Judith
Hallo Judith, es war schön, dich auf unserem Auswahlwochenende persönlich kennenzulernen. Wir freuen uns sehr, dir heute einen Platz in unserem Panama-Programm anbieten zu können.
Ich starre auf die E-Mail. So lang habe ich darauf gewartet, habe gehofft, genau diese Worte zu lesen, die jetzt schwarz auf weiß vor mir stehen, und habe mir vorgestellt, wie ich voller Freude durchs Zimmer hüpfe und anschließend meine Familie zusammentrommle. Aber ich springe nicht auf, rufe nicht nach Ruth, meinen Brüdern oder meinen Eltern. Wieder und wieder lese ich die Zeilen, aber die Freude, die ich mir so oft vorgestellt habe, will sich nicht einstellen. Da ist einfach nichts. Verdammt, wieso freue ich mich nicht?
Noch einmal lese ich die Mail, aber es bleibt dabei. Nichts als drückende Leere in mir.
Ich greife nach meinem Handy, öffne den Chat, und lasse es wieder sinken. Die Nachricht, die ich schreiben will, würde ungelesen bleiben wie die vorherigen auch. Unbeantwortet wie die Anrufe in den letzten Tagen.
Jeden Morgen wache ich auf, in der Hoffnung, dass heute der Tag sein muss, an dem das Schweigen endet. Doch seit bereits einer Woche hält mich abends die Sorge wach, was passiert ist, wieso Freddy sich nicht meldet. Inzwischen bin nicht nur ich besorgt, sondern auch die Band. Kris und Johnny haben mir Nachrichten geschrieben, gefragt, ob ich wüsste, was mit Freddy los ist. Offenbar ist er nicht mehr zur Bandprobe gekommen und meldet sich auch bei seinen Freunden nicht. Jetzt quält mich nicht nur die Sorge, sondern mich plagt auch zusätzlich das schlechte Gewissen, weil ich der Band nichts von Freddys Ausstiegsplänen sagen kann.
Was stimmt nur diesmal nicht?
Ich klappe den Laptop zu und verlasse langsam mein Zimmer. Im Flur ziehe ich meine Jacke von der Garderobe, schlüpfe in meine Boots und ziehe ein paar Sekunden später die Tür hinter mir ins Schloss. Planlos gehe ich die Straßen entlang, versuche mir die Gespräche und Workshops vom Auswahlwochenende ins Gedächtnis zu rufen oder mir Bilder aus Panama vorzustellen. Vielleicht stellt sich dann die Freude ein. Vergeblich. Immer wieder schiebt sich Freddy in mein Denken. Das Bild von den ungelesenen Nachrichten, der Ton des Freizeichens, das nach einer Minute abbricht.
Plötzlich überkommt mich Wut. Nicht genug, dass Freddy sich seinen eigenen Traum versagt und die Musik an den Nagel hängt, und obendrein seine Freunde und mich im Stich lässt. Er macht mir auch noch meinen Traum kaputt. Wenn ich mir keine Sorgen um ihn machen müsste, könnte ich mich über die Mail mit der Zusage freuen. Ich wollte diese Freude mit ihm teilen, schließlich war Freddy es, der mich ermutigt hat, die Bewerbung endlich abzuschicken. Aber wie heißt es so schön, wer sich auf Menschen verlässt, ist verlassen.
Ein Bus kommt die Straße entlang, hält neben mir und einem Impuls folgend steige ich ein und fahre bis zur Klinik mit.
Für einen winzigen Moment keimt in mir die Hoffnung auf, dass ich Freddy im Krankenhaus treffen könnte, aber noch während ich an der Tür zum Zimmer seiner Mutter klopfe, ahne ich, dass ich mir etwas vormache. Und richtig, außer Freddys Mutter ist niemand in dem Zimmer. Sandra sieht mich überrascht an.
„Judith, das ist ja eine Überraschung.“ Ihre Mundwinkel zucken, ich nehme an, sie versucht sich an einem Lächeln. Aber ich bin schon zu lang in der Krankenhausseelsorge dabei, um nicht zu erkennen, wie schwer ihr das fällt. Wie wenig ihr danach zu Mute ist. Das ist okay. Mir muss sie nichts vormachen. Auf einmal bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee war, herzukommen, mit all den Sorgen im Gepäck.
