Kapitel 50 - Vertrauensübung

Judith

Zum zehnten Mal springe ich von Helenas Bett auf, gehe ein paar Schritte auf ihren Kleiderschrank zu, drehe wieder um und setze mich zurück auf die inzwischen ziemlich zerwühlte Bettdecke.

„Glaubst du wirklich, dass es nicht zu früh ist, mich mit Freddy zu treffen?“, frage ich und zupfe an den Bündchen meiner Strickjacke.

Helena dreht sich auf ihrem Schreibtischstuhl zu mir herum und verdreht dabei die Augen in einem erstaunlichen Radius. „Ich habe meine Meinung in den letzten fünf Minuten nicht geändert. – Wobei. So, wie du dich aufführst, würde ich eher sagen, es dauert noch viel zu lang.“

„Zu lang?“ Die anderthalb Stunden bis zu unserem vereinbarten Treffen sind ein Witz, und ich habe noch keine Ahnung, was ich ihm sagen soll. Und wie. Ich will ihn sehen, ihn endlich wieder im Arm halten und seine Hände auf meiner Haut spüren, ihm sagen, wie großartig sein neuer Song ist. Meine Sehnsucht erschreckt mich. Ist es nicht verrückt, nur wegen eines Lieds all meine Bedenken über Bord zu werfen?

 

„Wegen eines Lieds und der Entschuldigung“, sagt Helena.

 

„Hab ich …?“

 

„Laut gedacht? Ja!“

 

Meine beste Freundin grinst mich an. „Vielleicht solltest du noch eine Runde spazieren gehen, bevor du dich mit Freddy triffst. Du machst mir noch die Kaninchen verrückt.“

 

„Deine Kaninchen sind seit fünf Jahren tot.“

 

„Dein aktueller Adrenalinpegel reicht, um Tote aufzuwecken“, erwidert Helena schulterzuckend.

 

Ich schiebe die Unterlippe vor. „Du bist gemein.“

 

„Nur ehrlich.“ Helena steht auf, setzt sich neben mich und legt mir den Arm um die Schulter. „Es wird alles gut. Es ist okay, dass du nervös bist, und du musst ihn ja nicht gleich heiraten. Oh mein Gott, Judith, bitte mach gleich keine Dummheiten!“

 

„Haha, keine Sorge.“ Helena übertreibt maßlos.

 

„Gut. Also, wenn du meine bescheidene Meinung wissen möchtest; du bist bereit. Je länger du wartest, desto schwieriger wird’s.“

 

Ich ziehe sie fest an mich, bis sie dramatisch nach Luft schnappt. „Du bist die Beste, danke.“

 

Helena rückt ihre Brille zurecht und grinst. „Ich weiß.“

Sie zieht eine Schachtel aus dem Regal neben dem Bett, öffnet den Deckel und reicht mir einen Schokoriegel.

 

„Hier, nimm. Und jetzt geh, mach dir den Kopf frei. Ich drück euch die Daumen.“

Ich stecke die Schokolade ein, registriere, dass meine Finger dabei etwas zittern, und stehe zum elften Mal vom Bett auf. Anderthalb Stunden lang spazieren gehen, hoffentlich überlebe ich das, ohne völlig den Kopf dabei zu verlieren.

 

Zweimal bin ich im Schneckentempo am Kaiser-Friedrich-Ufer hoch und runter spaziert,

 

trotzdem schlägt mein Herz als wäre ich einen Marathon gelaufen, als ich auf die Brücke zugehe. Von der anderen Seite kommt Freddy mir entgegen, die Hände in den Jackentaschen vergraben.

Ich presse die Kiefer zusammen, weil ich plötzlich fürchte, mein Herz könnte mir sonst aus dem Mund springen. Freddy sieht mich mit großen Augen an, in seinen Mundwinkeln zuckt es, und er verlangsamt seinen Schritt. Prima, dass er offensichtlich auch nervös ist, hilft mir null.

 

Keine Ahnung, wie lang es dauert, aber schließlich stehen wir voreinander.

 

„Hi.“

 

„Hi.“

 

Wir klingen beide heiser. Ach verdammt, was soll das denn? Wir haben uns doch längst ausgesprochen. Freddy hat sich aufrichtig bei mir entschuldigt und ich habe ihm vergeben. Nur habe ich dann diesen unfassbar dummen Satz gesagt, der jetzt zwischen uns steht und nicht zulässt, dass ich mich einfach in seine Arme fallen lasse und ihn küsse.

