Freddy
Ich brauche noch etwas Zeit.
Wie ein höhnendes Mantra geistert mir Judiths letzter Satz durch den Kopf. Das Schlimme ist, dass ich sie verstehen kann. Nach allem, was ich mir geleistet habe, ist es ein Wunder, dass sie überhaupt noch mit mir gesprochen hat. Aber wieso hat sie sich dann so schnell umgedreht und ist gegangen?
Ich trete gegen das Geländer, an dem unzählige Liebesschlösser hängen, die durch die Erschütterung aufgeregt klimpernd hin und her tanzen. Mein Knie schmerzt von dem Tritt, aber dieser Schmerz ist besser auszuhalten als meine Sehnsucht nach Judith.
Finn + Soraya, 15.3.2019
Die Schrift auf einem der Schlösser prangt mir entgegen und versetzt mir einen zusätzlichen Stich. Finn.
Ich habe mich an die Landungsbrücken verzogen, um nicht zuhause sein zu müssen,
während mein Bruder unsere Mutter besucht. Seit er ausgezogen ist, habe ich nichts von ihm gehört, aber Mama hat erzählt, dass Finn sie regemäßig im Krankenhaus besucht hat. Seit gestern Abend hat sie versucht, mich zu überreden, zu bleiben, mich mit Finn zu versöhnen.
Ihr habt doch immer zusammengehalten, hat Mama gesagt und mich flehend angesehen. So wie gestern Abend schüttle ich auch jetzt wieder den Kopf. Ja, wir haben zusammengehalten. Bis Finn sich entschieden hat zu gehen.
Ich brauche noch etwas Zeit. Schon wieder dieser verdammte Satz. Der Klang von Judiths Stimme vermischt sich mit meiner eigenen. Ob ich auch einfach nur Zeit brauche, bis ich wieder auf Finn zugehen kann? Was Judith betrifft, hege ich immerhin noch eine verzweifelte kleine Hoffnung, aber bei meinem Bruder …
Ein zarter Sonnenstrahl bricht durch die Wolkendecke und glitzert auf dem schmutzig grauen Elbwasser. Wie die Sonne auf Judiths Gesicht an dem Morgen, als ich in Bayern neben ihr aufgewacht bin. Jener wunderbare Morgen.
Töne gehen mir durch den Sinn, leise Akkorde. Ich dachte, ich hätte sie erfolgreich verdrängt. Was soll das?
„Wollt ihr mich eigentlich alle verarschen?“
Eine Möwe, die neben mir auf der Promenade entlangwatschelt, sieht zu mir auf, ihr Blick scheint empört. Als ob sie und ihre Artgenossen nicht dauernd ein viel größeres Geschrei veranstalten würden als ich gerade mit meinem Ausruf. Ich sehe die Möwe böse an und sie versenkt ihren Schnabel in dem weggeworfenen Pappbecher eines Asia-Imbisses.
Wie üblich liegt das halbe Lächeln auf Mamas Gesicht, als ich wieder nach Hause komme.
Sie freut sich, dass ich wieder da bin, aber in ihren Augen sehe ich trotzdem die Enttäuschung darüber, dass ich an der Familienzusammenkunft nicht teilgenommen habe. Kein Vorwurf. Sie hat mir nicht einmal Vorwürfe gemacht, als ich ihr von der Kündigung erzählt habe. Vielleicht hat sie längst schon resigniert und nimmt den Verlust meiner Ausbildungsstelle nur als weiteres Schicksal an, was wiederum mein schlechtes Gewissen steigert. Deshalb will ich mich schnell in mein Zimmer verziehen, nachdem ich mir etwas zu Trinken aus der Küche geholt habe.
„Freddy, setz dich kurz.“
Mit der Teetasse in der Hand bleibe ich auf der Schwelle stehen und schließe die Augen. Mama klingt nicht so, als würde das, was mich erwartet, nur kurz dauern. Aber ich kann nicht so tun, als hätte ich sie nicht gehört.
Ich drehe auf dem Absatz um und setze mich zu ihr an den Tisch, halte den Kopf aber gesenkt. Meine Mutter streckt ihren Arm aus, bis ihre Fingerspitzen meine Hand berühren. In meiner Brust wird es eng und unwillkürlich spanne ich meine Muskeln an. Das hier wird mir nicht gefallen.