„Ich hoffe, es ist okay, dass ich einfach so vorbeikomme?“
Diesmal ist es ein deutliches, ehrliches Lächeln, dass sich auf Sandras Gesicht legt. „Natürlich, ich freu mich, dich zu sehen.“ Sie setzt sich in ihrem Bett auf und ich helfe ihr, das Kissen in ihrem Rücken zurechtzuschieben. „Wie geht es dir?“
Vielleicht ist es ihre Art zu fragen, so wie nur Mütter es können, und wie sie mich dabei ernst ansieht. Vielleicht haben sich meine Sorge und die Angst auch einfach zu sehr angestaut, dass ich sie nicht mehr zurückhalten kann. Tränen schießen mir in die Augen und ich ziehe meinen Schal übers Gesicht, auch wenn dieser meine Verzweiflung nicht verhüllen kann.
Ich spüre Sandras Hand an meinem Arm. „Tut mir leid. Ich wollte nicht … Ich sollte eher fragen, wie es dir geht“, sage ich und sehe auf.
Freddys Mutter schüttelt den Kopf. „Die Frage stellt man mir zehnmal am Tag, und ich fürchte, es ist ziemlich offensichtlich, dass ich nicht das blühende Leben bin. Aber was macht dich unglücklich?“
Schniefend wische ich mir mit dem Schal die Tränen aus dem Gesicht. „Ich habe eine Zusage für ein FSJ in Panama bekommen“, sage ich.
„Wie schön. Herzlichen Glückwunsch.“ Sandra streckt ihre Hand aus und drückt meinen Arm sanft.
„Danke. Ich würde mich gern freuen, aber ich fühle das einfach nicht. Nicht seit Freddy …“ Ich beiße mir auf die Zunge, doch es ist zu spät. Sandras Blick verdüstert sich, sie zieht die Beine an, umklammert sie mit ihren Armen und senkt den Kopf.
„Habt ihr Streit?“, fragt sie, beinahe schuldbewusst.
„Keine Ahnung. Er meldet sich seit einer Woche nicht mehr.“
„Was?“ Ihr Gesicht wird noch eine Spur blasser und sie krallt ihre Finger in den Stoff ihrer weiten Hose. „Ich dachte, er würde nur mir aus dem Weg gehen“, fügt sie leise hinzu.
Ich fahre zusammen, als ob mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf gekippt hätte, dabei sollten Sandras Worte mich nicht überraschen. Beim letzten Mal hat Freddy sich auch nicht bei ihr gemeldet. Aber verdammt, da waren es zwei Tage, keine Woche. Freddys Mutter laufen Tränen übers Gesicht, sie wischt sie nicht weg. Meine Wut auf Freddy bekommt neuen Auftrieb. Schlimm genug, dass er sich nicht bei der Band oder mir meldet, aber seiner Mutter zusätzlichen Kummer zu bereiten, ist einfach nur unfair.
„Was ist passiert?“
Sandra versteckt die Hände in den Ärmeln ihrer Strickjacke und schluckt. „Finn ist letzte Woche zu seinem Vater gezogen. Freddy hat mir Vorwürfe deswegen gemacht … Ich kann ihn sogar verstehen, aber …“ Sie wendet den Blick ab, sieht zum Fenster. „Manchmal will ich einfach nur, dass es vorbei ist, so oder so.“
Ich starre Freddys Mutter an, vergesse zu atmen, und brauche eine Weile, bis ich mich rühren und meine Hand nach ihr ausstrecken kann. „Warum willst du das?“
Es überrascht mich selbst, dass es mir gelingt, diese Frage zu stellen und nicht direkt auf sie einzureden, dass das lächerlich sei. Das würde gerade ohnehin nicht zu ihr durchdringen.
„Was kann ich meinen Jungs schon bieten?“, fragt Sandra leise, den Blick immer noch zum Fenster gerichtet. „Ich kann nicht für sie sorgen, stattdessen geben sie ihre Jugend auf, weil sie sich um mich kümmern müssen. Das ist nicht fair. Ohne mich, wären sie freier.“
Vielleicht, schießt es mir durch den Kopf. Aber sie hätten keine Mutter mehr. Und zumindest Freddy wäre nicht freier. Er würde alles aufgeben, um für Finn da zu sein. Aber auch das sage ich nicht. Stattdessen gehe ich um das Bett herum, setze mich neben Freddys Mutter und nehme sie vorsichtig in den Arm. Einen Moment lang sitzt sie stumm und regungslos neben mir, dann sinkt ihr Kopf auf meine Schulter.
„Als Freddy letzte Woche gegangen ist, wäre ich am liebsten aus dem Fenster gesprungen. Aber wegen dieser scheiß Schmerzen komme ich da nicht einmal hin.“
Sämtliche Alarmglocken schrillen los und mein Puls beginnt zu rasen. Verdammt, das klingt gar nicht gut. Obwohl ich am liebsten aufspringen und einen Arzt rufen würde, bleibe ich sitzen und löse auch die Umarmung nicht.