 

„Schön, dass du …“

 

„Es tut mir leid“, falle ich Freddy unabsichtlich ins Wort. War ja klar, dass wir uns erst anschweigen und dann gleichzeitig losreden.

Jetzt sieht er mich verwirrt an.

 

„Es tut mir leid, was ich neulich gesagt habe. Dass ich Zeit brauche. Also ja, irgendwie stimmte das, aber nicht so. Ich war verunsichert und wollte mich schützen, und dann ist mir dieser Satz rausgerutscht, den ich so gar nicht sagen wollte, und …“

 

Freddy macht einen Schritt auf mich zu, nimmt meine Hände in seine und zieht mich sanft an sich.

„Es ist okay“, unterbricht er meinen Redefluss leise. „Du hattest gute Gründe vorsichtig zu sein. Mir tut es leid, dass ich für mindestens einen dieser Gründe verantwortlich bin.“

 

Ich sehe ihn an, doch er weicht meinem Blick aus. Wird er jemals aufhören, sich wegen dem zu schämen, was er verbockt hat? Es war keine Glanzleistung, aber wie soll es weitergehen, wenn wir immer wieder darum kreisen?

„Lass uns weitergehen“, sage ich.

 

Er wendet sich mir wieder zu, in seinen Augen blitzt es. „Buchstäblich oder metaphorisch?“

 

Ich muss grinsen, während mir lautpolternd eine ganze Lawine Steine vom Herzen fällt. Diese Ebene, auf der wir uns auch zwischen den Zeilen verstehen, wurde durch die Ereignisse der letzten Wochen nicht gelöscht.

 

„Beides“, sage ich.

 

Unsere Hände miteinander verschränkend gehen wir die Brücke entlang in die Richtung, aus der Freddy gekommen ist, und schlagen den Weg an der Uferpromenade ein.

 

„Wie geht es dir?“

 

Freddys Stimme ist so leise und brüchig, als ob er sich eigentlich nicht trauen würde, diese Frage zu stellen. Ich drücke seine Hand ein wenig fester, um ihm zu zeigen, dass es okay ist.

 

„Gut. Nur noch drei Wochen Schule, dann ist Abi.“

 

„Bist du nervös?“

 

„Nö, geht. Ich bin gut im Zeitplan mit dem Lernen.“

 

„Lernst du öfter mit Kris und Joshie zusammen?“

 

„Bislang nur das eine Mal, aber vielleicht treffen wir uns noch einmal. Ist das okay für dich?“

 

Freddy lacht auf. „Wieso sollte es nicht? Ich bin dir beim Abi bestimmt keine Hilfe.“

 

„Na ja, aber sie sind deine Freunde.“

 

„Die gerade zum Glück wieder mit mir reden“, sagt Freddy und lacht erneut, diesmal allerdings nicht so überzeugt wie zuvor.

 

Überrascht bleibe ich stehen. „Du hast mit der Band gesprochen? Wie lief’s?“

 

Er nickt und kratzt sich gleichzeitig mit der Hand im Nacken. „Es war nicht leicht, aber sie haben mir zugehört, und Ben hat mir sogar seine Gitarre geliehen, damit ich ihnen meinen Song vorspielen konnte.“

 

Unwillkürlich rieselt mir ein Schauer über den Rücken und die Textzeilen, die sich seit dem zweiten Hören in meinem Kopf festgesetzt haben, fangen wie von selbst wieder an zu spielen.

 

I know I’m not easy

I might even be a lost cause 

You know, I’ve always been afraid

Of them, of you and me, of us

Can you still gently take my hand

And teach me how to trust?

 

Wie beim ersten Mal steigen Tränen in mir auf, die ich vergeblich versuche wegzublinzeln.

 

„Wie wörtlich hast du den Text gemeint?“, frage ich und kann das Zittern in meiner Stimme ebenso wenig verhindern wie die Tränen.

 

Nun ist es Freddy, der stehenbleibt. Er nimmt meine Hände und sieht mir direkt in die Augen. „Ich habe noch nie einen so ehrlichen Songtext geschrieben. Ich meine jede Silbe genau so.“ Er senkt den Blick und seufzt. „Ich konnte mir das lange nicht eingestehen, aber ich schaffe das nicht allein. Kannst du mir helfen, vertrauen zu lernen?“

 

„Wieso glaubst du, dass ich die richtige Lehrerin bin?“

 

„Wer sonst?“ Freddy sieht mich mit großen Augen an und klingt ehrlich überrascht. „Du gehst offen auf alle zu, bist zu allen nett und immer positiv.“

 

Die Tränen brennen unter meinen Lidern und meine Kehle scheint auf den Durchmesser einer Spaghetti zusammengeschrumpft. So sieht Freddy mich also? Es klingt schön, wieso tut es dann gleichzeitig so weh?

