Kapitel 30 - Puderzuckermut

Judith

Kaum klingelt es zur Pause, springe ich auch schon auf und verlasse fluchtartig den Klassenraum. Ich bin tatsächlich auf der Flucht. Haben meine Kurskameradinnen und Kameraden bislang hauptsächlich ignoriert, werfen sie mir seit neuestem eiskalte Blicke zu. Seit ich mit Helena bei der Schulleitung war und die Direktorin schulinterne Ermittlungen eingeleitet hat. Ich weiß, dass ich mir nichts vorzuwerfen habe, aber das macht es nicht leichter, die Blicke auszuhalten.

Weder Kilian, noch Melanie, noch sonst irgendjemand hat seitdem auch nur ein Wort mit mir gewechselt, aber wenn sie mit ihren Augen töten könnten, läge ich schon längst unter der Erde. Und immer wieder erwische ich mich bei dem Gedanken, dass das allemal besser wäre, als diese stumme Verachtung mit ansehen zu müssen, und mich zu fragen, wann sie doch wieder auf mich losgehen. 

Ich eile nach draußen auf den Schulhof und erblicke Helena, die vom Sportplatz herüberkommt. Mein Herz wird ein Stück leichter und ich will schon auf meine beste Freundin zulaufen, als ich sehe, dass Jens ihr nachläuft und sie anspricht.

Noch sind wir zu weit voneinander entfernt, sodass ich nicht verstehen kann, worüber sie reden, aber Helena bleibt abrupt stehen und sieht Jens verwundert an. Langsam gehe ich näher auf die beiden zu.

 

„… ich hör zum ersten Mal davon“, sagt Helena.

 

Schon aus vier Metern Entfernung kann ich Jens genervt stöhnen hören. „Das ist seit Wochen Thema. Echt mal, seit du in keiner Gruppe mehr bist, bekommst du echt nichts mehr mit.“

 

Jens hat mich bemerkt und wirft mir einen eisigen Blick zu, unter dem ich zusammenzucke und abrupt stehen bleibe.

 

„Man könnte ja auch außerhalb von Gruppenchats mit mir reden, wenn dir das zu schwierig ist, kann ich dir nicht helfen.“

 

Jetzt habe ich keine Schwierigkeiten, Helena zu verstehen, trotz der vier Meter Abstand, so laut ist sie geworden. Sie schüttelt den Kopf, rückt den Riemen ihrer Sporttasche auf ihrer Schulter zurecht und lässt Jens einfach stehen. Und obwohl ich mich seit zwei Stunden danach gesehnt habe, sie zu sehen, die eine Person, die mir in meiner Stufe freundlich gesinnt ist, kneift mich nun auch schlechtes Gewissen, als sie auf mich zukommt. Was auch immer Jens von ihr wollte, Helena hat meinetwegen Stress mit ihm. Nur wegen mir ist sie aus den Chatgruppen ausgetreten.

 

„Hey“, sagt sie und umarmt mich.

 

„Hey“, antworte ich, ohne dass es mir gelingt, besonders überzeugt oder gar unbeschwert zu klingen. „Was war los?“

 

„Offenbar ist heute Abend eine allgemeine Weihnachtsmarkt-Tour angesagt“, sagt Helena und zuckt für meine Begriffe etwas zu übertrieben mit den Schultern, als dass ich ihr die Unbeschwertheit abnehmen würde. Es verletzt sie, dass sie ausgeschlossen ist, und meine Brust zieht sich noch ein Stück mehr zusammen.

 

„Tut mir leid, dass du meinetwegen außen vor bist.“

 

Helena hat eben ihre Wasserflasche hervorgezogen und sie an die Lippen gesetzt, lässt sie nun aber wieder sinken und sieht mich ernst an. „Hey, es war meine Entscheidung, aus den Gruppen auszutreten. Wenn Jens oder die anderen ernsthaft Interesse daran hätten, mich dabei zu haben, wären sie auf die Idee gekommen, so mit mir zu reden.“

 

Ihre Argumentation ist logisch und auf reiner Vernunftebene gebe ich ihr recht, mein Herz kommt allerdings noch nicht mit.

