Kapitel 41 - Ohrensausen

Freddy

Vor Überraschung, und weil immer noch der Sound vom Konzert auf meine Ohren drückt und meinen Kopf benebelt, stolpere ich über meine eigenen Füße, kann mich aber gerade noch rechtzeitig am Hauseingang abstützen.

„Was macht ihr denn hier?“, frage ich. Zumindest will ich das fragen, aber ich höre selbst nicht, was ich sage, und Judith und Johnny, der sich hinter Judith zu verstecken scheint, sehen mich nur verständnislos an.

Judith macht einen Schritt auf mich zu, nimmt mich am Arm und sieht mich besorgt an. Ihre Lippen bewegen sich, doch ich verstehe kein Wort. Fuck, es fühlt sich an, als wäre ein Riesenknäuel Watte um meinen Kopf herum. Alle Geräusche um mich sind dumpf und seltsam verschwommen. 

Auf Judiths Stirn zeichnet sich eine tiefe Falte ab.

 

Sie dreht sich zu Johnny um, wirft ihm etwas zu. Moment – ist das nicht Mamas Schlüssel? Wie kommen sie dazu?

Johnny schließt die Haustür auf, während Judith mich am Arm nimmt und mich ins Haus führt, als ob ich nicht selbst gehen könnte. Wobei, wenn ich ehrlich bin, vertraue ich meinem Körper gerade auch nicht uneingeschränkt. Irgendwie habe ich es von dem Club bis hierher geschafft, aber jetzt fühlen sich meine Beine verdammt wackelig an und mein Kopf ist schwer. So wahnsinnig schwer.

 

Oben in der Wohnung angekommen, bugsiert Judith mich ins Wohnzimmer, drückt mich aufs Sofa, wo ich wie ein Kartoffelsack in mich zusammenfalle und den Kopf in den Nacken gegen das Polster lehne. Es ist still, immer noch dumpf, bis plötzlich ein Fiepen in meinem rechten Ohr erklingt, erst leise, dann immer durchdringender. Wie ein verdammter alter Wasserkessel. Ich schüttle den Kopf, drücke mit dem Zeigefinger gegen mein Ohr. Das Fiepen bleibt. Scheiße, was soll das?

 

Judith drückt mir eine dampfende Tasse in die Hand. Ich greife reflexartig nach dem Henkel, atme den heißen Duft des Kräutertees ein und trinke schließlich einen Schluck, wobei ich mir natürlich die Zungenspitze verbrenne. Na ja, auch schon egal.

Judith setzt sich neben mich, während Johnny noch immer eine Art Sicherheitsabstand zu halten scheint und auf der anderen Seite des Couchtischs hockt. Er hält den Kopf gesenkt, sodass ich seine Augen unter dem Schirm seiner Kappe nicht sehen kann. Was hat er nur?

 

Piiiiiiieeeeeeppp. Verdammt, dieses Geräusch macht mich noch irre!

 

Plötzlich hält Judith mir ihr Handy hin, auf dem Display eine geöffnete Nachricht.

 

Freddy, was ist los? Sie sieht mich noch immer besorgt an.

 

Ich stelle die Teetasse ab, nehme das Handy und tippe eine Antwort.

 

Hab ein furchtbares Fiepen im Ohr. Hör sonst nix. Und hab Kopfschmerzen.

 

Offenbar liest Judith meine Nachricht vor, denn nun sieht auch Johnny auf und macht ein erschrockenes Gesicht. Es ist nicht schwer von seinen Lippen zu lesen, als er spricht.

 

„Wo warst du?“

 

Ich versuche noch einmal zu sprechen, obwohl sich meine Stimmbände belegt und geschwollen anfühlen. „Death Metal Konzert. So’n Typ auf der Arbeit hat mich eingeladen.“

 

Johnny schlägt sich die Hände vors Gesicht und wirft den Kopf in den Nacken. Ist das so unglaublich? Er dürfte in seiner Ausbildung zum Veranstaltungstechniker doch schon ganz andere Sachen gehört haben. Okay, normalerweise höre ich andere Musik, aber der Gitarrist hatte recht. Death Metal ist verdammt gut, um jeden Scheiß zu vergessen.

 

Blöd nur, wenn anschließend direkt zwei Leute vor der Tür stehen, und einem den Scheiß direkt wieder um die Ohren hauen. Denn gegen das Fiepen im Ohr und das dumpfe Dröhnen und Schweregefühl in meinem Kopf rieselt all das wieder in meine Gedanken, was ich so erfolgreich verdrängt habe. Finn ist weg, meine Mutter hat ihn gehen lassen.

 

Johnny hält mir sein Handy demonstrativ unter die Nase. Seine Nachricht ist demonstrativ in Großbuchstaben geschrieben.

 

DIR IST SCHON KLAR, DASS WIR MORGEN AUCH EINEN GIG HABEN?

 

Fuck, ja. Ist mir klar. Jetzt wieder. Und was die Band betrifft, scheint die wohl noch geschlossen davon auszugehen, dass ich dabei bin. Weil ich es nicht geschissen bekommen habe, auszusteigen, als noch Zeit dazu war.

Ich zucke die Schultern, woraufhin Johnny kopfschüttelnd sein Handy wieder zu sich zieht und eine neue Nachricht tippt.

 

Wir machen uns voll den Kopf und denken, dass du dich um deine Mutter kümmerst. Stattdessen bist du auf Death Metal Konzerten und lässt dir das Hirn zudröhnen!

 

Kleine Buchstaben, dafür eine Flut an Emojis, die alles andere als Begeisterung ausdrücken. Das Fiepen in meinem Ohr schwillt an, wird kurz darauf etwas leiser, nur um dann wieder anzuschwellen. Wie Wellen, die sich am Strand brechen. Hört das jemals wieder auf?