 

Hallejudith, flüstert eine fiese Stimme in meinem Kopf und lässt mich zusammenzucken. Neben all dem Guten, was in den letzten Monaten passiert ist, sind es doch die Sprüche, Blicke und nicht zuletzt die Videos, die mich verunsichert haben. Die Zweifel in mir gesät haben und mich das Ende der Schulzeit kaum erwarten lassen. Und trotzdem sieht Freddy mich als positiven Menschen, der vertraut.

 

„Ich weiß nicht, ob ich damit immer richtig gefahren bin“, sage ich leise.

 

„Nicht zu vertrauen, ist keine Alternative“, erwidert Freddy und streichelt mit den Daumen über meine Hände. „Glaub mir, ich hab’s probiert, und wie du siehst, bin ich kläglich gescheitert.“

 

Seine Worte stechen mir in die Brust und überlagern den Schmerz über die Erniedrigungen in der Schule. Ich ziehe Freddy in eine Umarmung und bette meinen Kopf auf seine Schulter. „Du bist nicht gescheitert. Sonst würdest du nicht hier stehen und mich um Hilfe bitten.“

 

„Okay“, antwortet er leise, „und wie geht es jetzt weiter?“

 

Ich hebe den Kopf und sehe mich um. Auf dem Weg sind nur ein paar Jogger, hin und wieder mal Fahrradfahrer unterwegs, keine komplizierten Hindernisse. Das bringt mich auf eine Idee.

 

„Schließ die Augen“, sage ich und Freddy gehorcht ohne zu Zögern. Ich umschließe seine rechte Hand und setze mich wieder in Bewegung. „Augen zulassen“, sage ich, „Ich führe dich und sage dir Bescheid, worauf du aufpassen musst, okay?“

 

„Okay.“ Freddy klingt etwas unsicherer als zuvor, lässt sich aber darauf ein.

 

Ich führe ihn den Weg entlang, um Bäume und Papierkörbe herum, und gebe kurze Hinweise, wenn uns jemand entgegenkommt. Freddy hält meine Hand und geht ruhig neben mir her.

 

„Wie fühlst du dich?“

 

„Ganz gut, solang es nur geradeaus geht. Ich glaube, du kannst das Schwierigkeitslevel etwas anheben.“

 

Um kein Hindernis zu übersehen, konzentriere ich mich auf den Weg, aber ich höre das Grinsen in seiner Stimme.

 

„Streber“, necke ich ihn. „Aber gut, wie du willst. Machen wir es spannender.“

 

Gerade kommen wir am Isebekpark vorbei, wo ein paar Äste und Abfälle auf der Wiese liegen. Es sieht nicht schön aus, ist für unser Zwecke aber perfekt.

 

„Kannst du mich Huckepack nehmen?“

 

Freddy öffnet die Augen, sieht mich an und zieht die Stirn in Falten. „Klar, wieso?“

 

„Du bist mein Pferd mit Scheuklappen. Ich sitze auf deinem Rücken und lenke dich nur über Schenkeldruck quer über die Wiese, vorbei an den Hindernissen. Und du machst wieder die Augen zu.“

 

„Ich wollte immer schon mal Pferd sein“, erwidert er grinsend, geht in die Hocke und ich springe auf seinen Rücken. In dieser Haltung stehen wir ein paar Sekunden mitten auf der Wiese.

 

„Was ist los?“

 

„Ich bin doch ein Pferd, musst du jetzt nicht oder so etwas sagen?“, fragt Freddy todernst.

 

„In welchem Pferderoman hast du das denn gelesen? Aber gut, wenn du darauf bestehst: !“, kommandiere ich und Freddy trottet los.

 

In der einsetzenden Dämmerung ist es gar nicht so leicht, alle Hindernisse rechtzeitig zu erkennen. Die Äste sind das kleinste Problem, Kaninchenlöcher oder gefüllte Hundekottüten habe ich allerdings nicht bedacht, als ich das Spiel vorgeschlagen habe. Hin und wieder kommt der Schenkeldruck von mir daher etwas kurzfristig. Aber Freddy reagiert jedes Mal gut und je weiter wir laufen, desto mehr frage ich mich, ob dieses Spiel für ihn oder für mich die größere Übung ist. Ich fühle mich sicher auf seinem Rücken, genieße den Druck seiner Hände auf meinen Beinen, und bin versucht, den Kopf auf seine Schulter zu legen. Gerade neigt sich mein Nacken gefährlich nach vorn, als Freddy ein zufriedenes Schnauben von sich gibt und ich mich lachend wieder aufrichte.