„Wie geht’s dir?“
Fuck, ich wusste es. Das hier ist kein Wie-war-dein-Tag-Smalltalk. „Okay, schätze ich“, antworte ich schulterzuckend. Keine Ahnung, wie ich mich fühlen sollte, oder was das ist, was sich in mir rührt. In den letzten Jahren hat es nie eine Rolle gespielt.
Zu meiner Überraschung lacht Mama freudlos auf. „Ist wahrscheinlich eine blöde Frage, oder?“
Wieder zucke ich mit den Schultern, sehe meine Mutter dabei aber an. „Ich weiß nicht.“
Mama nickt. „Vielleicht könnte ich es auch gar nicht verstehen. Schließlich bin ich nicht in der gleichen Situation wie du. Also, zumindest in einer anderen Rolle …“
Damit könnte sie recht haben. „Worauf willst du hinaus?“
Meine Mutter zieht ihre Hand zurück, streicht mit den Fingerspitzen über die Tischplatte vor sich. „Ich glaube, es könnte dir guttun, dich auszusprechen.“
„Was?“ Hitze schießt durch meinen Körper und beinahe werfe ich die Teetasse um. „Willst du mich zum Psychologen schicken?“
Mama seufzt. „Muss ja nicht gleich ein Arzt sein“, sagt sie. „Mir haben die Gespräche mit der Seelsorgerin im Krankenhaus und in der Selbsthilfegruppe schon sehr geholfen.“
„Vergiss es.“ Erinnerungen an Filme, in denen Menschen im Stuhlkreis sitzen und von ihren Problemen erzählen, schießen mir durch den Kopf. Keine zehn Pferde bringen mich da hin.
„Freddy.“ Mamas Hand streckt sich wieder nach meiner. „Ich weiß, dass dir das Angst macht. Wir haben in den letzten Jahren so viel geschwiegen über das, was uns beschäftigt. Ich, weil ich mich geschämt habe und keine Kraft hatte, und du, weil du uns beschützen wolltest. Aber es hat uns kaputt gemacht, Freddy. Und das macht mir Angst.“
Ihre Stimme kippt, Tränen glitzern in ihren Augen. Ich öffne meine Finger für ihre Hand, halte sie fest.
„Ich möchte nicht, dass du wegen mir kaputt gehst.“
Ist es dafür nicht längst zu spät? Hätte ich sonst meinen Job verloren, die Band, Finn … Judith? „Aber was soll reden da helfen? Davon wirst du nicht gesund.“
Mama zuckt zusammen, ich spüre es in ihren Fingerspitzen. „Es geht nicht um mich, Freddy. Es geht um dich.“
Es brennt in meiner Kehle und ich halte Mamas Hand fester als notwendig. Als sie aufstöhnt, lasse ich erschrocken los und sehe sie an. Schmerz spannt ihr Gesicht, aber es ist kein rein physischer Schmerz.
„Bitte, versuch es einmal. Mir zuliebe.“
Erpressung, schießt es mir durch den Kopf. Mein schlechtes Gewissen plagt mich noch immer, und diesem leidvollen und bittenden Ausdruck auf Mamas Gesicht kann ich nichts entgegensetzen.
„Okay, wenn du meinst“, sage ich leise.
Ein paar Tage später stehe ich zweifelnd vor der schmutzig weißen Fassade des Gebäudes, in der sich die Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige trifft. Das Schild des Wohlfahrtsverbands ist zwar sauberer als die Fassade, wirkt aber trotzdem nicht einladender.
Ich könnte einfach ein, zwei Stunden spazieren gehen und so tun, als wäre ich reingegangen.
Ich verwerfe den Gedanken im selben Moment, in dem er in mir aufkeimt. Auch wenn ich wenig überzeugt bin, dass reden hilft, kann ich meine Mutter nicht anlügen. Also atme ich tief durch und öffne die Tür.
Im Flur sehe ich mich suchend um. Wo genau das Treffen stattfindet, stand nicht auf der Website. Doch als ich erneut überlege, ob ich wieder gehen soll, kommt eine Frau aus einer der Türen auf der rechten Seite des Flurs. In der Hand trägt sie eine große Kaffeekanne.
„Hallo, kann ich Ihnen helfen?“
„Vielleicht, ich wollte zur Selbsthilfegruppe …“ Na ja, wollen ist zu viel gesagt, aber wenn das durch meinen Tonfall deutlich geworden sein sollte, lässt sich die Frau das zumindest nicht anmerken. Ihre Augen leuchten und sie lacht freundlich.
„Wie schön. Wir treffen uns hinten im Café, einfach den Flur bis hinten durchlaufen und dann links. Ich bin auch gleich da“, sagt sie und hält demonstrativ die Kaffeekanne hoch.
