Judith
Der Saal im Jugendzentrum ist voller Menschen, die wild durcheinanderreden und immer wieder neugierige Blicke zu der Bühne werfen, die an der kurzen Front aufgebaut ist. Als ob sie nur darauf warten würden, dass Escape mit ihrem Konzert beginnen. Wenn es doch so einfach wäre! Vielleicht ist es das für sie. Ben ist gerade schon einmal auf die Bühne gekommen und hat uns erklärt, was gleich unsere Aufgabe sein wird.
„Klatscht, tanzt, habt Spaß!“
Eine denkbar einfache Regieanweisung. Für die anderen. Nicht für mich. Denn ich soll genau das nicht tun, was alle anderen machen.
Ich trete von einem Bein auf das andere
und versuche das Thema zu verstehen, über das Helena und Ruth sich neben mir angeregt unterhalten. Kommafehler ist das erste Wort, das ich aufschnappe und realisiere. Ich presse die Lippen zusammen und mache mir nicht die Mühe, weiter zuzuhören. Für Rechtschreibung habe ich jetzt echt keine Nerven.
Einer der Kameramänner, ein Typ in schwarzem Hoodie und mit erstaunlich großen Tunneln im Ohr betritt die Bühne, schnappt sich das Mikro, das vorn am Bühnenrand steht, und bekommt sofort die volle Aufmerksamkeit, als er verkündet, dass es nun losgeht.
„Guckt auf keinen Fall direkt in die Kameras, konzentriert euch auf die Band“, erinnert er uns noch einmal, auch wenn diese Anweisung heute schon zigmal gefallen ist. Aber vermutlich spricht er aus Erfahrung, und ich bin nicht sicher, ob ich umsetzen kann, was er von uns verlangt. Früher oder später werden Kameras sich nur auf mich richten, und während ich in den letzten Wochen penibel darauf aus war, jeder Linse auszuweichen, soll ich gleich ruhig bleiben und mich normal verhalten. Normal für mich wäre jetzt allerdings, wegzulaufen, mich auf dem Klo einzuschließen und zu warten, bis alle nach Hause gegangen sind. Warum habe ich diesem Wahnsinn hier zugestimmt?
Meine Hände sind schweißnass, als Helena und Ruth sich mit den anderen vor der Bühne formatieren, die Hände heben und in rhythmisches Klatschen verfallen. Es ist wie an jenem Konzertabend im Sommer. Vor der Bühne steht ein Publikum, das begeistert jubelt, als Freddy, Ben und die anderen die Bühne entern und ihre Plätze einnehmen. Ich stehe abseits des Publikums und knete meine Hände. Genauso wie damals bin ich heute unsicher, aber heute würde ich mich mit dieser Unsicherheit lieber irgendwo im Publikum verstecken, als meine Nervosität hier am Rand zur Schau zu stellen.
Joshie gibt mit den Sticks den Takt vor und Freddy beginnt zu spielen.
Durch die erhobenen Arme der Leute vor mir kann ich nicht sehen, wie seine Finger über die Saiten wandern, doch die Töne drängen sich durch die Boxen in meinen Körper und versetzen meine Adern in Schwingungen. Freddy tritt ans Mikro und auf einmal will ich nichts anderes mehr, als vorne in der ersten Reihe stehen, oder besser noch auf die Bühne klettern, ihn in meine Arme ziehen und küssen.
Wie oft habe ich Girl in the crowd in den letzten Tagen gehört? Unzählige Male. Und trotzdem kommt es mir vor wie ein völlig neuer Song.
Well, here we are again
Back on stage, another gig.
The cheers are killing all my pain
For this moment I may leave the brig.
Freddy strahlt übers ganze Gesicht und schafft es innerhalb weniger Takte, das Publikum für sich einzunehmen. Ich bin mir sicher, dass die Begeisterung der Menschen vor mir nichts mit den Regieanweisungen von Ben oder dem Kameramann zu tun hat. Sie folgen Freddys Bewegungen, als er zwischendurch die Hände von der Gitarre nimmt und sie über den Kopf hebt. Die Leute klatschen und es juckt mich in den Fingern, es ihnen nachzutun, aber ich halte mich an meine Rolle, und hoffe nur, dass man mir nicht ansieht, wie schnell mein Herz schlägt. Freddy sieht so glücklich aus, nicht die kleinste Spur der üblichen Sorge liegt in seinen Augen. Es ist nicht zu übersehen, die Musik, die Bühne, das ist sein Element.
Bloß nicht anfangen zu heulen, denke ich, als es in meiner Kehle eng wird. Aber in diesem Moment sieht Freddy zu mir herüber, und sein glückliches Lächeln lässt alles Schwere in mir leicht werden.
A smile beyond all borders
Shy like the sun behind a cloud
I find my peace when I see
The girl in the crowd
Zwischen den Zeilen wachsen meinem Herzen Flügel und während es gen Himmel schwebt, zieht es meine Mundwinkel gleich mit sich. Nicht nur, weil es so abgesprochen ist, sondern weil ich es so stark fühle, bewege ich mich auf die Leute vor mir zu. Ich bin das Mädchen in der Menge, das aber nicht aufhören kann zu grinsen und ausgelassen mitzutanzen, weil es genau weiß, dass dieser Song nur von ihr handelt.
Vielleicht genieße ich es auch deshalb, dass Escape den Song viermal spielen und ich immer wieder erst abseits des Publikums stehe und dann zum zweiten Refrain Teil der Masse werde. Selbst als der Tunneltyp mit der Kamera näher auf mich zukommt und um mich herumläuft, bin ich nur kurz nervös. Denn Freddy lächelt mir von der Bühne aus immer noch zu und seine sanfte Stimme sagt mir, dass ich keine Angst zu haben brauche.