 

„Trotzdem“, sage ich, „es reicht ja, dass sie es auf mich abgesehen haben. Dass du es jetzt auch abbekommst, ist nicht fair.“

 

Helena trinkt endlich einen Schluck, sieht mich herausfordernd an und grinst. „Wer hat dir gesagt, dass das Leben fair ist.“

 

Es ist dieser spöttisch-sarkastische Tonfall, der mich nun doch zum Lachen bringt und mich ein kleines bisschen mit der Situation versöhnt.

„Wir könnten einfach unser eigenes Weihnachtsprogramm machen. Morgen Nachmittag ist Adventsfeier im Fleet21, hast du Lust, mitzukommen?“

 

„Morgen geht es leider nicht, ich muss noch das Bio-Referat vorbereiten. Aber was hältst du von ein paar Zimtschnecken vor dem Training am Freitag?“

 

Meine beste Freundin lächelt gewinnend, dabei war ich schon bei dem Wort Zimtschnecken überzeugt.

 

 

Schon in der Tür zum Jugendzentrum schlägt mir der Geruch von frischen Waffeln, Puderzucker und Weihnachtsgewürzen entgegen und aus dem großen Saal am Ende des Flurs dringt lautes Stimmengewirr.

 

Ich folge zwei ungefähr dreizehnjährigen Mädchen, die gerade aus dem Waschraum kommen, und sehe mich im Saal um. Um die aufgebauten Tische, an denen gebastelt, gespielt und Kekse verziert werden, haben sich schon einige Leute versammelt und reden so angeregt miteinander, dass ich erst nach einigen Sekunden die Weihnachtsmusik höre, die im Hintergrund aus den Boxen dringt. Meinen Bruder bemerke ich jedoch sofort. Er steht hinter einem Tisch, auf dem gleich drei Waffeleisen aufgereiht sind, die er routiniert bedient. Ich muss grinsen. Wenn Mama und Ruth das wüssten! Zuhause macht Samuel um jede Küchenarbeit einen weiten Bogen und behauptet, er habe dafür kein Talent. Die beiden Mädchen, die in diesem Moment jeweils eine mit Schokosoße und Puderzucker belegte Waffel von ihm entgegennehmen, scheinen das jedoch anders zu sehen.

 

„Oh, geil. Ich glaube, ich esse heute nichts anderes mehr“, sagt die eine, die andere hat den Mund bereits zu voll, um etwas zu erwidern.

 

Grinsend trete ich hinzu. „Du scheinst ja ganz neue Talente zu entwickeln“, sage ich statt einer Begrüßung. „Bekomme ich auch eine Waffel?“

 

Samuels Lächeln wirkt etwas gequält. „Mit einem Euro bist du dabei.“

 

Ich werfe eine Münze in die Plastikdose auf dem Tisch und mein Bruder reicht mir eine Waffel auf einer Serviette. „Soße und Puderzucker kannst du dir selbst nehmen“, sagt er mit einem Kopfnicken Richtung Tischende, wo verschiedene Tuben und Dosen stehen.

 

„Und wehe, du sagst Mama was“, flüstert er mir zu, während ich großzügig Puderzucker auf meiner Waffel verteile.

 

Ich öffne schon den Mund, um ihm eine gepfefferte Antwort zu geben, als Kristina neben mir auftaucht.

 

„Hi Judith!“

 

Ich strecke die Hand ab, auf der ich die Waffel balanciere, und erwidere mit dem anderen Arm Kristinas herzliche Umarmung. Mit Freddy bin ich verabredet, aber er wird erst nach seinem Feierabend kommen. Es ist schön, neben meinem Bruder ein weiteres vertrautes Gesicht zu sehen. Kristina lässt sich von Samuel ebenfalls eine Waffel geben, gibt eine große Portion Soße und Streusel darauf, und lädt mich mit einem fragenden Blick ein, ihr zu einem noch freien Tisch zu folgen.

 

„Wie läuft’s bei dir?“, frage ich.

