Judith
Der Wind wirbelt mir den Nieselregen ins Gesicht und ich drücke mich enger unter das Vordach der Klinik. Leider ist es hier beinahe voll, weil Patienten, teilweise mit Infusionsständer, den Platz zum Luftschnappen oder Rauchen beanspruchen. Statt Regen bekomme ich nun Nikotin in die Nase. Seufzend ziehe ich mir die Kapuze über den Kopf und mache wieder einen Schritt ins Freie. Hoffentlich macht Freddy keinen Rückzieher.
Ruth hat mich skeptisch angesehen, nachdem Freddy gestern gegangen war und ich ihr erzählt habe, dass ich ihm versprochen habe, ihn zu seiner Mutter zu begleiten.
„Nachdem er sich so mies verhalten hat? Lass dich bloß nicht um den Finger wickeln“, hat sie gesagt, und das habe ich nicht vor. Ich kann meine Hilfe von meinen Gefühlen trennen. Das hoffe ich jedenfalls.
Vor allem hoffe ich, dass Freddy bald hier auftaucht,
denn neben Zigarettenrauch und Nieselregen dringt mir nun auch Kälte in die Kleider. Wenn er mich hier frieren und seine Mutter noch länger warten lässt, kann er was erleben.
Aber er lässt mich nicht stehen. Er kommt mit gesenktem Kopf über den Parkplatz auf den Eingang der Klinik zugelaufen und hat mich noch nicht entdeckt. Erst, als er fast das Vordach erreicht, sieht er auf.
„Hi“, sage ich und mache einen Schritt auf ihn zu.
„Hi.“ Freddy klingt heiser und im ersten Augenblick fürchte ich schon, er hätte seine Stimme wieder bei einem Metal-Konzert verloren. Aber dann sehe ich seine angespannte Miene und die Verunsicherung in seinen Augen. Die Frage, ob alles klar ist, kann ich mir sparen.
„Bist du bereit?“, frage ich stattdessen.
Freddy schüttelt den Kopf. „Nein. Aber muss ja.“
„Deine Mutter freut sich, es wird schon werden“, sage ich. Freddy sieht zwar wenig überzeugt aus, betritt aber neben mir die Klinik und gemeinsam machen wir uns auf den Weg in die Onkologie.
Seine Schritte werden langsamer und sein Atem schneller je näher wir dem Zimmer seiner Mutter kommen. Ich nehme seine Hand in meine. Als wir auf den Flur treten, bleibt Freddy plötzlich wie angewurzelt stehen. Ich habe noch die Bewegung der automatischen Tür verfolgt, sehe nun aber den Flur hinunter und verstehe, warum Freddy nicht weitergeht.
Am Ende des Flurs steht seine Mutter am Fenster, das einen Spalt breit geöffnet ist, und sieht hinaus in das Regenwetter. Mit den Händen stützt sie sich auf der Fensterbank ab. Ich zucke zusammen, als Freddys Hand sich fest um meine schließt und meine Finger zusammendrückt. Hierauf waren wir beide nicht vorbereitet. Dass diese Begegnung auf dem Flur statt in Sandras Zimmer stattfinden muss, macht es für Freddy ungleich schwieriger. Hier kann jeder zusehen. Ein Zucken wandert durch seinen Körper und er wendet den Blick in die entgegengesetzte Richtung des Flurs.
Nein, er darf jetzt nicht gehen. Er hält noch immer meine Hand und mit aller Kraft, die ich aufbringen kann, ziehe ich ihn von der Tür weg, nur einen halben Meter, aber es reicht, dass Freddy sich wieder in Bewegung setzt und ein paar langsame Schritte auf seine Mutter zumacht.
In diesem Moment sieht Sandra sich um, ihre Augen weiten sich und ihre Lippen formen Freddys Namen, ohne dass ein Laut hervordringt. Sie taumelt.
Mit ein paar schnellen Schritten ist Freddy bei ihr und hält sie fest. Seine Mutter legt ihre Arme um ihn und bettet ihren Kopf auf seine Schulter. Mein Herzschlag, der sich beschleunigt hat, als Sandra aus dem Gleichgewicht geriet, beruhigt sich langsam wieder, während ich dastehe und den beiden zusehe. Ein sanftes Beben fährt durch ihre Körper. Plötzlich öffnet Sandra die Augen, sieht mich über den Flur hinweg an und ein dankbares Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.
Ich nicke ihr zu und wende mich um. Ein Anfang ist gemacht, alles, was Freddy und seine Mutter zu klären haben, schaffen sie ohne mich.
„Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?“
Helena wirft mir ein Kissen entgegen, das ich irritiert auffange.
