Kapitel 28 - Planänderung

Judith

Es gießt in Strömen und ich kann auf meinem Weg zur Haltestelle kaum etwas sehen, aber das stört mich heute nicht. Obwohl ich darüber lachen muss, sobald mir der Gedanke kommt, halte ich daran fest; in meinem Herzen herrscht strahlender Sonnenschein. Ich freue mich auf den Nachmittag mit Freddy, kann es kaum erwarten, ihn zu überraschen. Der Bus in die Innenstadt fährt mir nicht schnell genug. Warum muss er ausgerechnet heute an jeder Milchkanne halten?

Nein, das ist der falsche Gedanke. Vorfreude ist die schönste Freude, korrigiere ich mich und lächle in der stickig feuchten Luft des Busses vor mich hin. Gleich. Noch drei Haltestellen!

Die Regentropfen perlen von meiner Jacke, als ich das ProTone betrete, und ich bleibe auf der Fußmatte im Eingangsbereich stehen, um die Nässe nicht im ganzen Laden zu verteilen. An der Kasse stehen Freddy und sein Chef und stecken die Köpfe zusammen, doch als ich einen kleinen Schritt mache, löse ich eine Klingel aus und die beiden sehen auf.

 

Freddys Mimik wechselt innerhalb von einer Sekunde von überrascht zu freudig und zu Scham.

 

Deute ich das richtig? Warum sollte er sich schämen? Er hat doch zugestimmt, dass ich ihn von der Arbeit abhole. Peinlich kann ihm mein Auftauchen hier also nicht sein.

 

„Hi, Judith“, sagt er mit heiserer Stimme. „Wir brauchen noch ein paar Minuten.“

 

Ich bemühe mich um ein unbeschwertes Lächeln. „Kein Ding, soll ich lieber draußen warten?“

 

„Bei dem Wetter? Willst vor Weihnachten wohl noch krank werden, was?“ Freddys Chef schüttelt den Kopf und zeigt auf einen Hocker in einer Ecke.

 

Vorsichtshalber ziehe ich den Hocker ein Stück von den Instrumenten weg, ehe ich mich setze, während ich versuche, den kitschigen Sonnenschein in meinem Herzen festzuhalten. Gerade schien es noch so leicht. Aber dieser seltsame Blick von Freddy eben verheißt nichts Gutes. Bereut er es am Ende in unsere Verabredung eingewilligt zu haben?

 

Ich schlucke und halte den Blick auf den Hoodie von Freddys Chef gerichtet, auf dessen Rückseite die Tourdaten einer Band gedruckt sind. Irgendwo tief in mir weiß ich, dass meine Überlegung lächerlich ist, ich will auch gar nicht daran denken. Seitdem ich Montag mit Helena bei der Schulleitung war und von den Videos über mich berichtet habe, sollte ich doch wissen, dass ich mir viel zu viele unnötige Gedanken mache. Unsere Direktorin hat die Videos sehr ernst genommen und eine Konferenz mit unseren Stufenleitern einberufen. Sie will der Sache auf den Grund gehen und hat mir die Option offen gestellt, Anzeige zu erstatten. Daran habe ich vorher nicht gedacht und ich bin mir nicht sicher, ob das etwas bringt. Zwar habe ich Kilian in Verdacht, aber beweisen kann ich es nicht, da die Videos von unbekannten Nummern in den Gruppenchats hochgeladen wurden. Ich will einfach nur, dass es vorbei ist.

 

„Hey.“

 

Erschrocken fahre ich zusammen und sehe Freddy vor mir stehen. Sein Blick trägt allerdings wenig dazu bei, mich zu beruhigen. Eher im Gegenteil. Freddy sieht zerknirscht aus und schaut mir nicht in die Augen.

 

„Du, das mit dem Ausflug nach Narnia wird heute nichts“, sagt er leise und mein Herz sinkt irgendwo unter den Hocker, auf dem ich noch immer sitze. Dunkle Regenwolken schieben sich vor den Sonnenschein und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ein Gewitter losbricht.

 

„Mama geht’s nicht so gut und ich muss Finn helfen.“

 

Obwohl es keine schöne Nachricht ist, bin ich beruhigt. Gleichzeitig schäme ich mich über die Erleichterung, die sich in mir ausbreitet. Ich hätte schon viel eher daran denken können, dass etwas mit Freddys Mutter ist.