„Bitte mach das nicht“, sage ich leise
und merke erst, als ich meine brüchige Stimme höre, dass ich weine. Ob Freddy weiß, wie es um Sandra wirklich steht? Vermutlich nicht, sonst wäre er nicht einfach abgehauen. Oder? Hätte er nicht damit rechnen können, dass das alles seine Mutter dermaßen belastet?
Eine scharfe Klinge bohrt sich in meine Brust und ich schnappe nach Luft. Was, wenn Freddy ähnliche Gedanken wie seine Mutter hat? Wenn er sich deshalb nicht mehr meldet, weil ihn keine Schmerzen davon abhalten, aus dem Fenster zu springen? Ich schüttle den Kopf. Nein, das darf ich nicht glauben. Das kann ich nicht glauben. Ich zwinge mich, tief ein und auszuatmen, um der Panik keinen Raum zu geben.
„Möchtest du, dass ich jemandem aus dem Seelsorgeteam oder einer Psychologin Bescheid gebe?“
Für ein paar schrecklich lange Sekunden kommt von Sandra keine Reaktion und ich fürchte schon, dass Freddys Mutter schon so tief in ihren düsteren Gedanken versunken ist, dass ich sie nicht mehr erreichen kann. Da nickt sie schließlich doch noch.
„Jetzt gleich?“, frage ich.
Wieder nickt sie. Also ziehe ich mein Handy aus der Tasche und wähle die Nummer vom Seelsorgeteam. Zum Glück ist Petra gerade im Büro und sie verspricht, sofort vorbeizukommen. Ich schicke ein kurzes Dankgebet an den Himmel – es ist nicht viel, aber immerhin der Hauch einer Hoffnung, dass sich etwas ändern kann.
Als Petra kurz darauf das Zimmer betritt, stehe ich auf, um mich zurückzuziehen, aber Freddys Mutter hält meine Hand fest und bittet mich mit flehendem Blick zu bleiben. Also bleibe ich neben ihr sitzen und verfolge stumm, aber mit wachsender Sorge das Gespräch. Seit ich im Seelsorgeteam mithelfe, habe ich schon viele Menschen getroffen und mit ihnen über ernste Themen gesprochen, auch über den Tod, aber bislang hatte ich noch keine Patienten mit Depressionen oder Selbstmordgedanken. Ich bin froh, dass Petra hier ist. Doch als Sandra sagt, dass es vermutlich gut sei, dass sie ihre Medikamente hier vom Pflegepersonal bekommt, bricht mir der kalte Schweiß aus.
Zum ersten Mal kann ich verstehen, warum Freddy nichts über die Verhältnisse bei sich zu Hause erzählen wollte. Denn gerade würde ich am liebsten genau das tun, was Freddy durch sein Schweigen verhindern will; das Jugendamt oder irgendwen informieren, damit sie sich um ihn und Finn kümmern. Ich mache Sandra keine Vorwürfe, ihre Situation ist denkbar beschissen. Aber das ist kein Zustand, in dem Menschen leben und Kinder aufwachsen sollten. Ich muss immer heftiger schlucken, um die Tränen der Verzweiflung zurückzuhalten, und bekomme kaum noch mit, was Sandra sagt und was Petra antwortet.
Wieso sind manche Menschen so sehr vom Schicksal verfolgt?
Das ist nicht fair! Hätten Sandra, Freddy und Finn nicht mindestens so viel Glück verdient wie meine Familie?
Irgendwann erhebt Petra sich von dem Stuhl gegenüber vom Bett. Ich sehe sie etwas sagen, bin aber noch zu sehr in meinen Gedanken gefangen, um die Worte zu hören. Sandras Gesicht ist feucht von Tränen, aber so wie sie den Mund verzieht, bemüht sie sich wohl um ein Lächeln. Ein gutes Zeichen? Ich würde es ihr wünschen.
Freddys Mutter beugt sich zu dem Tisch neben ihrem Bett, zieht einen Schlüssel aus der Schublade und reicht ihn mir.
„Würdest du nach Freddy sehen? Ich kann verstehen, dass er nicht mit mir reden will, aber ich muss wissen, ob er okay ist.“
Er ist nicht okay, sonst würde er sich melden, aber ich weiß, was sie meint, und nehme nickend den Schlüssel entgegen.
„Ist es in Ordnung, wenn ich gehe?“, frage ich trotzdem.
Sandra nickt. „Ja. Keine Sorge, ich mach keine Dummheiten“, versichert sie mir und fügt ein leises „Danke“ an, wobei ihr neue Tränen in die Augen steigen.