 

„Brrr“, bringe ich hervor, tätschle seine Schulter und springe ab, bevor mich mein Lachkrampf in die Knie zwingt.

 

„Wo lernt man so lustige Spiele?“

 

Das Lachen bleibt mir im Halse stecken

 

und meine Hände verkrampfen sich zu Fäusten. Vor der Antwort auf diese Frage fürchte ich mich, seit wir uns verabredet haben. Es ist die gleiche Antwort wie auf die Frage, was sonst so bei mir los ist. Natürlich will ich ehrlich zu Freddy sein, ich muss. Meine Vernunft sagt mir, dass ich mich nicht dafür zu schämen brauche, aber meine Brust zieht sich schon zusammen, wenn ich nur daran denke. Weil ich weiß, dass meine Antwort Freddy das Herz brechen wird.

 

Ich sehe auf meine Schuhe, die im Dunkel zwischen den Grashalmen verschwinden und suche nach der Ruhe, die ich eben auf Freddys Rücken noch empfunden habe, ohne sie zu finden.

 

„In Camps“, murmle ich nach einer gefühlten Ewigkeit.

 

„Was für Camps?“

 

Verdammt, warum kann er die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen? Ich weiß, dass ich Freddy irgendwann die Wahrheit sagen muss. Aber doch nicht jetzt, wo sich gerade alles wieder so gut anfühlte. Wenn ich allerdings schweige, verspiele ich den Vertrauensbonus, den Freddy so vorsichtig austeilt, und dann ist es endgültig zu spät. Für ihn. – Für uns.

 

„Okay“, sage ich seufzend, „das ist jetzt die Lektion Vertrauen für Fortgeschrittene.“

 

Freddy lächelt. „Ich bin gespannt.“

 

Seine gute Laune macht mich fertig, merkt er nicht, wie sehr ich mit mir hadere? Ich hole tief Luft, und dann sage ich den Satz, der mich bei meiner Familie vor Freude hat hüpfen lassen, und der mir jetzt das Herz zerreißt und den Boden unter meinen Füßen wanken lässt.

 

„Ich habe eine Zusage für Panama bekommen.“

 

Freddys Schultern sacken synchron mit seinen Mundwinkeln in sich zusammen. „Oh.“

 

Ich bin zu sehr damit beschäftigt, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als dass ich etwas sagen könnte, allerdings wüsste ich auch nicht, was.

 

„Cool, Glückwunsch.“ Freddys Stimme dringt heiser durch die Dämmerung. Meint er es ernst oder glaubt er nur, das sagen zu müssen?

 

„Freddy, es tut mir leid, ich …“

 

„Was? Dass deine Bewerbung erfolgreich war? Das ist doch das, was du dir gewünscht hast.“

 

„Ja, schon …“ Ich knete meine Hände, wünschte, Freddy würde sie wieder mit seinen umschließen, und kriege es selbst nicht gebacken, auf ihn zuzugehen. Tränen brennen in meinen Augen. Schon wieder. „Aber ich will auch dich“, wispere ich. „Ich will dich nicht verlieren.“

 

„Hm.“

 

Freddy sieht mich nicht an. Scheiße, ich habe ihn überfordert, jetzt wird er wieder zumachen und die Mauern hochziehen, an denen ich nicht vorbeikomme. Still stehen wir voreinander auf der Wiese, von der langsam Kälte unsere Beine hinaufkriecht.

 

„Das war ein ganz schön großer Schritt von der zweiten zur dritten Lektion“, sagt Freddy schließlich. „Gibt’s noch ein paar Zwischenlektionen?“

 

Trotz meiner Tränen entfährt mir ein Lachen. „Weiß ich nicht. Ich fürchte, ich habe kein Modulhandbuch hierfür.“

 

Freddy streckt vorsichtig seine Hand nach meiner aus. „Dann müssen wir wohl Lektion eins und zwei wiederholen. Unter erschwerten Bedingungen.“ Er deutet auf die flackernde Laterne am Weg. „Spaziergang im Dunkeln?“

 

Ich nicke und nehme seine Hand. „Vielleicht lieber mit offenen Augen.“

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