Freddy
Stille. Judith steht wie festgefroren vor mir und sieht mich mit glasigen Augen an. Dann nickt sie langsam.
„Wieso hast du nichts gesagt?“ Ihre Worte sind leise, ich kann sie nur mit Mühe hören, aber sie dringen in mich ein wie ein Messer, denn erst jetzt wird mir klar, was ich gerade gesagt habe.
Ich hebe die Schultern und lasse sie langsam wieder sinken. „Ich hab’s nicht gemerkt“, sage ich. Das ist die beste Erklärung, die ich Judith in diesem Moment geben kann. Ihr und mir. Ich bin selbst noch überrascht, was ich mir eingestanden habe.
Ich kann nicht mehr.
All das, was in den letzten Wochen, Monaten, Jahren passiert ist, ist mir über den Kopf gewachsen. Jetzt stehe ich hier und warte darauf, dass mich die Erschöpfung zu Boden reißt.
Judith kommt einen Schritt auf mich zu, schließt mich stumm in ihre Arme, und im nächsten Moment geben meine Beine unter mir nach. Kurz taumelt Judith unter meinem Gewicht, dann fängt sie sich und hält mich fest, während meine Augen sich mit Tränen füllen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal geheult habe, mein Körper hat aber wohl Nachholbedarf. Sobald die Tränen fließen, kann ich nicht mehr aufhören und klammere mich bebend an Judith, die ruhig stehen bleibt, mich festhält und mir immer wieder sanft über den Rücken streicht. All die Angst, die Verzweiflung, Müdigkeit und Einsamkeit brennen in mir und fließen schmerzhaft aus mir heraus.
Irgendwann, als der Stoff von Judiths Jacke schon ganz nass ist, finde ich langsam ins Hier und Jetzt zurück, nehme den leichten Wind wahr, der uns umweht, spüre die kalte Luft auf meinem Gesicht und höre Autos auf der Straße vorbeifahren. Etwas schwerfällig, weil die Muskeln eingeschlafen sind, hebe ich den Kopf und wische mir mit meinem Ärmel über die Augen.
Judith löst die Umarmung, sieht mich prüfend an, als ob sie nicht sicher ist, ob ich wirklich stehen bleibe. „Geht’s?“
Ich verlagere das Gewicht, Schmerz pocht in meinen Beinen, aber ich nicke. Es geht. „Sorry, deine Jacke ist total nass.“
Judith verzieht das Gesicht zu einem schwachen Lächeln. „Schon okay. Magst du vielleicht einen Tee?“
Wieder nicke ich, Tee klingt gut.
Nach der Heulattacke fühle ich mich völlig ausgepowert
und sehne mich nach einem Bett, um den Schlaf der letzten Jahre nachzuholen. Fürs Erste muss ich mich jedoch mit einem Küchenstuhl zu Hause bei Judith begnügen. Kraftlos lasse ich mich darauf fallen und sehe Judith zu, wie sie den Wasserkocher füllt, Teebeutel in eine Kanne hängt und schließlich mit der Kanne und zwei Tassen zu mir an den Tisch kommt.
„Danke“, sage ich leise, als sie mir einschenkt.
Hinter mir tritt jemand in die Küche, ich wende mich um. Ruth steht neben dem Kühlschrank und sieht uns überrascht an. Dann begegnet sie meinem Blick, ihre Augen werden schmaler und ich bin mir ziemlich sicher, ein Knurren aus ihrer Kehle zu hören.
„Kannst du uns kurz allein lassen, bitte?“, sagt Judith.
Ruth schürzt die Lippen, bedenkt mich noch einmal mit einem finsteren Blick, dann zuckt sie mit den Schultern und verschwindet aus der Küche.
„Sie hasst mich“, sage ich, während ich auf die gelbe Oberfläche des Tees starre und mir den Dampf in die Nase steigen lasse.
„Sie hasst dich nicht. Sie ist nur wütend – wobei, das liegt bei Ruth manchmal dicht beieinander.“ Judith lacht trocken.