 

„Ganz gut. Wobei es schon ein bisschen seltsam ist, dass jetzt die letzten Weihnachtsferien anstehen.“

 

Wie recht sie hat.

 

Nach dem Abi wird die Aufteilung des Jahres anders für uns sein. In den letzten Monaten habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht, sondern nur darauf gewartet, dass die Schulzeit endlich hinter mir liegt. Als ich auf meine Hände sehe, stelle ich überrascht fest, dass ich die einzelnen Waffelherzen auseinandergerupft habe. Ich sollte die Unterhaltung besser fortsetzen, statt hier zu sitzen und zu grübeln.

 

„Wirst du Musik studieren? Freddy hat so etwas angedeutet.“

 

Kristina zuckt mit den Schultern. „Ja, das wäre eine Überlegung. Ich habe sogar schon für Aufnahmeprüfungen geübt.“

 

Sie macht eine Pause und schiebt sich gedankenverloren ein Stück Waffel in den Mund. Das sieht verdächtig nach einem Aber aus.

 

„Die Branche ist hart, und die Chance mit klassischem Klavier den Lebensunterhalt zu bestreiten eher gering. Also wahrscheinlich gehe ich doch eher Richtung Wirtschaft.“

 

Beinahe verschlucke ich mich an meiner Waffel. Ich huste, atme Puderzucker ein und muss noch mehr husten. Wirtschaft ist ja mal das krasse Gegenteil zu Musik. Das bisschen Wirtschaft, das wir in der Schule gehabt haben, kam mir meistens ziemlich trocken vor, aber vielleicht lag das auch am Lehrer. Kristina wird sich sicher etwas dabei gedacht haben, doch ehe ich sie danach fragen kann, schüttelt sie den Kopf und sieht mich neugierig an.

 

„A propos Musik. Hat Freddy schon mit dir wegen unseres Musikvideos gesprochen?“

 

Der Rest der Waffel rutscht mir aus der Hand und klatscht auf den Tisch.

 

Mein Herz schlägt so schnell wie nach zwanzig Minuten Zirkeltraining und in meinem Kopf jagen Wortfetzen einander im Kreis, ohne ein Ziel zu finden.

 

Ich feier das so. Das musst du sehen. Würdest du mitspielen wollen? Hallejudith knutscht mit Rockstars rum!

 

Ganz plötzlich schießen mir Tränen in die Augen. Tränen, die ich bislang immer nur heimlich vergossen habe, sorgsam darauf bedacht, mir nicht anmerken zu lassen, was in der Schule los ist. Jetzt kann ich sie nicht mehr zurückhalten. Sie tropfen von meinem Kinn und hinterlassen große feuchte Flecken auf der Serviette.

 

Kristina rückt ein Stück näher an mich heran und nimmt vorsichtig meine Hand. „Tut mir leid, da habe ich wohl einen wunden Punkt erwischt. Möchtest du darüber sprechen?“

 

Ich kann nicht, denke ich. Sonst hätte ich doch längst schon Freddys besorgte Nachrichten beantwortet. Oder mit meiner Familie gesprochen. Der Druck auf meiner Brust zeigt mir jedoch, dass ich das Schweigen nicht länger aushalte. Nicht, wenn ich nicht jedes Mal in Tränen ausbrechen will, sobald jemand von Videos spricht. Kristina sieht mich ruhig an, ohne jede Ungeduld, das macht mir Mut. Langsam wische ich mir übers Gesicht, trockne die Hand an meiner Jeans und erzähle Kristina, was seit Schuljahresbeginn passiert ist.

 

„Scheiße“, flüstert sie schließlich. „Das ist furchtbar.“

 

Ich nicke, schluchze und muss gleichzeitig plötzlich lachen, was völlig absurd erscheinen muss. „Ich hätte mich so gern über Freddys Frage gefreut“, sage ich. „Also, ich habe mich auch gefreut, irgendwie. Aber ich habe so Angst, dass sich wieder alle über mich lustig machen.“

 

Kristina nickt und reicht mir ein Taschentuch. „Klar, das verstehe ich. Würde mir genauso gehen.“

 

Ich bin so froh, dass sie das sagt. Zu hören, dass sie ebenso empfinden würde, hilft mir, mich nicht ganz so seltsam zu fühlen, und dankbar lächelnd putze ich mir die Nase und stecke das Taschentuch in die Hosentasche.

