Kapitel 51 - Verzweiflungstat

Freddy

„Willkommen zu unserer neuen Serie: Songwriting. Wir zeigen euch, wie aus einer Idee ein fertiger Song wird.“ Kristina stoppt die Aufnahme und sieht mich fragend an. „Wie war das?“

„Bisschen zu lang vielleicht.“

Wir sitzen zu zweit im Proberaum, um meinen neuen Song zu arrangieren. Zuerst haben wir überlegt, das live auf Instagram zu zeigen, aber es ist später Vormittag und die wenigsten unserer Follower sind um diese Zeit online. Allerdings müssen wir nun beide feststellen, dass mit einem Video, an dem wir noch herumschneiden können, auch der Perfektionsanspruch steigt. Kris löscht das letzte Video von ihrem Handy, stellt es wieder auf den Notenständer des Klaviers und öffnet wieder die Kamera.

„Okay, auf ein Neues. Fang du diesmal an.“ Sie drückt auf den roten Knopf.

„Hallo da draußen, hier sind Kris und Freddy und wir nehmen euch heute mal mit, während wir einen neuen Song arrangieren.“

 

Kris grinst erst mich an, dann in die Kamera. „Yes, wobei man fairerweise sagen muss, dass deine Songs auch nur mit Gitarrenbegleitung mega sind.“

 

„Danke, aber wir wollen ja, dass die ganze Band etwas von dem Song hat. Und vor allem unsere Fans.“ Ich sehe auf die Zeitanzeige der Kamera, die nun schon seit einer guten Minute läuft, und klopfe mit der flachen Hand auf den Korpus meiner Gitarre. „Okay, aber wir haben genug rumgelabert. Los geht’s.“

 

Ich lege die linke Hand um den Gitarrenhals, greife blind den Akkord und beginne zu spielen. Scheinbar wahllos lässt Kris ihre Finger auf die Tasten fallen und spielt ein paar Töne dazu, die perfekt passen, sich nicht aufdrängen, sondern eine großartige Ergänzung zu meinen Akkorden sind.

 

„So, jetzt fehlen nur noch die Bassstimme und das Schlagzeug, Ben übernimmt die Rhythmusgitarre“, erklärt Kris nach einer halben Stunde. Wir haben zwischendurch immer wieder das Video gestoppt, zusammengeschnitten werden die einzelnen Aufnahmen hoffentlich einen guten Clip ergeben. Mit unserer musikalischen Arbeit bin ich jedenfalls zufrieden.

 

„Da haben sich die letzten Freistunden doch ausgezahlt“, sagt Kristina.

 

„Ich schick meine Aufnahme gleich mal rum, dann sind die anderen für die Probe morgen vorbereitet.“ Ich schnappe mir mein Handy, mit dem ich den letzten Durchlauf, den Kris und ich gespielt haben, aufgenommen habe, und wir packen unsere Sachen zusammen.

 

„Ist eigentlich alles okay?“, fragt Kris, während wir die Kellertreppe hochlaufen.

 

„Wieso?“ Ich weiche einen Schritt von ihr zurück, als ob mich das vor weiteren Fragen schützen könnte, doch ich kann den Impuls nicht unterdrücken, zu lang habe ich ihn trainiert. Auch jetzt greift er wieder, und ich ziehe meine Schutzmauern hoch, obwohl ich auf der Vernunftebene weiß, dass Kristina mir nichts Böses will.

 

„Du siehst besorgt aus. Geht’s deiner Mutter wieder schlechter?“

 

Ich schüttle den Kopf. „Nein, sie ist zum Glück ganz okay.“ Ich zögere, als ich die letzte Stufe nehme. Vertrauen. Ich muss vertrauen, erinnere ich mich. Und Kris hat mir wie die anderen versprochen, mich nicht zu enttäuschen, wenn ich ihr mein Vertrauen schenke.

 

„Es ist wegen Judith. Sie hat eine Zusage für ein FSJ in Panama“, sage ich schließlich.

 

„Oh.“ Kristina macht ein betroffenes Gesicht. „Was macht dir dabei Angst?“, fragt sie ruhig.

 

„Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll. Was, wenn sie dort irgend so einen Pedro kennenlernt?“

 

Kristina lacht laut auf. „Sorry, aber das glaube ich nicht.“

 

„Wie kannst du dir da sicher sein?“

 

„Sicher sein kann ich nicht, aber ich kann es mir einfach nicht vorstellen.“ Jetzt ist es Kris, die zu zögern scheint, allerdings nur einen kurzen Moment. „Wo steht ihr gerade?“

 

Ich zucke mit den Schultern. Gute Frage. Judith und ich haben uns geküsst, ich habe sie näher an mich herangelassen als irgendjemanden zuvor, sie ist für mich da. Sie hat gesagt, dass sie keine Zeit mehr braucht … Aber ich? Bin ich bereit für mehr?

Kristina nimmt mein Schweigen für das, was es ist; Unsicherheit. Sie lächelt mir aufmunternd zu.

