Judith
Mein älterer Bruder wirft Helena und mir von der Leiter herunter einen überraschten Blick zu. In einer Hand hält er eine Glühbirne.
„Was macht ihr denn hier?“
„Wir sind mit Kristina und Joshie zum Lernen verabredet.“
Samuel macht ein noch überraschteres Gesicht als zuvor, dann schüttelt er grinsend den Kopf und schraubt die Glühbirne in die Flurlampe.
„So’n Stress“, murmelt er.
„Nee, voll entspannt“, kontert Helena, aber ich ziehe sie weiter, ehe die Diskussion ausarten kann. Hätte sowieso keinen Zweck. Samuel hat im letzten Jahr erst kurz vor seinen Abiklausuren mit dem Lernen begonnen – und hat unverschämterweise trotzdem ziemlich gut abgeschnitten. Manchmal wünschte ich, ich könnte ebenso relaxed sein.
Außerdem freue ich mich seit Tagen zu sehr auf dieses Treffen, als dass ich mir von Samuel die Laune verderben lassen würde. Während sich in meiner Stufe schon die eine oder andere Lerngruppe gebildet hat, zu denen ich natürlich nicht dazugehören, habe ich mich schon darauf eingestellt, allein zu lernen und mit Helena ein paar Sachen durchzugehen. Als letzte Woche eine Nachricht von Kristina kam, ob ich Lust hätte, mit ihr und Joshie zu lernen, habe ich möglicherweise ein bisschen geheult vor Freude.
Jetzt mischt sich allerdings ein leichtes Grummeln in der Magengegend in meine Freude.
Seit dem letzten Escape-Konzert habe ich Joshie und Kristina nicht mehr gesehen, auch geschrieben haben wir nicht. Bislang hatten wir immer durch oder wegen Freddy Kontakt, und während ich neben Helena die Treppen in die obere Etage des Jugendzentrums gehe, frage ich mich, ob es bei unserem Treffen nicht doch auch um Freddy geht. Soll ich ihn und sein Verhalten ansprechen oder gerade nicht?
Ich habe Freddy nicht erzählt, dass ich mit seinen Band-Kolleginnen verabredet bin. Er hat mir vor ein paar Tagen lediglich geschrieben, dass er sich von seiner Mutter hat überreden lassen, zu einer Selbsthilfegruppe zu gehen. Noch habe ich nicht gefragt, wie es dort war. Sollte ich vielleicht …?
„Oh, sorry.“
Ein dumpfer Aufprall und die Stimme eines Mädchens reißen mich aus meinen Gedanken. Vor mir auf der obersten Treppenstufe steht ein Mädchen mit blauen Strähnen im schwarzen Haar, das in diesem Moment ein Smartphone sinken lässt und mich etwas beschämt ansieht.
„Kein Ding, hab‘ auch nicht aufgepasst“, erwidere ich und gehe an dem Mädchen vorbei.
Die Schwarzhaarige widmet sich wieder ihrem Handy und geht die Treppe hinunter, während ich den bunt bemalten Flur mustere. Ich war noch nie hier oben, wo die Graffitis an den Wänden beinahe eine klischeehafte Vorstellung von Jugendzentrum erfüllen. An einer Stelle ist ein riesiges Bücherregal auf die Tapete gemalt, und die aufgezeichneten Bücher liebevoll durch Figuren der jeweiligen Geschichten dargestellt. Irgendwo dahinter liegt die Bibliothek des Fleet21, hat Kristina gesagt. Allerdings ist es gar nicht so leicht, zwischen all den bunten Bildern die Türklinke zu finden, ich muss erst unsanft dagegen stoßen.
„Autsch.“ Ich reibe mir den Bauch und betrete vor Helena den Raum.
Joshie grinst mich amüsiert an. „Ha, und schon wieder jemand, der nur auf schmerzhafte Weise dieses Reich betreten durfte.“
„Sehr witzig“, murmle ich, kann der Drummerin aber eigentlich nicht böse sein. Wenn ich mich nicht von den Bildern hätte ablenken lassen, wäre mein Eintritt hier auch glimpflicher abgelaufen.
„Hey, schön euch zu sehen.“ Kristina, die neben Joshie am Tisch gesessen hat, steht auf und umarmt Helena und mich zur Begrüßung.
Es ist fast schon absurd, wie sehr ich das genieße und mich gleichzeitig darüber wundere. Ein Mensch, den ich erst seit kurzem kenne, und das noch nicht einmal richtig, freut sich, mich zu sehen und schenkt mir eine Umarmung. Ich nicke hastig und verberge damit das Schlucken, mit dem ich gegen die plötzliche Enge in meiner Kehle ankämpfe.
Helena lässt ihre Schultasche neben den Tisch fallen, an dem Joshie sitzt, und sieht sich um. „Wow, das ist echt super cozy.“
Ich habe mich wieder einigermaßen im Griff und kann meiner besten Freundin nur recht geben. Die Bibliothek ist mehr ein großes Bücherzimmer, dessen Wände rundum mit Regalen vollgestellt sind. Drei weitere Regale trennen den Raum in zwei Hälften. Rechts steht der Tisch, an dem Joshie und nun auch Kristina wieder sitzen, auf der anderen Seite stehen zwei alte Sessel unter dem Fenster. Die Polster haben eindeutig schon bessere Tage gesehen, sehen aber urgemütlich aus, und ich kann nicht fassen, dass sie unbesetzt sind.