Judith legt eine Hand auf mein Knie und ich sehe sie an, wende mich jedoch sofort wieder ab. Die Sorge und Enttäuschung in ihren Augen packe ich nicht auch noch.

 

Können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?

 

Nein. Stattdessen schiebt Judith mir wieder ihr Handy zu.

 

Was ist los? Wieso hast du dich nicht gemeldet?

 

Weil alles so egal ist. Nichts spielt mehr eine Rolle. Ich habe gekämpft und verloren.

 

Guck dich doch um. Finn ist ausgezogen. Mama hat es zugelassen, dass er zu diesem Arsch von seinem Vater zieht, tippe ich wütend in das Nachrichtenfeld.

 

Judiths Seufzen spüre ich mehr, als dass ich es höre.

 

Ich weiß, erscheint auf dem Display.

Überrascht sehe ich sie an und sie tippt wieder. Ich war bei deiner Mutter. Sie hat es mir erzählt.

 

Mir entfährt ein spöttisches Lachen. Natürlich. Mit Judith hat sie geredet, wahrscheinlich hat Judith auch mit Johnny geredet – nur ich scheine wie immer das letzte Glied in der Kette zu sein.

Wieder kommt ein Seufzen von Judith, aber diesmal ist sie genervt. Ihre Muskeln spannen sich, in ihren Beinen, den Armen, im Rücken, sogar in ihrem Gesicht. Als sie mir schließlich wieder ihr Handy in die Hand drückt, tut sie es mit mehr Entschlossenheit als zuvor.

 

Kann verstehen, dass du sauer bist. Aber das ist kein Grund, dich selbst wie ein Arsch zu verhalten!

 

Ich starre auf die Nachricht. Das ist es, was sie denken? Bin ich ein Arsch? Für den Fall, dass mein Gewissen eine Stimme haben sollte, ist sie gegen das Fiepen in meinen Ohren jedenfalls genauso machtlos wie die anderen Geräusche und Stimmen um mich herum. Vielleicht hätte ich den anderen zwischendurch mal auf eine Nachricht antworten können. Aber ist es nicht auch mein gutes Recht, einfach meine Ruhe haben zu wollen, wenn ich sowieso für alle nur der letzte Depp bin?

 

Johnny baut sich vor mir auf und sieht mich finster an. Dann hält auch er mir wieder sein Handy hin.

 

Bist du morgen am Start?

 

Ich lese die Nachricht dreimal, viermal. Wie viele Proben habe ich verpasst? Und wie haben sie ohne mich geprobt? An der Wand neben meiner Zimmertür lehnen noch immer meine Gitarren, die ich nicht mehr angefasst habe, seit Finn seine Koffer gepackt hat. Bin ich am Start? Wozu sollte ich? Ist doch alles egal. Ich habe eine Wahl getroffen, mich für eine Welt, meine Familie, entschieden – und die hat mich hängen lassen. Die andere Welt kann das nicht ausgleichen. Die Musik bringt Finn nicht zurück. Und sie macht meine Mutter nicht gesund.

 

Plötzlich legen sich warme Finger sanft um meine Hand. Judith. Sie sagt nichts, tippt auch keinen Text auf ihrem Hany. Aber ihr Blick spricht Bände.

 

Bitte.

 

Ich schließe die Augen. Bin so müde. Keine Ahnung, wie ich auf einer Bühne stehen soll. Trotzdem nicke ich schließlich.

 

„Okay.“

 

Johnny löst seine Haltung, verzieht den Mund zu einer abschätzenden Grimasse und lüpft langsam nickend seine Kappe.

 

Gut. Sieh zu, dass du fit bist. Ich hol dich um 12 ab. Aufbau, Soundcheck und Probe.

 

Ich schaffe es gerade noch, die Nachricht zu lesen, eher er sein Smartphone in seiner Hosentasche versenkt, Judith zunickt und geht.

Ich starre auf die Tür zum Flur und höre dem lauter und leiser werdenden Fiepen zu, bis Judith mir wieder ihr Handy zuschiebt.

 

Freddy, ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Ich würde dir so gern helfen, aber ich weiß überhaupt nicht, was in dir vorgeht. Dir geht es offensichtlich nicht gut und ehrlich gesagt, macht mir das Angst.

 

Ich lese die Nachricht, schiebe das Handy aber zurück, ohne eine Antwort zu tippen.

 

Wie soll ich ihr das erklären? Ihre Familie ist perfekt, sie musste sich nie Sorgen machen, dass jemand kommen und alles auseinanderreißen würde. Sie hat keine Ahnung, wie es ist, jahrelang Angst zu haben, auf der Hut zu sein und jeden verdammten Cent umzudrehen.

Zu dem Fiepen im Ohr gesellt sich ein Dröhnen, keine Ahnung woher, und gleichzeitig spüre ich das Blut heftig in meinen Adern pulsieren. Heiße Wut lodert in mir auf. Auf Finn, auf Mama, auf Judith, auf das Universum. Ich atme heftig, starre auf einen Krümel auf dem Teppich vor mir. Das ist alles so eine verfickte Scheiße.

Wieder legt Judith ihr Smartphone auf mein Bein.

 

Soll ich heute Nacht hier bleiben?

 

Ich schaue auf das Display, dann zu Judith. Sie schaut noch immer besorgt und trotzdem ist da ein Funke Hoffnung. Das gibt mir den Rest. Das pack ich nicht.

Ich senke den Blick, zucke mit den Schultern und stehe auf.

Noch bevor ich die Schwelle zu meinem Zimmer übertrete, höre ich trotz Fiepen und Dröhnen mein Gewissen wieder überdeutlich.

 

Sie hat recht. Du bist ein Arsch.

 

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