Kapitel 29 - Schlaflos im Studio

Freddy

You’re more than just a girl in the crowd.

 

Ich warte einen Augenblick, ehe ich vom Mikro zurücktrete. Bens Kollege Alfred nickt und zeigt mir einen Daumen hoch. Erleichtert nehme ich die Kopfhörer ab. Es ist merkwürdig, meinen Song zu singen, ohne dabei die Gitarre in der Hand zu haben, dabei ist das jetzt schon der dritte Take.

„Das war gut“, sagt Alfred, als ich aus dem Aufnahmeraum zu ihm und den anderen rüberkomme. „Willst du’s hören?“

Ich schüttle den Kopf. Es ist später Nachmittag und wir sind seit heute Morgen im Studio, ich bin einfach nur fertig. Wenn ich mir jetzt meinen Gesang jetzt anhöre, bekomme ich bestenfalls sowieso nichts mit. Im schlimmeren Fall finde ich unter Garantie etwas, das mir nicht gefällt, was bedeuten würde, dass ich nochmal singen müsste, und dazu fehlt mir die Kraft. Ich lasse mich neben Joshie auf das letzte freie Stück Sofa fallen und ziehe die Mate-Flasche aus meinem Rucksack, nur um festzustellen, dass sie leer ist. Verdammt.

 

„Hier.“ Johnny reicht mir seine Cola-Flasche. Zwar kann ich Cola nicht ausstehen, aber in diesem Moment ist sie besser als nichts.

 

„Bitte sagt mir, dass ich heute nichts mehr machen muss“,

 

sage ich und lege den Kopf auf der Sofakante in den Nacken.

 

Alfred grinst. „Aus versicherungstechnischen Gründen muss ich dich bitten, noch ein letztes Mal aufzustehen und das Studio und das Gebäude zu verlassen, danach kannst du tun oder auch lassen, was du möchtest.“

 

Haha, denke ich müde und warte darauf, dass die Cola ihre Wirkung zeigt, während Alfred Ben nach nebenan schickt, um die zweite Stimme einzusingen.

 

Plötzlich bekomme ich einen sanften Schlag aufs Knie, aber ich bin sogar zu müde, um ernsthaft zu erschrecken. Träge öffne ich die Augen.

„Du warst richtig gut“, sagt Joshie.

 

„Ja, nur das Fis in der Bridge war ein bisschen zu tief“, fügt Kris leise hinzu.

 

Ich verdrehe die Augen. „Ja, jetzt wo du es sagst …“ Ich habe keine Ahnung, wo in dem Song ein Fis vorkommt und in diesem Moment ist es mir auch herzlich egal. Aber für einen ironischen Tonfall bin ich noch nicht zu müde und Kris lächelt versöhnlich.

 

„Passt schon, das kann man sicherlich ausbügeln“, sagt sie.

 

„Oder es hört außer dir eh keiner“, erwidert Johnny.

 

Alfred dreht sich zu uns um und legt den Finger auf die Lippen. Zwar besteht keine Gefahr, dass unser Gespräch auf der Aufnahme landet, aber Alfred scheint über ein mindestens so feines Gehör zu verfügen wie Kristina, und hört uns trotz der Kopfhörer auf seinen Ohren.

 

Wir verfallen also wieder in Schweigen, was mir ohnehin lieber ist. Nie hätte ich gedacht, dass es so anstrengend sein könnte, im Studio Songs aufzunehmen. Dieses Rumhängen und Warten, dass jeder einzelne seine Parts eingespielt hat, nur um dann auf Kommando wieder hellwach zu sein, weil man selbst dran ist, macht müde. Da würde ich lieber drei Gigs hintereinander spielen, da ist man wenigstens die ganze Zeit in Aktion.

 

Als Ben wieder zu uns stößt, schlagen wir mit den Händen ein und machen uns über die restlichen Wraps her, die Joshie vorbereitet hat. Alfred bekommt den letzten. Er wischt sich einen Krümel aus dem Mundwinkel und sieht sehr zufrieden aus.

 

„So, zwei Songs sind im Kasten“, sagt er.

 

„Glückwunsch, ihr habt euch gut geschlagen, dafür, dass ihr das erste Mal im Studio seid.“

 

Johnny verzieht das Gesicht zu einer zweifelnden Grimasse. „Das klingt so wie, da war schon viel Schönes dabei, aber …“

 

Alfred lacht. „Sorry, ich meinte das total ernst. Die Aufnahmen sind sehr gut und mit dem Mastering wird’s perfekt.“

 

Ben schnippt mit den Fingern und streckt gleich darauf den Zeigefinger aus. „Richtig. Hat jemand von euch Bock, mit Alfred und mir zusammen zu mastern?“

 

Johnny hebt abwehrend die Hände. „Ich bin da raus, aber du genießt mein vollstes Vertrauen“, sagt er grinsend.