„Doch, klar“, behaupte ich.
„Und? Was habe ich eben gesagt?“
Mist. Schlechtes Gewissen regt sich in mir, denn ich habe tatsächlich keine Ahnung, wovon meine beste Freundin geredet hat. Ich habe nicht einmal aus der Tasse getrunken, die sie mir gegeben hat, kurz nachdem ich bei ihr angekommen bin. Der Tee ist inzwischen nur noch lauwarm.
Helena runzelt die Stirn und stellt ihre Teetasse auf ihrem Nachttisch ab. „Wo bist du denn mit deinen Gedanken?“
„Freddy.“
Helena seufzt. „Natürlich. Wo sonst?“ Sie schüttelt grinsend den Kopf. „Muss ganz schön anstrengend sein, in einen Rockstar verliebt zu sein.“
Das Bild von Freddy, der mit hängenden Schultern auf die Klinik zukommt, schießt mir durch den Kopf und ich lache bitter auf. „Freddy ist gerade so weit von einem Rockstar entfernt wie kein anderer“, sage ich. „Außerdem geht es gar nicht um ihn und mich.“
„Nicht?“
Ich schüttle den Kopf. „Nein, um ihn und seine Mutter.“
„Haben die beiden sich nicht heute getroffen?“
„Doch. Aber …“ Verdammt, wenn ich nur wüsste, wie es für Freddy und Sandra gelaufen ist. Aber ich habe mich bislang nicht getraut, ihm zu schreiben und nachzufragen, ganz abgesehen davon, dass ich ihn nicht drängen möchte. „Ich mache mir Sorgen, wie es für sie weitergehen soll.“
Helena schiebt ihre Brille ein Stück die Nase hinauf und presst die Lippen aufeinander. „Glaubst du, Freddy wird wieder abhauen?“
Obwohl ich noch nicht darüber nachgedacht habe, schüttle ich entschieden den Kopf. Was das angeht, bin ich mir auf einmal hundertprozentig sicher. Aber so froh mich diese Gewissheit machen sollte, sie hat doch einen bitteren Beigeschmack.
„Freddy ist völlig fertig, er kann sich nicht länger um alles allein kümmern“, sage ich und fasse für meine beste Freundin zusammen, was Freddy mir gestern erzählt hat, und wie er in meinen Armen zusammengebrochen ist. Helena legt ihren Arm um mich, als auch mir die Tränen kommen. Die Erinnerung an Freddys Verzweiflung tut noch immer weh und hat nichts mit Liebeskummer oder so zu tun. Ich will keinen Menschen so leiden sehen.
Zum Gück ist Helena in diesem Augenblick rationaler. „Könnte er nicht Unterstützung von einem Pflegedienst bekommen?“
„Wie sollen sie den denn bezahlen?“ Ich erinnere Helena daran, dass Sandra nur eine kleine Rente bekommt und Freddy gerade erst seinen Job verloren hat.
„Bei meinem Opa hat das die Versicherung gezahlt, nachdem meine Tante mit ihm die Pflegestufe beantragt hat.“
Ich schlucke. Pflegestufe und Pflegedienst klingt nach alten Menschen, Freddys Mutter ist Anfang vierzig. Mir ist klar, dass Krankheit und daraus resultierende Hilfsbedürftigkeit nicht immer eine Frage des Alters sind, aber es ist das erste Mal, dass es mir so nah ist.Ob Sandra eine Pflege überhaupt will? Und Freddy? Und wer bin ich, den beiden reinzureden?
Meine Kehle wird enger, je länger ich darüber nachdenke. Ich brauche einen Themenwechsel, trinke ein paar Schlucke von dem beinahe kalten Früchtetee und frage Helena nach ihren Uni-Recherchen. Ihre rechte Augenbraue wandert hinter dem Rand ihrer Brille ein Stück in die Höhe, aber sie lässt sich auf das Thema ein, und ich gebe mein Bestes, ihr zuzuhören.
Als ich später am Abend allerdings wieder zu Hause bin und ein paar Unterlagen für Panama vorbereite, öffne ich im Browser doch einen Tab nach dem nächsten und suche nach Pflegestufen, Richtlinien und Bedingungen. Kurz vor Mitternacht raucht mir der Kopf vor lauter wenn und unter Voraussetzung, dass und Prüfung durch – wer soll das nur verstehen?
Hey Judith, wie geht’s? Danke, dass du am Samstag mitgekommen bist. Mama ist seit gestern wieder zu Hause. Sie würde dich gern zum Kaffee einladen, wenn du magst.