Freddy umschließt mit der rechten Hand das Mikro, sieht zu mir herüber und singt die letzte Zeile.
You’re more than just a girl in the crowd.
Mir geht durch den Kopf, was Kristina mir neulich über den Videodreh gesagt hat. Ich müsste mich nicht verstellen. Sie hat recht behalten. Ich spiele keine Rollen, ich bin ich selbst – und froh, hier zu sein.
„Du warst großartig, danke“, flüstert Freddy mir später zu, als auch die letzte Szene gedreht ist, in der er mit der Gitarre den halbleeren Saal durchquert und meinen Blick fängt. Ich schiebe meine Hand in seinen Haaransatz und grabe meine Finger in seinen Zopf, während seine Lippen sich endlich sanft um meine schließen. Leider haben wir keine Zeit, dieses Glück lang zu genießen.
„Sollen wir gleich die Fortsetzung drehen? Happy ever after?“
Joshie lehnt sich lachend mit einer Flasche Wasser neben uns an die Wand und grinst uns breit an. Die Drumsticks hat sie ausnahmsweise einmal aus der Hand gelegt, jetzt stechen sie halb aus ihrer Hosentasche heraus. Ich weiß, dass Joshie es nicht böse meint, aber ein bisschen mehr Zeit hätte sie Freddy und mir schon geben können.
„Vergiss es“, murmelt Freddy mit einem Seitenblick auf die Drummerin. „Dieses Video bleibt einmalig.“
Er zieht mich wieder in seine Arme, aber nun tauchen auch Kristina, Ben, Helena und Ruth und Samuel auf. Gibt es denn im ganzen Jugendzentrum keinen anderen Ort? Freddy und ich seufzen synchron, als wir unsere Umarmung lösen und uns nur noch sanft an den Händen halten.
„Ich fang gleich morgen mit dem Schneiden an“, sagt Ben.
Morgen schon. Mein Herz schlägt unwillkürlich schneller. Denn plötzlich wird mir wieder klar, dass dieses Video veröffentlicht werden soll, und man zwar nicht meinen Namen, aber mein Gesicht deutlich sehen wird. Überrascht von meinem eigenen Mut, oder sollte ich eher Wahnsinn sagen, entfährt mir ein Keuchen und haltsuchend umschließe ich Freddys Hände fester.
Kristina scheint zu ahnen, was mir durch den Kopf geht, denn sie sieht mich wieder mit diesem sanften Lächeln an und legt mir ihre Hand auf die Schulter. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, wir zeigen dir das Video natürlich, bevor wir es hochladen.“
„Okay.“
Dieses Versprechen hat mir die Band schon direkt nach meiner Zusage gegeben. Dass Kristina es jetzt noch einmal wiederholt, ist dennoch beruhigend. Es wird alles gut werden. Escape werden mich nicht lächerlich machen.
„So, Leute, Abbau“, ruft Johnny quer durch den Saal und Joshie und Kristina lösen sich direkt von ihren Plätzen und laufen zur Bühne. Freddy zieht sein Handy aus der Hosentasche und verzieht das Gesicht.
„Ist alles okay?“
Er nickt, sieht mich aber nicht an, sondern lässt das Smartphone wieder in die Tasche gleiten. „Ja, ist bloß spät.“
„Wir helfen euch beim Abbau“, sage ich, ohne Helena oder meine Geschwister zu fragen, aber die machen sich sofort bereit.
„Echt?“
Helena grinst Freddy an. „Klar, ich wollte immer schon Roadie sein“, sagt sie und läuft zur Bühne, ehe sie jemand aufhalten könnte.
Freddy sieht mich fragend an. „Roadie?“
Ich zucke mit den Schultern. Keine Ahnung, woher meine beste Freundin das hat, aber als ich mich nach ihr umsehe, nimmt sie bereits von Johnny Mikrostative entgegen und trägt sie aus dem Saal.
Während ich Füße von Bühnenelementen abschraube, sehe ich immer wieder zu Freddy hinüber, der auf einmal sehr schweigsam ist und wie besessen mit Johnny die Bühnenelemente auseinanderschiebt und in den Nebenraum trägt. Die tiefe Falte, die dabei auf seiner Stirn liegt, ist selbst aus fünf Metern Entfernung nicht zu übersehen. Was hat er nur so plötzlich? Auch Bens Frage, ob alles okay ist, weicht er mit einem hastigen Ja ja aus.
Ja ja, denke ich. Jeder weiß, was das heißt.
Ich werfe den letzten Fuß und die Schrauben in die bereitgestellte Kiste und schiebe sie Johnny hin, der sie mit starken Armen aufnimmt und wegträgt.
Fast nichts mehr im Saal erinnert noch daran, dass hier in den letzten Stunden ein Videodreh stattgefunden hat. Nur noch Bens und Freddys Gitarren, die ordentlich verpackt an einer Wand lehnen. Freddy legt seine Hand auf die Hülle und streicht darüber, als berühre er einen ganz besonderen Schatz. Dann heben sich seine Schultern und senken sich langsam wieder, ehe er sich bückt, nach dem Trageriemen greift und sich die Gitarre über die Schulter wirft. Er lässt seinen Blick durch den Saal wandern und kommt langsam auf mich zu, lächelt, aber es ist wieder dieses halbe Lächeln, das seine Augen nicht ganz erreicht, und ich weiß, egal was er sagt – nichts ist okay.
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