 

Bens Blick gleitet über Johnny zu mir, aber ich schüttle nur bedauernd den Kopf. Ich habe richtig Bock, zu lernen, wie man Songs richtig abmischt, aber dieses Projekt muss ich auf einen anderen Zeitpunkt verlegen. In den letzten Tagen habe ich schon mehr Zeit als sonst für die Band investiert, Zeit, die mir Spaß gemacht und gutgetan hat. Aber jetzt muss ich mich wieder der Realität Zuhause stellen. Obwohl die vergangenen Tage eher bescheiden waren, hat Mama mich heute Morgen überredet ins Studio zu gehen. Wie immer hatte sie dabei das halbe Lächeln im Gesicht, aber ihre Tonfall war entschlossener als sonst.

 

Ben klatscht in die Hände und reißt mich damit aus meinen Gedanken. „Cool, dann machen wir das.“

 

Ich habe keine Ahnung, was er meint, aber da er das wir betont und dabei Kristina ansieht, fühle ich mich nicht angesprochen. Reicht ja, wenn die beiden sich verstehen.

„Ich habe übrigens mit Alex gesprochen, wir könnten im Fleet21 ein Video drehen“, sagt Johnny und hat sofort unsere Aufmerksamkeit. Sogar ich fühle mich mit einem Schlag viel wacher. Dass Johnny, der sich sonst eher mit Vorschlägen zurückhält, nun mit dieser Idee um die Ecke kommt, überrascht und freut mich zugleich. Er stellt seine Talente viel zu oft unter den Scheffel und überlässt Ben oder mir das Feld, dabei hätte er das gar nicht nötig.

 

„Hast du schon eine Idee?“, frage ich.

 

Johnny schiebt sein Basecap hin und her und legt den Kopf schief. „Da wir alle nicht wahnsinnig viel Zeit haben, um tausend verschiedene Schauplätze zu bespielen, sollten wir es einfach halten“, fängt er an, und wir können ihm nur nickend zustimmen. Johnny macht eine Pause und sieht dann mich an. „Girl in the crowd passt gut zu einem Live-Setting. Wir könnten einfach das nachstellen, worüber du singst.“

 

„Verblüffend einfach“, sagt Kristina und grinst.

 

„Gefällt mir“, fügt Joshie hinzu.

 

Johnnys kurze Beschreibung hat schon gereicht, um mir Bilder in den Kopf zu setzen und ich kann den Film schon genau vor mir sehen. Wir auf der Bühne, ein Publikum und dahinter Judith, die zaghaft lächelt und schließlich mit den anderen tanzt. Ob sie wohl Lust hat, beim Videodreh mitzumachen und sich selbst zu spielen?

 

Ben scheint ähnliche Gedanken zu haben wie ich, denn seine Augen leuchten und kurz darauf rattert er einen Plot herunter, inklusive Kameraeinstellung und Schnitt, als ob er ein Drehbuch vor sich liegen hätte. Das entspricht zwar so ziemlich dem, was auch mir durch den Kopf gegangen ist, aber ich hätte es niemals so ausdrücken können.

 

Während wir unsere Instrumente zusammenpacken, überlegen wir bereits, wen wir im Publikum dabeihaben wollen, woher wir eine gute Kamera bekommen und wann wir drehen sollen. Alfred unterbricht uns lachend.

 

„Mein Tipp; dreht erst, wenn ihr den Song fertig abgemischt habt. Sonst spielt ihr live am Ende schneller und dann wird es schwierig Ton und Bild übereinander zu legen.“

 

„Na, dann müssen wir uns wohl ranhalten, Ben“, erwidert Kris unbekümmert.

 

„Ich frage Judith trotzdem schon einmal, ob sie mitspielen würde, wenn’s für euch okay ist“, sage ich. Je genauer ich über unsere Videopläne nachdenke, desto weniger kann ich mir vorstellen, jemand anderes für die Rolle des Mädchens aus der Menge zu besetzen. Klar, könnte ich mir Mühe geben, eine andere nett anzulächeln, aber es fühlt sich schon jetzt falsch an.

 

Zum Glück sind die anderen sofort begeistert und widersprechen nicht. Nun bin ich wieder hellwach und ich beeile mich noch mehr, meine Gitarren zu verpacken, schließlich hat Judith versprochen, mich abzuholen. Wir werden nicht mehr als den Weg von der Musikschule bis zu mir gemeinsam haben, aber ich kann es kaum erwarten, ihr von unserer Idee zu erzählen.

 

Wie auf ihr Stichwort ploppt auf meinem Handy eine neue Nachricht auf.

 

Wo bleibst du? Wird langsam kalt draußen

 

Hastig tippe ich meine Antwort. Warum bist du denn nicht reingekommen? Bin sofort da.