Ich umarme sie zum Abschied und folge Petra aus dem Zimmer, froh darüber, dass sie auf mich gewartet hat. Unsere Seelsorgechefin legt ihren Arm um mich.
„Du hast sehr gut reagiert, ich bin stolz auf dich“, sagt sie, während wir den Flur hinunter gehen. „Das war bestimmt nicht leicht für dich. Möchtest du darüber reden? Oder brauchst du etwas anderes?“
„Danke. Ich glaube, ich muss das erstmal sacken lassen.“ Ich halte den Schlüssel hoch. „Und ich will schauen, wie es Freddy geht.“
Petra lächelt mich an. „Das verstehe ich. Aber wenn du später etwas brauchst, melde dich gern. Ich lass mein Handy die Nacht bei mir, okay?“
Ich nicke und verabschiede mich von Petra, um zu Freddy zu fahren, in der Hoffnung, dass er zu Hause ist. Doch als ich allein im Dunkeln vor der Klinik stehe, überkommen mich Zweifel, ob ich das wirklich kann. Ja, ich will zu ihm, muss wissen, wie es ihm geht.
Aber ich schaff es nicht allein.
Nicht nach dem, was ich gerade gehört habe.
Ich lehne mich gegen die Fassade und schreibe Johnny eine Nachricht. Zum Glück kommt seine Antwort sehr schnell.
Muss noch eine Stunde arbeiten. Aber dann bin ich da. Treffen wir uns am Eingang zur U-Bahn?
Ich stimme zu und laufe durch die kalte Dunkelheit. Was macht Freddy gerade? Soll ich ihm erzählen, was ich gerade von seiner Mutter erfahren habe? Kann ich ihm das zumuten? Was, wenn Freddy nicht zu Hause ist oder es ihm nicht gut geht? Was soll ich Sandra dann sagen?
Es ist wohl gut, dass es kalt und nass ist, sonst würde ich mich hier und jetzt auf den Boden fallen lassen. So gehe ich weiter, schlage die Zeit tot, bis ich endlich den Weg zur U-Bahn-Haltestelle einschlage und dort im einsetzenden leichten Nieselregen auf Johnny warte. Immer wieder sehe ich zu der Hochhaussiedlung hinüber, wo Freddy wohnt. Was wird mich dort erwarten?
Endlich kommt Johnny die Stufen hochgelaufen. „Sorry, wartest du schon lange?“, fragt er und schiebt sein Basecap hin und her.
„Schon okay“, wiegle ich ab. „Hat Freddy sich bei dir gemeldet?“
Johnny schnaubt. „Als ob. Keine Ahnung, was der Penner treibt. Die anderen sind auch auf 180. Ich mein, was stellt der sich denn vor, wie morgen das Konzert laufen soll?“
Verdammt, das Konzert habe ich total vergessen. Trotz aller Sorge, meldet sich auch die Wut wieder zurück. Das, was Freddy hier abzieht, ist echt nicht mehr feierlich. Aber weder ist jetzt die richtige Zeit, noch bin ich diejenige, Johnny zu sagen, dass Freddy Escape verlassen will. Seinen Bandausstieg muss er schon selbst klären.
„Ich war eben bei seiner Mutter.“
Augenblicklich verschwindet der genervte Ausdruck aus Johnnys Augen und er sieht besorgt aus. „Wie geht es ihr?“
„Nicht so gut.“ Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. „Freddy hat sich auch bei ihr nicht gemeldet. Finn ist ausgezogen.“
„Fuck.“ Johnny kickt gegen eine leere Bierdose am Boden. „Glaubst du, er ist wieder abgehauen?“
Ich zucke hilflos mit den Schultern. Gerade weiß ich nicht, was besser wäre. Wenn Freddy wieder in irgendeiner Gartenlaube hocken würde oder wenn er … Mir wird übel und ich atme hektisch die kalte Nachtluft ein. Das hilft. Fürs Erste zumindest und ich überquere mit Johnny die Straße. Nun ist es nicht mehr weit zum Hauseingang.
Johnny lässt den Finger suchend über die Klingelknöpfe wandern, bis er Freddys Namen gefunden hat, und klingelt.
Nichts passiert. Eigentlich habe ich nichts anderes erwartet, trotzdem habe ich mich an einen Rest Hoffnung geklammert, dass er vielleicht doch aufmachen würde. Meine Hand zittert, als ich den Schlüssel aus der Hosentasche ziehe. Gerade will ich ihn ins Schloss stecken, als Schritte hinter uns ertönen.
Ich drehe mich um und lasse beinahe den Schlüssel fallen. „Freddy?“
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