 

„Das verstehe ich. Ist es in Ordnung für dich, wenn ich mitkomme und helfe?“

 

Jetzt sieht er mich doch an. Überrascht, aber wieder mit einer Spur ehrlicher Freude. „Ehrlich? Es wird nicht spaßig. Mama ist nicht gut drauf und Finn hat wahrscheinlich schlechte Laune, weil er deswegen nicht zum Basketball konnte. Ich muss einkaufen und kochen …“

 

Ich greife nach seiner Hand und streichle mit dem Daumen über seinen Handrücken. „Du musst das nicht allein schaffen. Ich bin zwar keine große Köchin, aber wenn du mir irgendetwas zum Schälen oder Rühren gibst, krieg ich das hin.“

 

Freddy lacht auf. Es ist nur ein sehr kurzes Lachen, aber immerhin ein Lachen.

 

„Okay“, sagt er schließlich und nickt dazu. „Dann lass uns los.“

 

Den Rucksack vollbeladen mit Einkäufen betreten wir eine gute Dreiviertelstunde später die Mietwohnung, in der Freddy mit seiner Mutter und seinem Bruder lebt. Etwas zögerlich hänge ich meine Jacke an die Garderobe, die nicht so mit Jacken und Mänteln überladen ist wie die meiner Familie. So springen mir die vielen Macken und Kratzer im Holzfurnier in den Blick. Spuren, die sich über viele Jahre angesammelt haben müssen, und die für ein Werbefoto sicher nicht taugen, die mir aber gut gefallen.

 

„Ist nicht mehr so gut in Schuss“, murmelt Freddy, der meinen Blick wohl bemerkt hat.

 

„Ich mag Möbel mit Charakter.“

 

Freddy lacht gequält. „Ja, so kann man sich das vielleicht auch schönreden.“ Er stellt den Rucksack in die angrenzende Küche und zieht mich mit sich ins Wohnzimmer. Es ist nicht übermäßig groß, aber mit dem Sofa und dem Esstisch gemütlich eingerichtet. Finn sitzt mit Kopfhörern auf dem Sofa und sieht fern. Als er uns bemerkt, nimmt er die Kopfhörer ab.

 

„Hallo Finn.“

 

Freddys Bruder schenkt mir etwas, das als Lächeln durchgehen kann, Freddy selbst muss sich mit einem sehr leisen „Hi“ zufriedengeben. Freddy hat nicht übertrieben, was die Stimmung seines Bruders angeht. Gute Laune sieht echt anders aus.

 

„Alles klar?“, fragt Freddy.

 

Finn zuckt nur unwillig mit den Schultern. „Mama hat sich gerade nochmal hingelegt.“

 

„Wie lief das Spiel?“

 

„Gewonnen. Die kommen also gut ohne mich aus.“

 

Ich muss heftig schlucken, um nicht loszuheulen. Finn schafft es nicht, die Verbitterung in seiner Stimme zu verbergen, obwohl er sichtlich bemüht ist, seine Antwort auf Freddys Frage locker klingen zu lassen. Es ist so unfair, dass Finn seiner Mutter zuliebe auf sein Hobby verzichten muss. Ich werde Freddy nachher vorschlagen, mich beim nächsten Mal zu kümmern, wenn er arbeiten muss und Finn ein Spiel hat, auch wenn ich schon ahne, dass er ablehnen wird.

 

„Sollen wir den Sieg deiner Mannschaft vielleicht mit ein paar Burgern feiern?“, schlage ich vor.

 

Nun schleicht sich ein ehrliches Lächeln auf Finns Gesicht, das auch seine Augen erreicht. Es war also eine gute Idee, Freddy zu überzeugen, für Finns Lieblingsessen einzukaufen.

 

„Cool“, ist dennoch sein vorerst einziger Kommentar, ehe er sich wieder dem Fernseher und der dort laufenden Doku zuwendet.

 

„Sorry, dass du das alles so abbekommst. Finn ist nicht immer so mies drauf“, sagt Freddy, als wir in der Küche die Einkäufe aus dem Rucksack ziehen.

 

„Hör auf, dich für alles zu entschuldigen. Niemand kann ständig gute Laune haben. Du solltest Elias mal erleben, wenn der seine Anfälle bekommt …“

 

„Echt? Der sah so harmlos aus.“

 

„Tarnung ist alles“, erwidere ich lachend und nehme von Freddy Tomaten, Brett und Messer entgegen.

 

„Schmale Scheiben“, sagt er nur.

 

Kurz darauf sitzen wir, jeder mit einem Burger vor sich, am Esstisch. Finn scheint fürs Erste wieder versöhnt und isst genüsslich. Freddys Mutter, die zwar wieder aufgestanden, aber noch sichtlich müde ist, scheint gegen jeden Bissen zu kämpfen. Als wir alle schon fertig sind, liegt vor ihr noch immer gut die Hälfte ihres Burgers und sie schiebt Finn ihren Teller hin.