 

Zwei Minuten später stehe ich vor der Tür, wo Judith ungeduldig von einem Bein auf das andere trippelt. Ich lehne die Gitarre gegen die Hauswand, schließe Judith direkt in eine enge Umarmung und küsse sie. Es fühlt sich noch immer so unwirklich an. Seit unserem ersten Kuss, mit dem sie mich überrascht hat, haben wir uns nur einmal kurz wiedergesehen, als sie mich auf der Arbeit besucht hat. Aber vor Sven war küssen natürlich nicht drin, auch wenn alles in mir danach geschrien hat. Jetzt hält uns nichts mehr zurück. Ihre warmen Lippen umschließen meine und als unsere Zungenspitzen sich sanft berühren, schießt mir Adrenalin, Endorphin, Dopamin – egal, was es ist – durch den ganzen Körper. Kann dieser Moment bitte nie enden?

 

Judith fährt mit den Fingerspitzen durch den Haaransatz in meinem Nacken und löst damit einen angenehmen Schauer auf meiner Haut aus. Ihr Herz schlägt gegen meine Brust und ich will sie gerade noch enger an mich ziehen, obwohl kaum noch ein Blatt zwischen uns passt, als sie ihre Lippen von meinen löst.

 

„Du hast mir gefehlt“, flüstert sie. „Ist das verrückt?“

 

„Nein“, antworte ich ebenso leise und frage mich im selben Moment, ob es verrückt ist, mich darüber zu freuen, dass es ihr genauso geht, wie mir. „Es ist schön, dass du da bist.“

 

Sie drückt sich noch einmal an mich, dann schnappt sie sich meine Gitarre und zieht mich mit der anderen Hand mit sich.

 

„Komm, mein Rockstar, erzähl mir, wie eure Aufnahmen gelaufen sind.“

 

Lachend folge ich ihr und berichte von unserem Tag im Studio. Judith hört aufmerksam zu, stellt ein paar Fragen, wenn ich mich zu sehr in technischen Begriffen verliere, und ist, als wir schließlich aus der U-Bahn steigen, genauso gespannt auf die fertige Aufnahme wie ich.

 

„Ihr werdet die Wettbewerbs-Jury bestimmt überzeugen“, sagt sie mit so viel Zuversicht in der Stimme, dass ich nicht anders kann, als ihr zu glauben.

 

„Zusammen mit dem Video auf jeden Fall“, erwidere ich, während wir die Treppe nach oben steigen, wo uns ein frischer Wind empfängt. Judith zuckt neben mir leicht zusammen.

 

„Ist dir kalt?“, frage ich besorgt und sogleich regt sich schlechtes Gewissen in mir, weil sie meinetwegen heute schon einmal gefroren hat.

 

„Schon okay“, sagt Judith schnell. „Was für ein Video?“

 

Rasch, weil wir meinem Zuhause immer näherkommen, erkläre ich ihr Johnnys Idee, und bin schon wieder so drin im Thema, dass ich erst spät merke, wie Judith neben mir immer langsamer wird. Und ist sie wirklich angespannter oder bilde ich mir das ein? Ist ihr doch kälter als sie zugeben will? Ich mache wieder einen Schritt auf sie zu und nehme sie in den Arm, um sie zu wärmen.  

 

„Würdest du mitspielen wollen? You are the girl in the crowd.“

 

Judith streckt den Rücken durch und entzieht sich ruckartig meiner Umarmung. Mit weit aufgerissenen Augen, ansonsten aber starrer Miene, sieht sie mich an und schüttelt den Kopf, während sie laut atmet.

 

„Nein“, keucht sie.

 

Verwundert über ihre heftige Abwehrreaktion strecke ich meine Hand aus und mache das Falscheste, was ich nur tun kann; ich gehe wieder auf sie zu. Wie ein verschrecktes Reh weicht sie zurück.

 

„Judith, was ist los?“, frage ich, in der bangen Hoffnung, einen beruhigenden Tonfall zu treffen. Warum ist sie mit einem Mal so verändert?

 

Judith drückt ihre Handflächen Richtung Erde, als ob sie die Luft wegschieben will. „Sorry“, sagt sie, seltsam beherrscht, und wiederholt gleich danach ihr Nein.

 

„Wie…“, fange ich an, doch Judith unterbricht mich kopfschüttelnd. „Tut mir leid.“

Mit einem entschuldigenden Blick wendet sie sich hastig um und läuft zurück in den U-Bahn-Schacht.

 

Ich bin viel zu überrumpelt, um sofort zu reagieren, und Judith viel zu schnell. Als ich endlich mein Gitarrencase aufgehoben habe und ihr hinterherlaufe, ist sie schon viel zu weit weg und ich kann nur noch zusehen, wie sie in die nächste Bahn springt und davonfährt.

 

„Fuck“, presse ich hervor. Was habe ich nur getan?

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