 

„Ich glaube, ein bisschen Tee oder Punsch wäre jetzt ganz gut, oder?“, sagt Kristina. „Was magst du?“

 

„Tee klingt prima. Gibt es grünen Tee?“

 

Kristina grinst. „Ich wusste, dass ich dich mag.“ Sie zieht zwei verpackte Teebeutel aus ihrer Jackentasche und steht auf. „Bin gleich wieder da.“

 

Der heiße Tee, den sie mir fünf Minuten später vor die Nase stellt, duftet nach Jasmin, und wärmt mich von außen und innen. Meine Tränen sind versiegt, nur noch ein leicht klebriges Ziehen im Gesicht verrät mir, wo sie getrocknet sind, und auch meine Atmung habe ich wieder etwas besser im Griff.

 

„Das tut gut, danke.“

 

„Es gibt einfach nichts besseres als grünen Tee“, sagt Kristina, hält ihre Nase dicht über die Tasse und atmet mit geschlossenen Augen tief ein. Eine Weile schlürfen wir schweigend unseren Tee, bis Kristina mich über den Rand ihrer Tasse forschend ansieht. „Du hast Freddy nichts von diesen Videos erzählt, oder?“

 

Kurz zögere ich, aber es hat keinen Zweck es zu leugnen, also nicke ich. „Er hat mit seiner Mutter schon genug Sorgen.“

 

Noch während ich es ausspreche, wird mir klar, dass das nur ein vorgeschobener Grund ist. Die Wahrheit ist, dass ich Angst vor Freddys Reaktion hatte. Habe. Was, wenn er mich nicht mehr will? Völlig aus der Luft gegriffen, ist mein Einwand nicht. Er hat mit seiner Mutter, seinem Bruder und der Ausbildung schon genug am Hals, ich will nicht, dass meine Probleme ihn zusätzlich belasten.

 

Kristina stellt ihre halbvolle Teetasse auf den Tisch und legt die Hände um das Porzellan. „Ich hoffe, das klingt jetzt nicht so, als würde ich dich überreden wollen. Das will ich nicht. Du hast sehr gute Gründe, so schnell vor keine Kamera zu wollen“, sagt sie zögerlich.

 

Sofort schlägt mein Herz wieder schneller, aber ich zwinge mich zur Ruhe und lasse Kristina weiterreden.

 

„Vielleicht könnte dein Auftritt in unserem Video auch eine Art Befreiung für dich sein, weil du selbst entscheidest, ob du mitspielst. Du darfst einfach du sein. Wir machen dich bestimmt nicht zu irgendeiner Figur, über die andere sich lustig machen.“

 

Ein Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus und wandert langsam aufwärts. Von dieser Seite habe ich es noch gar nicht betrachtet. Freddy, Kristina und den anderen kann ich vertrauen. Aber so leicht ist es auch wieder nicht, mich von meiner Angst zu lösen, schließlich sind da nicht nur die Videos, sondern auch die Sprüche und Blicke.

 

Als ob Kristina meine Gedanken lesen könnte, sieht sie mich mit einem sanften Lächeln an. „Du musst mir nicht sagen, was du denkst. Ich werde von dir keine Entscheidung einfordern.“

 

Ich fühle mich erleichtert wie schon lang nicht mehr und fühle mich gleichzeitig so beschenkt. Ganz unerwartet habe ich in Kristina eine neue Freundin gefunden, die mich versteht, obwohl wir uns noch gar nicht lang kennen. Das Kribbeln in mir verwandelt sich in ein energiegeladenes Sprudeln, dem ich nur Herrin zu werden weiß, indem ich Kristina um den Hals falle.

 

„Danke. Ich überlege es mir.“

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