 

„Ich schaff nicht mehr. Tut mir leid, ihr habt wirklich gut gekocht.“

 

In Finns Gesicht spiegeln sich Freude über den zusätzlichen Burger, und Sorge über die Appetitlosigkeit seiner Mutter. Schließlich zieht er den Teller zu sich heran.

 

„Brauchst du etwas anderes? Soll ich dir einen Tee machen?“, fragt Freddy, doch seine Mutter schüttelt den Kopf.

 

„Danke, ich geh gleich wieder ins Bett.“

 

Sie lächelt dieses halbe Lächeln, das ich auch bei Freddy schon oft beobachtet habe, und steht langsam auf.

 

Ein Schatten legt sich auf Freddys Gesicht, seine Kiefer mahlen gegeneinander und ich fühle mich so hilflos wie schon lang nicht mehr. Wenn ich im Krankenhaus mit den Patientinnen spreche, finde ich meist verständnisvolle Worte, weil es nachvollziehbar ist, dass es in der Klinik nicht immer rosig ist und das vielen Leuten aufs Gemüt schlägt. Aber diese Wohnung hier ist der Alltag, er sollte Rückzugsort sein, ein Platz, wo Freddy und seine Familie zur Ruhe kommen können. Die Sorgen lassen sich jedoch nicht aussperren, das wird mir in diesem Moment glasklar. Freddy schleppt sie mit sich herum, und egal, was ich tu, ich kann sie ihm nicht nehmen.

 

„Habt ihr noch was vor?“, fragt Finn und durchbricht unser ratloses Schweigen.

 

Freddy und ich schütteln gleichzeitig die Köpfe. Ich, weil ich nicht darüber nachgedacht habe, was wir hier bei ihm zu Hause machen könnten, und er? Sein Blick ist noch immer dunkel und verschlossen.

 

„Und du?“, fragt er.

 

Finn schaut aus dem Fenster. „Es sieht gerade halbwegs trocken aus. Ich könnte noch eine kurze Runde joggen.“

 

Freddys Miene hellt sich etwas auf. „Mach das, wir räumen auf.“

 

Erleichtert darüber, nun doch etwas tun zu können, springe ich auf, staple die Teller und trage sie in die Küche.

 

„Ich meinte eigentlich nicht, dass du jetzt alles machst“, sagt Freddy, der mir mit der leeren Wasserflasche folgt.

 

„Mach ich ja nicht, den Tisch kannst du abwischen“, erwidere ich und werfe Freddy einen Lappen zu, der an der Spüle hängt.

 

„Was hattest du eigentlich für einen Narnia-Trip geplant?“, fragt er, als er wieder zurückkommt.

 

Kurz zögere ich, ob ich ihm von meiner Idee erzählen soll oder die Überraschung fürs nächste Mal aufheben soll. Aber Freddys neugierigem Hundeblick kann ich nicht standhalten.

 

„Ich wollte dich ins Miniatur-Wunderland einladen. Das ist zwar nicht direkt Narnia, aber auch irgendwie eine ganz besondere Welt.“ Mit angehaltenem Atem warte ich Freddys Reaktion ab, denn auf einmal bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob meine Idee so gut war. Vielleicht findet er das Wunderland kindisch?

 

Aber Freddy lehnt nur am Kühlschrank und lächelt zum ersten Mal an diesem Tag mit beiden Augen. „Das ist eine schöne Idee. Ich wollte da immer schon einmal hin.“

 

Erleichtert mache ich einen Schritt auf ihn zu. „Dann holen wir das bald nach.“

 

Er nickt. „Das wäre schön.“ Mit gesenktem Blick kaut er auf seiner Unterlippe und vergräbt die Hände tief in seinen Hosentaschen, und ich stehe da und kann nicht aufhören, ihn anzusehen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, und alles, was ich tun müsste, um diese Spannung zu lösen, wäre, meine Hand auszustrecken und Freddy zu berühren.

 

Da atmet er geräuschvoll und tief ein und zieht sein Smartphone aus der Tasche und wischt über das Display.

 

„Darf ich dich so lange in meine Welt entführen?“

 

Ich will antworten, doch er legt sanft einen Finger auf die Lippen und das Handy auf die Küchenanrichte. Kurz darauf erklingt eine E-Gitarre, die kurz darauf von einem Bass unterstützt wird.

 

Well, here we are again

Back on stage, another gig.