Jetzt bleibt mir wohl keine andere Wahl mehr als wirklich bis zu dem mir gewiesenen Raum zu gehen, auch wenn ich der Frau mit der Kaffeekanne gegenüber eigentlich nicht verpflichtet bin.
Das Café ist nicht besonders groß und funktional eingerichtet. Ein paar Gruppentische, die mit Kaffeegeschirr eingedeckt sind und in deren Mitte jeweils ein Teller mit Gebäck neben einer Deko mit Kerze steht. Einige Plätze sind schon besetzt, hauptsächlich von Leuten mittleren Alters, aber an einem Tisch sitzt ein junger Mann, der sich mit einer älteren Frau unterhält. Neben ihm ist noch ein Platz frei. Ich steuere auf ihn zu.
„Hi, ist hier noch frei?“
Der junge Mann und die ältere Frau nicken. „Klar“, sagt er. „Setz dich. Bist du zum ersten Mal hier?“
Ich nicke, froh darüber, dass der Typ ein Gespräch anfängt, denn ich weiß im Moment nicht, was ich sagen sollte. Ich bin ja schon froh, dass nicht alle im Stuhlkreis sitzen.
„Ich bin Robin“, stellt er sich vor.
„Und ich Siegrid“, sagt die Frau.
„Freddy“, sage ich und hänge meine Jacke über die Stuhllehne.
Muss ich jetzt sagen, woher ich komme, und was meine Geschichte ist?
Mein Magen verkrampft sich, ich spüre den Widerstand, über alles zu reden. Und selbst wenn nicht, ich kann doch Robin und Siegrid nicht direkt alles um die Ohren hauen.
„Gibt’s eigentlich keinen Kaffee heute?“, fragt Siegrid.
„Ich glaube, der ist gerade in Arbeit“, sage ich.
Siegrid wirkt zufrieden und sieht sich nach der Tür um, durch die gerade eine weitere Frau tritt. „Ach, da ist ja Eva!“ Sie wirft Robin und mir einen verschmitzten Blick zu. „Ich glaube, ich lass euch jungen Leute mal allein. Ihr habt bestimmt keine Lust, euch die ganze Zeit mit einer alten Tante zu unterhalten“, sagt sie und steht auf, vermutlich um diese Eva zu begrüßen.
„Ach, Siegrid, wir finden doch immer ein Thema“, sagt Robin lachend, hält die alte Frau aber nicht zurück. Ich sehe zwischen den beiden hin und her, es klingt so, als ob sie sich schon länger kennen würden. Wie lang die beiden wohl schon hierherkommen?
In diesem Moment kommt die Frau, die mir den Weg erklärt hat in den Raum, hält die Thermoskanne mit breitem Lachen in die Höhe und ruft „Kaffee!“
Begeistertes Raunen geht durch das Café und die meisten stehen auf, um sich ihre Tassen zu füllen. Robin greift nach der Tasse an seinem Platz und sieht mich fragend an.
„Trinkst du keinen Kaffee?“
Ich schüttle den Kopf. Mate wird es hier vermutlich nicht geben.
„Es gibt auch Tee“, sagt Robin und deutet auf einen Wasserkocher neben der Thermoskanne.
Zwei Minuten später sitze ich mit einem dampfenden Früchtetee wieder neben Robin am Tisch. An den übrigen Tischen unterhalten sich die Leute angeregt.
„Ist das hier immer so?“, frage ich.
Robin lacht auf. „Lass mich raten, du hast einen Stuhlkreis erwartet und eine Runde, in der jeder seinen Namen und sein Problem sagt.“
Ich wende beschämt den Blick ab und zucke mit den Schultern. „Schon irgendwie“, gebe ich zu.
„Habe ich auch, als ich zum ersten Mal hier war. Manchmal machen wir das auch. Aber eigentlich fangen wir immer erst mit einem lockeren Kaffeetrinken an. Unsere Probleme haben wir doch sonst 24/7 um uns herum.“
„Stimmt“, sage ich, erleichtert, dass nicht nur ich auf ein vermeintliches Klischee hereingefallen bin. „Bist du schon lang dabei?“
Robin nimmt sich einen Keks von dem Teller in der Tischmitte. „Ein Jahr. Meine Eltern haben mich überredet, herzukommen.“ Er nickt mit dem Kopf in Richtung eines anderen Tischs, wo ein paar Leute sich angeregt unterhalten.