Das klingt nicht besonders aufbauend, aber vermutlich habe ich es nicht besser verdient. „Und du?“, frage ich und wage es kaum den Blick zu heben.
„Ich hasse dich auch nicht“, antwortet Judith mit fester Stimme. „Aber ich bin traurig und enttäuscht“, fügt sie dann leise hinzu.
„Ich weiß, es tut mir leid.“ Es klingt wie eine hohle Phrase, dessen bin ich mir bewusst, und doch meine ich es aufrichtig.
Judith stellt ihre Teetasse auf dem Tisch ab und schiebt sie mit den Fingerspitzen auf der Platte hin und her. „Ich kann irgendwie verstehen, dass du das alles nicht so gewollt hast, und warum es passiert ist … Aber es tut trotzdem weh.“
Ihre Stimme zittert und meine Kehle schnürt sich zu. Diesmal sage ich nicht, wie leid es mir tut, ich nicke nur hilflos. Das, was ich ihr angetan habe, lässt sich sowieso nicht einfach so weg reden. Vielleicht kann ich es nicht einmal mehr gutmachen. Es gleicht einem Wunder, dass sie überhaupt hier sitzt und mit mir redet.
„Danke, dass du mich trotzdem reingelassen hast.“
Judith nickt nur kurz und trinkt einen Schluck Tee. Als sie die Tasse wieder abstellt, sieht sie mich fest an. „Und jetzt?“
Gute Frage. „Ich muss ziemlich viel in Ordnung bringen. Bei der Band … bei dir.“
Erst bei den letzten Worten hebe ich den Kopf und werfe ihr einen scheuen Blick zu. Legt Judith überhaupt Wert darauf, dass zwischen uns alles wieder in Ordnung kommt? Ich schlucke, als ich ihr angespanntes Gesicht mit der unerbittlichen Miene sehe. Das sieht nicht gut für mich aus.
„Was ist mit deiner Mutter?“ So entschlossen wie jetzt habe ich Judith noch nie erlebt, ich erschaudere unter ihren Worten und ziehe instinktiv den Kopf, während mein Herz schneller schlägt. Wieso muss sie ausgerechnet auf Mama zu sprechen kommen?
„Ich kann nicht“, bringe ich heiser hervor. Allein die Vorstellung, ihr sagen zu müssen, dass ich versagt habe, raubt mir die Luft.
Judith presst ihre geballten Hände an ihre Stirn. „Bitte, Freddy, sie ist deine Mutter!“
„Ich weiß“, sage ich heftiger als ich eigentlich wollte, und ich atme tief durch, ehe ich leiser weiterspreche. „Aber ich bin eine einzige Enttäuschung für sie, ich kann ihr nicht unter die Augen treten.“
„Freddy, das ist nicht …“
„Doch! Sven hat mich gefeuert, ich kann nicht mehr für sie sorgen. Wir sind am Arsch.“
Mit schreckgeweiteten Augen sieht Judith mich an. „Scheiße.“ Sie streckt ihre Hand nach meiner aus und drückt sie, zieht sie aber gleich wieder zurück und schüttelt den Kopf.
„Trotzdem. Sie ist krank, sie braucht dich – mehr als je zuvor.“
Alles in mir zieht sich zusammen. Etwas in Judiths Blick lässt Panik in mir aufsteigen. Sie weiß etwas, das sie mir nicht sagt.
„Warst du bei ihr?“
Judith nickt, aber sie ignoriert meinen Blick, der fragt, ob es meiner Mutter schlechter geht. „Es macht sie fertig, dass du dich nicht meldest. Bitte geh zu ihr, damit sie wenigstens weiß, dass du lebst.“
Es ist, als ob jemand mein Herz nehmen und wie einen Lappen auswringen würde. Ich weiß, dass Judith recht hat, aber ihre Worte lassen meine Schuld noch viel schwerer wiegen. Nicht nur muss ich Mama beichten, dass ich meinen Job los bin, ich habe ihr durch mein Wegbleiben noch zusätzliche Sorgen gemacht. Diese Schuld ist noch erdrückender. Ich schaffe es kaum zu nicken.