The cheers are killing all my pain

For this moment I may leave the brig.

Waving arms and dancing lights

What if I lose the ground?

Just for this moment blind my eyes

Tomorrow I’ll again be bound.

 

A smile beyond all borders

Shy like the sun behind a cloud

I find my peace when I see

The girl in the crowd

 

Atemlos lausche ich jeder Zeile, jedem Wort und jedem Ton, während mir abwechselnd heiße und kalte Schauer über die Haut jagen. Ich kann kaum glauben, was ich da höre. Kann es sein, dass Freddy im Sommer bei dem Konzert im Jugendzentrum wirklich nur für mich gespielt hat? Ich hätte geschworen, mir das nur eingeredet zu haben, so wie man sich halt Dinge einredet, wenn man sich verloren fühlt. Aber dieser Song spricht eine ganz andere Sprache.

 

You are more than just a girl in the crowd

 

Bei der letzten Zeile kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten und noch ehe der letzte Ton aus dem Handylautsprecher verklungen ist, überwinde ich den Abstand zwischen Freddy und mir und ziehe ihn in eine feste Umarmung.

 

„Das ist wunderschön“, bringe ich schließlich hervor.

 

Sanft fährt er mir mit dem Zeigefinger über die Wange und fängt eine meiner Tränen auf. „Ich wollte es dir schon so lang sagen“, sagt er leise. Es klingt, als würde er sich entschuldigen wollen, dabei hat er gar nichts falsch gemacht.

 

„Jetzt ist perfekt“, erwidere ich heiser und werde fast wahnsinnig vor Hitze.

 

Freddys Augen leuchten glasig und er neigt ein Stück seinen Kopf.

 

„Hi, ich bin wieder da.“

 

Wie vom Blitz getroffen fahren wir auseinander und ich würde am liebsten gegen die Kühlschranktür treten. Hat sich Freddys Bruder gegen uns verschworen? Wie kann es denn sein, dass er immer im unpassendsten Moment auftaucht? Es tröstet kaum, dass Freddy mindestens so frustriert aussieht wie ich mich fühle. Finn schaut kurz in die Küche, die Information, dass er duschen geht, ertönt schon wieder aus dem Flur. Das würde Freddy und mir neue Zeit schenken, aber jetzt ist der Moment vorbei.

Seufzend steckt Freddy das Smartphone zurück in seine Hosentasche und stellt die Pfanne, in der wir die Burger gebraten haben, in die Spüle.

 

„Ich sollte mich dann vielleicht auch langsam auf den Weg machen.“

 

„Ich bring dich zur Haltestelle“, sagt er sofort und so entschieden, dass mir gar kein Möglichkeit bleibt zu protestieren, was ich aber auch gar nicht will. Allein der Gedanke, noch ein paar Minuten mehr mit Freddy verbringen zu können, lässt mein Herz Purzelbäume schlagen.

 

Freddy gibt Finn Bescheid, dann verlässt er mit mir die Wohnung. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, die Akkorde und Zeilen aus dem Song hängen noch in meinem Kopf und passen viel besser zu dem, was ich fühle, als alles, was ich formulieren könnte.

 

„Der Song ist der beste, den du geschrieben hast“, sage ich schließlich, auch wenn es nicht einmal im Ansatz beschreibt, wie großartig ich ihn finde.

 

Wir befinden uns genau in der Mitte zwischen zwei Straßenlaternen, sodass ich im Halbdunkel nur Schatten auf Freddys Gesicht sehe. Aber an der Art wie er atmet und kurz darauf spricht erkenne ich sein Lächeln.

 

„Danke, das haben die anderen auch gesagt. Wir nehmen es nächste Woche im Studio auf.“

 

„Noch mal? Ihr habt doch schon eine Aufnahme“, frage ich, während wir nebeneinander die Treppen zur U-Bahn hinunterlaufen.

 

„Das war nur ein Mitschnitt von der Probe, ein Demo“, erklärt Freddy lachend.

 

Der Bahnsteig ist fast leer, nur am anderen Ende stehen zwei Frauen. Sie sind mit sich selbst beschäftigt und außerdem unbeteiligt genug, und so finde ich den Mut, nach Freddys Händen zu greifen. Vorsichtig umschließe ich seine Finger und sehe ihm in die Augen.

 

„Ich fand das sehr überzeugend“, sage ich leise.

 

Und während ein scharfer Wind aus dem Tunnel an unseren Haaren zerrt und uns das Herannahen der U-Bahn ankündigt, drücke ich meine Lippen sanft auf seine.

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