tut dir echt gut.“

 

„Was habt ihr denn alle mit Judith?“, rufe ich.

 

Johnny grinst. „Wir haben gar nichts mit ihr. Aber du.“

 

„Schön wär’s“, erwidere ich und bemerke zu spät, dass ich mich damit verraten habe.

Ausnahmsweise verzichtet Johnny darauf, sich darüber lustig zu machen. Stattdessen sieht er mich ernst an. „Na also, dann halt dich ran. Spiel ihr den Song vor und sie wird gar nicht mehr anders können als dir zu Füßen zu liegen.“

 

„Ach, hör doch auf. Das mit Judith und mir, das kann doch nichts werden.“

 

„Und warum nicht?“

 

Die Kälte der Mauer kriecht mir den Nacken hinunter. Ich lehne einen Fuß gegen die Wand und vergrabe die Hände in den Hosentaschen, wo ich rechts ein Plek finde und es zwischen den Fingern hin und her gleiten lasse.

 

„Du hast es doch gesehen. Mama ist krank, wir kommen gerade so über die Runden, ich habe kaum Zeit für irgendwas. Wir sind ganz unten. Judith ist großartig, aber unerreichbar.“ Fest presse ich Daumen und Zeigefinger um das Plek. „Sie hat etwas Besseres verdient.“

 

Plötzlich steht Johnny dicht vor mir und umklammert meine Schultern. „Red nicht so einen Scheiß. Judith geht’s nicht darum, wie deine Familie ist. Ihr geht’s um dich.“

 

„Du musst es ja wissen.“ Ich weiß selbst nicht, warum ich Johnnys Ermutigung so von mir weise. Er meint es nur gut, und das letzte, was ich will, ist, ihn zu verletzen.

 

„Ja, ich weiß es. So wie sie dich beim Stream angesehen hat, und so aufgelöst wie sie war, als du abgehauen bist …“

 

„Da hast du’s. Vielleicht ist sie gut für mich, aber ich bin nicht gut für sie.“

 

Johnny zuckt hilflos mit den Schultern. Wahrscheinlich ist er mit seinem Latein am Ende, was mich betrifft. Ich nutze den Moment, um meine Gitarren zu nehmen.

 

„Ich muss los.“

 

„Ja, hau halt ab.“ Johnny spricht zu betont locker und ich kenne ihn gut genug, um die leichte Spur von Spott herauszuhören.

 

Kurz bevor ich zu Hause ankomme, erreicht mich eine neue Nachricht.

 

Was machst du Samstag nach der Arbeit? Lust auf einen Trip nach Narnia?  

 

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