„Würdest du mitkommen?“, frage ich leise. Es ist peinlich, aber ich brauche jemanden, der mich davon abhält, einen Rückzieher zu machen, wenn ich vor der Klinik stehen, oder eher noch, um überhaupt loszugehen. Ich verabscheue mich dafür.
Ich weiß nicht, womit ich es verdient habe, dass Judith auf meine unverschämte Bitte eingeht und nickt.
„Morgen?“, fragt sie.
Ich umklammere die Teetasse, aus der ich kein einziges Mal getrunken habe, atme tief durch. „Morgen“, sage ich.
Zum ersten Mal seit Ewigkeiten, habe ich tief und fest geschlafen, und könnte fast sagen, dass ich erholt bin. Allerdings nur, was das Müdigkeitslevel anbelangt.
Die Nervosität ist zurück, sobald ich die Augen aufschlage.
Verdammt, es sind noch mehr als sechs Stunden, ehe ich mit Judith vor der Klinik verabredet bin, und schon jetzt schlägt mein Herz bis zum Hals. Um mich abzulenken, räume ich auf, wobei ich mehr Sachen von einer Ecke in die andere stelle, da die Wohnung seit meiner Putzaktion bereits ordentlich ist.
Als ich meinen Rucksack neben den Schrank stelle, klimpert etwas. Ich öffne die vordere Tasche und greife hinein. Kühles Metall fällt mir in die Finger. Der Schlüssel vom ProTone. Vermutlich wäre es normal, Herzrasen zu bekommen, bei dem Gedanken, zu meiner ehemaligen Ausbildungsstätte zurückzukehren, um als letzten Akt den Schlüssel zurückzugeben. Doch was Sven betrifft, bin ich plötzlich erstaunlich ruhig. Vielleicht, weil mir schon wegen meiner Mutter der Arsch auf Grundeis geht und noch mehr Angst nicht möglich ist.
Ich sehe auf die Uhr, kurz vor halb neun. Sven dürfte schon im Laden sein. Ehe ich es mir anders überlegen kann, schnappe ich mir meine Jacke, stecke den Schlüssel vom Laden in die Tasche und verlasse die Wohnung.
Sven steht über eine Kiste gebeugt neben der Kasse und sortiert Bleistifte in Form von Notenschlüsseln in einen Becher, als ich an die Glastür klopfe. Er sieht auf, hebt kurz die Augenbrauen, dann lässt er die Bleistifte sinken, kommt auf die Tür zu und öffnet mir.
„Freddy.“ Svens Tonfall klingt, als würde er einem Kunden einen Preis nennen, nicht unhöflich, aber verbindlich. Ich kann nicht daraus lesen, ob er überrascht, verärgert oder gleichgültig ist, aber er lässt mich immerhin eintreten.
„Moin Sven.“
Er schließt die Tür hinter mir und kehrt an den Tresen zurück,
wo er sich wieder dem Inhalt der Kiste widmet. Ich bleibe auf der Fußmatte hinter der Tür stehen und lasse den Blick schweifen, von den Gitarren und Bässen, über die Keyboards im hinteren Bereich zu den Regalen mit Noten. Es ist vertraut und trotzdem komme ich mir vor wie ein Eindringling.
Sven sortiert stumm die Stifte und übrigen Geschenkartikel, eine Aufgabe, die ich sonst erledigt habe, und tut, als wäre ich nicht da. Das kenne ich, wenn ich in den letzten zwei Jahren bei einer schwierigen Aufgabe Zeit für mich brauchte, hat er mich immer in Ruhe gelassen, bis ich auf die Lösung kam oder ihn um Hilfe gebeten habe. Ziemlich korrekt von ihm, dass er es jetzt genauso macht, und mir wird klar, dass er trotz der Kündigung noch immer mein Ausbilder ist und mir auch heute noch etwas beibringen will. Ich bin nicht nur hier, um den Schlüssel abzugeben. Irgendein Learning soll ich heute noch mitnehmen, eins, das vermutlich nicht im Ausbildungsplan steht.