„Wo ist das Kaminfeuer?“, frage ich.
Kristina lacht auf. „Vor langer Zeit erloschen in der Flut aus behördlichen Sicherheitsauflagen“, antwortet sie mit theatralischer Miene.
Lachend umrunde ich das Regal und setze mich zu den anderen an den Tisch. Natürlich habe ich meine Frage nicht ernst gemeint, aber ein Kamin würde das Ambiente hier definitiv noch abrunden.
„Wir sind ja auch nicht zum Chillen hier“, sagt Joshie und trommelt mit Kugelschreiber und Bleistift auf dem Collegeblock, den sie vor sich auf dem Tisch liegen hat.
Kristina wirft ihr einen spöttischen Blick zu. „Ne, ich bin überrascht, dass du überhaupt dieses Wort kennst.“
Ehe Joshie auf Kristinas Stichelei eingehen kann, zieht Helena schwungvoll ihr Biobuch aus der Tasche und knallt es auf den Tisch.
„Womit wollt ihr anfangen? Ontogenese oder Ökologie?“
Joshie lässt grinsend den Bleistift zwischen ihren Fingern kreisen. „Beides super.“
„Ihr seid unsere Expertinnen.“ Ich finde Bio nicht unspannend, als Leistungskurs, wie Helena und Joshie es gewählt haben, hätte ich mir dieses Fach allerdings nicht angetan.
„Lasst uns mit Ökologie anfangen“, bestimmt meine beste Freundin kurzentschlossen. „Habt ihr die biotischen und abiotischen Faktoren Umweltfaktoren drauf?“
Kristina zieht sich ihren langen offenen Zopf über die Schulter und beginnt, einzelne Strähnen abzutrennen und miteinander zu verflechten, während sie abiotische Faktoren aufzählt.
„Klima, Boden, Licht, Wasser, Atmosphäre …“
„Chemische und mechanische Faktoren, Relief und Feuer“, füge ich hinzu, froh darüber, dass ich mich an daran erinnere. Vor allem aber bin ich dankbar für diese kleine Lerngruppe, in der mir nur freundliche Gesichter entgegensehen.
Helena deutet eine applaudierende Bewegung an und Joshie lässt einen kleinen Trommelwirbel auf dem Collegeblock erklingen.
„Sehr gut, und die biotischen?“
„Alles andere, also das, was lebt“, sagt Kristina und wirft den nun vollständig geflochtenen Zopf zurück über ihre Schulter.
„Vermutlich wird das der Krüger nicht reichen, wenn du das so in der Klausur schreibst“, kontert Joshie.
„Biotische Faktoren sind die Wechselbeziehungen zwischen Lebewesen in Ökosystemen, oder? Also zum Beispiel Konkurrenz, Parasitismus, Räuber-Beute-Beziehung und Symbiose“, zähle ich auf.
Joshie nickt anerkennend, Kristina hebt jedoch die Hände. „Moment, nicht so schnell. Was war das? Symbiose, Konkurrenz …“
„Parasitismus, Räuber-Beute-Beziehung, außerdem auch Kommensalismus und Eusymbiose“, fügt Helena hinzu.
Stöhnend lässt Kristina ihren Kopf auf die Tischplatte sinken. „Shit, muss ich das wirklich wissen?“
„Wenn keine Aufgabe zu Ökologie drankommt, vielleicht nicht.“ Joshie lässt die Mine des Kugelschreibers ein paar Mal klickend ein- und ausfahren. „Und für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule auch nicht.“
„Die ist ein Witz gegen all die Fachbegriffe“, murmelt Kristina.
„Warum machst du dir dann so einen Stress damit?“
„Ich habe keinen Stress mit Gehörbildung und Musiklehre. Das Bewerbungsvideo muss perfekt sein.“
Joshie macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, die nehmen dich mit Handkuss. Wenn die wüssten, dass du …“
„Tun sie aber nicht. Und das ist gut so“, unterbricht Kristina ihre Freundin entschieden.
Ich konnte den Schlagabtausch der beiden nur stumm verfolgen, so schnell ging es. Was sollte wer wissen? Helena steht die Verwirrung ins Gesicht geschrieben.
„Du bewirbst dich also doch für ein Musikstudium?“, frage ich. Kurz vor Weihnachten klang das noch ganz anders.
„Ich will es zumindest probieren. Wenn es nicht klappt, kann ich immer noch Wirtschaft machen.“
„Klingt gut. Ich drück dir die Daumen. Wann ist es soweit?“
„Bis zum ersten April muss ich das Bewerbungsvideo eingeschickt haben. Wenn ich weiterkomme, ist die zweite Runde Ende Mai.“
„Hast du etwa Zweifel?“, fragt Helena erstaunt.