Ich sehe Robin verwundert an. Er ist mit seinen Eltern hier? Sind sie alle drei pflegende Angehörige?
„Wir kommen nicht immer zusammen, aber heute hat’s gepasst. Familienausflug sozusagen“, sagt er schmunzelnd, doch dann wird sein Gesicht schlagartig wieder ernst. „Na ja, so halb. Meine Schwester ist zu Hause.“
Ich zucke zusammen, als ich seine Miene bei diesen Worten sehe. Ein halbes Lächeln, das die Augen nicht ganz erreicht. Meine Familie ist offenbar nicht die einzige, die diese Kunst beherrscht.
„Bleibt deine Schwester allein?“
Robin schüttelt den Kopf. „Nein, das geht nicht. Jemand vom Pflegedienst ist da.“
Pflegedienst. Es kommt mir immer noch wie ein Schimpfwort vor. Wie ein Versagen. Robin benutzt es jedoch ohne erkennbares Zeichen von Scham.
„Ist das okay für dich?“, frage ich ihn. „Also, dass jemand Fremdes sie betreut?“
„Ja, schon.“ Er sieht mich prüfend an. „Das hat aber gedauert. Am Anfang fand ich es komisch. Ich habe gedacht, dass die Ronja doch gar nicht kennen. Aber ich habe begriffen, dass genau das viel ausmacht.“
„Wie meinst du das?“
„Meine Schwester war immer sehr selbständig, hat viel ausprobiert und brauchte ihre Freiräume. Meine Eltern und ich sind einfach zu dicht dran.“
Ich schlucke eine zu große Menge Tee herunter und es schmerzt unangenehm in meiner Kehle. So habe ich das noch nie gesehen, dass die emotionale Nähe zu meiner Mutter ein Problem sein könnte. Aber eine Alternative stand halt auch nie zur Debatte. Bis jetzt.
„Vielleicht macht es das meiner Mutter auch leichter“, sage ich. „Sie schämt sich, wenn ich ihr beim Umziehen oder Waschen helfen muss.“
Überrascht, dass ich das zugegeben, überhaupt erzählt habe, zerkrümle ich einen Keks zwischen meinen Fingern, die Schokolade schmilzt und legt sich als dunkelbrauner Film auf meine Haut.
„Das kann ich verstehen. Ronja würde ausrasten, wenn ich sie nackt sehen würde.“ Er grinst. „Sie hat schon mit zwölf Tobsuchtsanfälle bekommen, wenn ich nicht geklopft habe, bevor ich in ihr Zimmer kam.“
Robin sagt es in lockerem Tonfall, es soll wohl witzig klingen, aber ich verstehe trotzdem seinen Punkt.
„War es schwer, einen Pflegedienst zu beantragen?“
„Die Beantragung war nicht das Thema“, antwortet Robin. „Meine Schwester hat die höchste Pflegestufe. Einen Pflegedienst mit freien Kapazitäten zu finden, hat länger gedauert.“
Seufzend schaue ich auf die blassrote Teepfütze am Boden meiner Tasse. Bislang war ich so sehr damit beschäftigt, eine Pflegekraft abzulehnen, dass mir noch gar nicht eingefallen ist, dass Pflegedienste nicht unendlich viel Personal haben.
„Klingt nicht gerade aufbauend.“
„Sorry, ist es auch nicht. Es hilft nur, dranzubleiben“, sagt Robin und trinkt seinen Kaffee aus. Er greift nach einem weiteren Keks und sieht mich dabei prüfend an. Ich fahre mir mit der Hand über den Mund.
„Habe ich irgendwas im Gesicht?“
„Entschuldige, nein“, sagt Robin hastig. „Ich habe nur die ganze Zeit schon das Gefühl, dass ich dich kenne. Aber ich komme einfach nicht drauf.“
Ich zucke die Schultern. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Robin heute zum ersten Mal sehe.
„Studierst du auch an der Uni?“
Mir entfährt ein Lachen. „Nee. Mit der Uni hab ich nichts zu tun.“
Es kribbelt in meiner Nase und ich muss nießen. Als ich ein Taschentuch aus meiner Hosentasche ziehe, fällt ein Plek leise klappernd auf den Boden. Dass ich diese blöden Dinger auch immer noch überall mit mir herumschleppe! Ehe ich es aufheben kann, hat Robin sich schon danach gebückt und gibt es mir zurück. Dann schlägt er sich plötzlich mit der Hand vor die Stirn.
„Oh Mann, ich habe echt den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen.“
Verständnislos sehe ich ihn an.