Erst als ich den Schlüssel aus der Tasche ziehe und er mir fast aus den Fingern fällt, merke ich, dass meine Hand schweißnass ist und zittert. Ich wische sie an der Hose ab, atme tief durch und gehe auf Sven zu.
„Hier, ich wollte den Schlüssel zurückgeben“, sage ich und lege ihn auf den Tresen.
„Danke dir.“ Sven nimmt den Schlüssel, steckt ihn in die Gesäßtasche seiner Jeans und widmet sich gleich wieder den Bleistiften.
Nun schlägt mir mein Herz bis zum Hals und Hitze kriecht über meine Arme. Das hier ist noch nicht zu Ende, aber Sven gibt mir keinen Hinweis, wie es weitergehen soll. Scheiße, er ist echt ein harter Knochen.
„Es tut mir leid“, sage ich den Text, den ich in den letzten Tagen schon so oft gesagt habe. Keine Ahnung, ob es das ist, was Sven hören will, aber es ist mir wichtig.
„Mir auch“, erwidert er, faltet den nunmehr leeren Karton zusammen und lehnt sich mit vor der Brust verschränkten Armen an den Tresen, sieht mich prüfend an. „Du erwartest jetzt aber nicht, dass ich die Kündigung zurücknehme, oder?“
Schön wär’s, denke ich, senke aber den Blick und schüttle den Kopf. „Nein, ich hab’s nicht anders verdient.“
„Schön, dass du das einsiehst. Ich bin ehrlich Freddy, ich hätte dir auch etwas anderes gewünscht, aber so, wie du dich verhalten hast, blieb mir keine andere Wahl.“
Sven brüllt mich nicht an, sondern spricht mit ruhiger, fast entspannter Stimme. Trotzdem fühlen sich seine Worte an wie Schläge in die Magengrube.
„Ich weiß. Es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe.“
Sven hält die Arme weiter verschränkt, hebt aber die Augenbrauen und nickt, wobei sein Bart sich auf dem Ausschnitt seines Hoodies auf und ab bewegt.
„Danke, Freddy. Entschuldigung angenommen.“ Er räuspert sich. „Weißt du, dass du mich enttäuscht hast, ist okay. Man tritt im Leben ständig Leuten auf die Füße. Du hast gute Arbeit geleistet und ich hätte dich gern bis zum Abschluss begleitet. Aber letztlich habe ich schon immer gewusst, dass du nicht hier hinter den Tresen gehörst, um Pleks und Gitarrensaiten zu verkaufen. Du musst auf die Bühne und Musik machen. Das ist dein Ding.“
Sven meint es bestimmt gut, aber seine Worte bewirken eher das Gegenteil.
Ich kann nicht mehr auf die Bühne, Gitarre spielen und singen. Ich habe die Musik verloren. Trocken auflachend schüttle ich den Kopf. „Das war mal“, murmle ich.
Sven beugt sich ein Stück vor. „Siehst du? Das ist genau dein Problem. Dass du niemandem vertraust. Nicht einmal dir selbst – das ist das Schlimmste daran.“
Ich starre ihn an, unfähig etwas zu sagen. Er hat keine Ahnung, was er da von mir verlangt. Vertrauen. Wenn ich eins in den letzten Jahren gelernt habe, dass ich niemandem vertrauen sollte. Früher oder später wurde ich nur enttäuscht und hing tiefer in der Scheiße als vorher.
Sven erwidert meinen Blick, fest und ungerührt. „Kannst du ja mal drüber nachdenken“, sagt er schließlich, greift nach dem zusammengefalteten Karton und wendet sich zum Gehen. Er macht ein paar Schritte Richtung des Lagers, dreht sich aber noch einmal um.
„Lass von dir hören.“
Damit bin ich entlassen. Sven verschwindet im Lager und kommt nicht mehr zurück. Einen Moment verharre ich auf der Stelle und schaue auf die Stelle, wo ich ihn zuletzt gesehen habe. Dann reiße ich mich los und verlasse das ProTone, Svens letzte Lektion in meinem Kopf wälzend.
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