Mein Herz wummert los, während ich Freddys Nachricht wieder und wieder lese. Dieser ersten Nachricht nach Wochen hängt noch eine zweite an, nur wenige Minuten nach der ersten geschickt.
Ich würde mich auch freuen.
Trotz des kalten Winds, der über den Schulhof weht und den typischen Nieselregen mit sich trägt, wird mir warm. Gleichzeitig raunt eine Stimme in meinem Kopf mir zu, vorsichtig zu sein. Nach allem, was in den letzten Wochen passiert ist, sollte ich mich vielleicht nicht zu früh freuen, nur weil Freddy jetzt einmal geschrieben hat. Der Schmerz über sein Schweigen und sein Verhalten ist noch nicht vollständig verheilt, trotzdem versammeln sich in meinem Bauch ein paar Schmetterlinge zu einem hoffnungsvollen Tanz.
Schön von dir zu hören. Ich komme gern. Wann passt es euch?
Ich werde schauen, was kommt.
Freddy steht etwas verkrampft im Türrahmen, aber sein Lächeln ist ehrlich – und vollständig, als ich am nächsten Nachmittag die Treppen hochlaufe.
„Hi“, sage ich und nehme ihn kurz in den Arm. Rein freundschaftlich. Das muss nichts bedeuten, oder?
Dann drücke ich ihm den Strauß Blumen in die Hand. „Halt mal kurz“, sage ich und ziehe meine Jacke aus.
„Oh, schön, danke.“
„Die sind eigentlich für deine Mutter, aber ich denke, es ist okay, wenn du sie auch anschaust.“
Freddy grinst. „Wäre jetzt sowieso zu spät.“ Er tauscht die Blumen gegen meine Jacke und hängt sie an die Garderobe.
Mit den Blumen in der Hand gehe ich ins Wohnzimmer, wo Sandra Kaffeegeschirr auf dem Esstisch verteilt. Als sie mich sieht, lässt sie die Teller stehen, wie sie sind, kommt auf mich zu und umarmt mich zur Begrüßung.
„Schön, dass du hier bist, Judith.“
Ich überreiche ihr die Blumen. „Willkommen zu Hause – und danke für die Einladung.“
Sandra nimmt mich noch einmal in den Arm. „Danke, die sind wunderschön.“
Freddy kommt mit einer mit Wasser gefüllten Vase aus der Küche, stellt sie auf den Tisch und bringt die Teller, die seine Mutter gerade nur abgestellt hat, in die richtige Position. Ich sehe ihm zu, aber er hält den Kopf gesenkt, als würde er meinem Blick gezielt ausweichen. Selbst als er mich fragt, ob ich Tee oder Kaffee möchte, sieht er schnell wieder zur Seite und verschwindet sofort wieder in der Küche. Mist, da ist immer noch so viel Unausgesprochenes zwischen uns.
„Setz dich schon mal“, bittet Sandra und geht ebenfalls in die Küche. Kurz darauf kommt sie mit einem Teller mit Franzbrötchen und Bienenstich zurück.
„Tut mir leid, wir haben es nicht geschafft zu backen …“
Ich lege meine Hand auf ihren Arm. „Ihr müsst euch nicht entschuldigen, es ist alles okay. Selbst wenn es nur ein Glas Wasser gäbe.“
„Hättest du gern ein Wasser?“, fragt Freddy und stellt die Teekanne auf den Tisch.
„Nein, Tee ist prima.“
Er setzt sich neben mich, seine Mutter nimmt auf der anderen Seite Platz. Oh Mann, das ist krampfiger als jede mündliche Befragung vor versammelter Klasse. Ich zupfe ein Stück von dem Franzbrötchen ab, das Freddy mir auf den Teller gelegt hat, und schiebe es mir in den Mund.
„Wie läuft’s bei dir mit der Schule? Lernst du schon fürs Abi?“
Freddy und ich zucken bei der Frage gleichermaßen zusammen. Ich werfe Freddy einen raschen fragenden Blick zu. Hat er seiner Mutter schon von seiner Kündigung erzählt? Er senkt die Lider und nickt. Gut, dann kann ich mich, was das betrifft, immerhin nicht verplappern. Trotzdem habe ich keine Lust, über Schule zu reden.
„Es geht. Die intensive Lernphase kommt erst noch“, sage ich. „Aber wie geht’s für euch weiter?“
Ich lasse das Franzbrötchen auf den Teller fallen. Verdammt, wieso ist mir nichts anderes für den Themenwechsel eingefallen? Beschämt senke ich den Kopf, starre auf meine klebrigen Finger. Das kommt davon, dass ich mir gestern so viele Gedanken gemacht habe.