„Du bist der Sänger von Escape, oder?“
Es durchfährt mich eiskalt. Es kommt mir vor wie aus einem anderen Leben, einer längst vergangenen Zeit, dass diese Beschreibung zutreffend war. Wann habe ich das letzte Mal gesungen, wann war ich zuletzt Teil der Band? Für die Welt da draußen, die nur die Videos kennen, bin ich es scheinbar noch. Und das penetrante Stechen in meiner Brust sagt mir, dass ich es gern noch wäre.
„Hm“, murmle ich, als ob das irgendetwas erklären würde.
Robin lacht. „Da höre ich wegen Ronja seit Wochen kaum noch eine andere Musik, und dann check ich es nicht, wenn der Leadsänger neben mir sitzt.“
„Deine Schwester mag unsere Musik?“ Für den Moment ist es wohl einfacher so zu tun, als sei alles beim Alten.
„Mögen ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie hört nichts anderes mehr, seit euer Video uns zufällig angezeigt wurde.“
Ein leichtes Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus, ein fast vergessenes Gefühl, aber es ist wie früher, wenn ich die Freude des Publikums gesehen und gespürt habe.
„Cool, ich hoffe, du leidest nicht zu sehr darunter“, erwidere ich lachend.
„Nein, die Songs sind mega. Für Ronja sind sie gerade wie Therapie. Sie ist so glücklich, wenn sie eure Musik hört.“ Robins Augen glänzen, sein Blick geht in die Ferne, während es in meiner Kehle enger wird. Irgendwie habe ich immer davon geträumt, Menschen mit meiner Musik zu berühren, und ich habe es erlebt, wenn ich mit den anderen auf der Bühne stand. Aber das war abstrakt, eine anonyme Gruppe. Auch mit Judith war es etwas anderes. Dass jemand aus der unbekannten Masse nun einen Namen hat, ist merkwürdig.
Ich schiebe Robin das Plek hin.
„Hier, bring’s Ronja mit und bestell ihr liebe Grüße.“
Robin nimmt das kleine Stück grünen Plastiks in die Hand. „Ehrlich? Das wird sie total freuen.“
„Dann ist es gut aufgehoben“, sage ich, mehr zu mir selbst als zu Robin.
Aber er hat es gehört und schenkt mir einen weiteren prüfenden Blick. Nicht abschätzend, sondern voll ehrlichen Interesses und Verständnisses.
„Du spielst nicht mehr?“
Ich schnappe nach Luft. Woran hat er es erkannt? Doch ich nicke. Vielleicht liegt es daran, dass er unbeteiligt ist und mich nicht kennt, oder weil wir ein gemeinsames Schicksal haben, dass ich das Gefühl habe, ihm die Wahrheit zu sagen.
„Ich kann nicht mehr spielen. Die Band braucht mehr von meiner Zeit, aber meine Mutter braucht mich auch. Ich musste mich entscheiden.“
Robin kneift die Lippen zusammen und hebt die Augenbrauen, nickt langsam. „Verstehe ich. Wie geht’s dir mit der Entscheidung?“
Ein Blick von mir genügt und Robin versteht. „Wie geht’s deiner Mutter mit deiner Entscheidung?“
„Keine Ahnung, ich hab ihr noch nicht davon erzählt“, sage ich, kann mir aber bereits denken, wie Mama reagieren würde. Sie würde traurig nicken, seufzen und sich schämen, dass ich für sie dieses Opfer bringe.
„Als Ronja zum Pflegefall wurde, haben meine Eltern und ich von jetzt auf gleich unsere Hobbys an den Nagel gehängt, um für meine Schwester da zu sein“, erzählt Robin. „Es ist auch illusorisch zu glauben, dass das Leben so weitergeht wie vorher. Aber es tat uns allen nicht gut, Ronja am allerwenigsten. Papa geht jetzt wieder Badminton spielen, meine Mutter zum Chor und ich bin wieder im Studententheater.“
Ich verstehe, was er mir sagen will. „Aber ihr seid zu dritt. Und ihr habt einen Pflegedienst.“
„Das stimmt“, lenkt Robin ein. „Aber vielleicht gibt es auch für deine Mutter und dich eine Lösung.“
Vielleicht. Eine Garantie gibt es nicht. Aber so wie Robin es sagt, klingt dieses vielleicht nicht mehr so groß wie es mir noch vor ein paar Stunden vorgekommen wäre. Es ist immerhin ein vielleicht und kein unmöglich.
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