Joshie verdreht die Augen gen Decke. „Sie ist sich selbst nicht gut genug. Ich habe ihr schon drölfzig Mal gesagt, dass die Sonate super ist.“
„Die Sonate schon, aber ich vielleicht nicht“, erwidert Kristina mit düsterer Miene.
„Du bestimmt auch“, versichere ich. Zwar bin ich keine musikalische Überfliegerin, jeder, der den Flohwalzer spielen kann, hat mehr Musiktalent als ich. Aber ich habe Kristina spielen hören und vertraue außerdem Joshies Urteil.
„Kannst du nicht deinen Klavierlehrer oder so fragen? Der kann das doch bestimmt beurteilen, ob du gut genug bist“, schlägt Helena vor.
Kristina seufzt und Joshie kichert. „Unser Musiklehrer hat schon vor vier Jahren immer Kris ans Klavier geholt, wenn es darum ging, den Chor zu begleiten oder so.“
„Oh“, entfährt es Helena.
„Ja, oh“, bestätigt Joshie. „Nervosität und hoher Anspruch an dich selbst, ist okay. Aber bei dir grenzt es fast schon an ein Impostor-Syndrom. Das Einzige, was da noch hilft, ist Ablenkung. Also, löst doch mal diese Aufgabe.“
Sie schiebt Kristina und mir einen Zettel rüber, eine ihrer letzten Bioklausuren. Gemeinsam beugen wir uns über die gestellte Aufgabe zu Ökofaktoren. Während Kristina leise murmelnd die Sätze vorliest, vibriert mein Handy zweimal kurz hintereinander. Mist, das hätte ich vor unserer Lernsession ausstellen sollen. Vermutlich ist es unwichtig, aber trotzdem kann ich mich nicht mehr auf die Aufgabenstellung konzentrieren. Also ziehe ich das Smartphone aus der Tasche und entsperre das Display.
Zwei neue Nachrichten von Freddy.
Hitze schießt mir bis in die Fingerspitzen und mein Herz schlägt unwillkürlich schneller in meiner Brust.
Hi Judith, ich weiß, du hast gesagt, dass du Zeit brauchst, und ich will dich auch nicht drängen oder fragen, wann du soweit bist. Aber ich muss dir das hier jetzt schicken, bevor mich der Mut verlässt. LG Freddy
Unter dieser Nachricht ist eine Audiodatei angehängt.
Ja, ich habe gesagt, dass ich Zeit brauche, schließlich ärgere ich mich beinahe täglich über diesen bescheuerten Satz. Mein Herz sagt mir dreimal öfter, dass ich mich eigentlich längst entschieden habe. Deshalb stecke ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und starte die Audiodatei.
Ein paar sanfte Anschläge auf der Gitarre, nur einzelne Töne, ehe Freddy mit rauer Stimme zu singen beginnt. In meiner Kehle wird es eng. Wie sehr habe ich es vermisst, ihn singen zu hören, so sehr, dass sich nun alles in mir zusammenzieht. Ich bin so damit beschäftigt, mich über seine Stimme zu freuen, dass ich zuerst gar nicht mitbekomme, was genau er singt. Ich schließe die Augen, lehne mich im Stuhl zurück und hangle mich an den Worten entlang, die im Einklang mit den Akkorden in mein Ohr perlen. Und nicht nur dorthin. Sie dringen in jede Faser meines Körpers, setzen sich in den Hirnwindungen fest, jagen mir Gänsehaut über die Arme und treiben mir Tränen in die Augen.
Es ist nicht nur die Art, wie Freddy singt. Ich höre die Nervosität aus seiner Stimme heraus, hin und wieder raschelt es im Hintergrund, vermutlich hat er sich in seinem Zimmer mit dem Handy aufgenommen. Aber in jeder Silbe schwingt die feste Überzeugung über jedes seiner Worte. Auch in dieser ungefilterten Aufnahme höre ich, dass Freddy endlich wieder er selbst ist, zumindest in diesem Lied. In diesem Text, der schönste, den er je geschrieben hat. Und obwohl er nur auf seiner Gitarre spielt, kommt es mir vor, als würde ich viel mehr Instrumente hören.
Sobald das Lied zu Ende ist, starte ich die Aufnahme erneut. Diesmal achte ich direkt auf den Text. Ich weiß, was kommt, und doch überrollen mich die Emotionen noch stärker als beim ersten Mal. Freude, Trauer, Sehnsucht … Als der Song erneut endet, hocke ich fix und fertig auf dem Stuhl, mein Gesicht und meine Hände nass.
„Judith, was ist los?“ Kristina legt ihre Hand auf mein Knie und sieht mich besorgt an. Helena sieht aus, als wäre sie kurz davor, aufzuspringen und mich zu umarmen, und Joshie spielt für einen Moment tatsächlich nicht mit ihren Stiften herum.
Schluckend ziehe ich mir die Kopfhörer aus den Ohren und lege mein Handy in die Tischmitte.
„Das solltet ihr euch anhören“, sage ich und drücke abermals auf Play.
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