Freddy und Sandra scheinen meine Frage allerdings nicht als persönlichen Angriff zu werten.
„Ich hab mich gestern arbeitslos gemeldet“, sagt Freddy. „Muss dafür noch einen Haufen Papier ausfüllen, aber wird schon.“
„Kommt ihr klar so lang?“ Nicht, dass ich großartig Mittel hätte, um finanziell etwas abzufangen.
„Das wird schon“, sagt Sandra, klingt dabei aber nicht so zuversichtlich, wie sie vermutlich gern würde.
„Das Gute ist, dass ich jetzt mehr Zeit für Mama habe.“
Freddys Mutter und ich seufzen gleichzeitig auf. Es ist schön, dass Freddy Sandra nicht mehr aus dem Weg geht, aber wie lange wird es gutgehen, wenn er sich nun wieder in die Pflege stürzt? Selbst wenn er aktuell nicht arbeiten geht, muss er sich für das Arbeitsamt jederzeit verfügbar halten, das habe ich gestern bei meinen Recherchen gelesen. Und wenn er nicht einmal mehr den Ausgleich in der Band hat …
„Bitte, Freddy, du kannst das nicht schon wieder alles allein schultern.“ Meine Hand liegt auf seinem Arm und ich suche seinen Blick.
„Wer soll es denn sonst machen?“
Da Freddy konsequent auf seine Hände schaut, sehe ich zu seiner Mutter, die hilflos mit den Schultern zuckt. Ihr Blick spricht Bände. Sie hat diese Diskussion offenbar auch schon erfolglos geführt.
„Habt ihr schon einmal über einen Pflegedienst nachgedacht?“, frage ich, ohne Sandra dabei aus den Augen zu lassen. Sie lächelt schwach, was mich ein Stück weit erleichtert. Sie fühlt sich nicht angegriffen.
Freddy hingegen setzt sich ruckartig auf und starrt mich finster an. „Kommt nicht in Frage.“
„Freddy“, sagt seine Mutter streng, dann schüttelt sie ratlos den Kopf. „Ich habe vor zwei Jahren schon einmal versucht, eine Pflegestufe zu beantragen. Aber die Schmerzen haben nicht gereicht, ich war nicht genug eingeschränkt.“
Freddy neben mir schnaubt verächtlich. „Die lassen uns doch eh allein.“
„Vielleicht lohnt sich ein zweiter Versuch. Die Situation hat sich schließlich verändert.“
Sandra nickt langsam und lächelt vorsichtig. „Magst du noch ein Stück Kuchen?“, fragt sie dann.
Okay, der Themenwechsel war mindestens genauso abrupt wie der vorherige, aber es gelingt immerhin, die gedrückte Stimmung etwas zu vertreiben. Sogar Freddy zeigt sich wieder etwas versöhnlicher.
Als ich mich schließlich verabschiede und im Flur die Jacke anziehe, ruht sein Blick auf mir.
„Sorry, dass ich gerade so abweisend war“, sagt er leise. „Ich muss das noch üben …“
„Schon klar“, erwidere ich, aber der Gedanke daran, wie er mich vorhin angesehen hat, als ich den Pflegedienst erwähnte, schmerzt trotzdem.
Er macht einen Schritt auf mich zu, umarmt mich, und ich erwidere die Geste. So wie bei der Begrüßung. Doch als ich die Umarmung lösen will, wandern seine Hände langsam an meinen Armen hinab und umschließen meine Hände.
Energie jagt durch meinen Körper, ein heißer Schauer, der die Sehnsucht nach dem weckt, das wir schon gemeinsam hatten. Es würde nur ein Schritt fehlen und unsere Lippen könnten sich berühren. Ich könnte meine Finger in seinem Haar vergraben, wie früher.
Es durchfährt mich eiskalt und ich ziehe meine Hände aus seinen. Es ist nicht mehr wie noch vor ein paar Wochen. Freddy hat mich erst langsam zu sich vordringen lassen, und mich dann, wie alle anderen, mit einem Mal von sich gestoßen. Was, wenn es wieder passiert? Noch einmal packe ich das nicht.
Freddy kaut auf seiner Unterlippe, seine Arme hängen kraftlos an seinem Körper.
„Sorry, ich brauche noch etwas Zeit“, sage ich leise.
Er nickt. „Klar.“
Ich wende mich hastig um, als ich höre, wie brüchig seine Stimme bei diesem einen Wort klingt, und haste die Treppen hinunter. Meine Kehle brennt und mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren. Scheiße, wieso habe ich das gesagt?
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