 

„Dann lös doch erst diese Frage, bevor du dir über das nächste Jahr Gedanken machst“, sagt sie, umarmt mich flüchtig zum Abschied und steigt auf ihr Rad, um zur Schule zu fahren.

 

 

Nachdenklich nehme ich die U-Bahn nach Hause. Kris hat recht, es ist noch fast ein halbes Jahr, bis Judith nach Panama aufbricht. In der Zeit kann noch viel passieren, nur wie ich sie nutzen und mir darüber klar werden soll, weiß ich auch noch nicht, als ich aus der Bahn steige und zu unserem Wohnblock hinüberlaufe.

 

In der Haustür stoße ich mit meiner Mutter zusammen.

 

Sie hat ihre Handtasche über der Schulter und den Autoschlüssel in der Hand. Ihre Augenpartien sind zusammengezogen, wodurch sich eine tiefe Falte auf ihrer Stirn abzeichnet.

 

„Mama? Wo willst du hin?“ Nicht, dass sie mir Rechenschaft schuldig wäre über ihre Termine, aber normalerweise erzählt sie immer, wenn sie zum Arzt oder einem anderen Termin muss. Für heute hatte sie nichts geplant, aber ihre angespannte Miene versetzt mich sofort in Alarmbereitschaft.

 

„Finn hat angerufen. Sein Klassenlehrer will ein Elterngespräch, aber offenbar hat Lennart ihn versetzt.“

 

Fuck. Dieser verdammte Penner. Ich wusste doch gleich, dass auf ihn kein Verlass ist. In die aufwallende Wut mischt sich die Sorge mit dem mir nur zu gut bekannten ohrenbetäubenden Herzklopfen. Wieso fordert Finns Lehrer ein Elterngespräch? Das kann nichts Gutes bedeuten.

 

„Ich komme mit“, höre ich mich sagen.

 

„Freddy, du musst nicht …“, fängt meine Mutter an.

 

„Ich weiß, aber ich will.“ Meine Entschlossenheit überrascht mich selbst. Es ist ewig her, dass ich von Finn gehört habe, selbst Mamas Gesprächsversuchen über meinen Bruder bin ich ausgewichen. Aber die Unruhe, die mich gepackt hat, lässt mich neben meiner Mutter zum Parkplatz laufen und ins Auto steigen. Hoffentlich ist es nicht so schlimm wie ich fürchte.

 

Es ist schlimm.

 

Das wird mir klar, als neben Finn nicht nur sein Klassenlehrer, sondern auch seine Sportlehrerin auf uns warten. Finns Augen werden größer, als er mich sieht, dann kneift er die Lippen zusammen und senkt den Blick, während er Mamas kurze Umarmung hinnimmt, ohne sie zu erwidern.

 

„Guten Tag, entschuldigen Sie bitte, dass es länger gedauert hat.“ Meine Mutter reicht Finns Lehrerin und seinem Lehrer die Hand. Herr Brix nickt nur kurz zu der Entschuldigung, Frau Brauers Blick wechselt jedoch innerhalb von Sekunden von Strenge zu Betroffenheit und einem beinahe verstehenden Lächeln, während sie Mamas Hand schüttelt. Man muss wirklich kein Genie sein, um Mama als Krebspatientin zu identifizieren, aber so, wie Finns Sportlehrerin sie ansieht, scheint da mehr als nur bloßes Erkennen dahinterzustecken. Doch sie sagt nichts.  Stattdessen folgt sie uns in den Klassenraum und schließt die Tür hinter uns.

 

Ich setze mich etwas abseits in die erste Reihe, während Mama neben Finn direkt vor dem Pult platznimmt, gegenüber von Frau Brauer und Herrn Brix. Finns Klassenlehrer sieht meinen Bruder und Mama mit verschlossener Miene an und verschränkt die Hände auf der Tischplatte.

 

„Frau Hermann, danke, dass Sie gekommen sind. Es ist leider kein erfreulicher Anlass, wegen dem wir um dieses Gespräch gebeten haben.“

 

Verdammt, ich wusste es.

 

„Finn ist in letzter Zeit erschreckend unausgeglichen und gerät immer wieder mit seinen Klassenkameraden aneinander, insbesondere mit einem Mitschüler.“

 

Nein, bitte nicht schon wieder, schießt es mir durch den Kopf und kurz habe ich das Gefühl als würde meine Atmung aussetzen.

 

„Gestern ist die Situation im Sportunterricht eskaliert“, fährt Herr Brix fort und wirft seiner Kollegin einen Blick zu, während Mama gleichzeitig Finn besorgt ansieht, der den Kopf aber weiterhin gesenkt hält.

 

„Willst du erzählen, was passiert ist, Finn?“, fragt Frau Brauer.

 

Erneut schüttelt Finn den Kopf. Mama legt ihm eine Hand aufs Knie. „Bitte, Finn, was ist denn los?“

 

Er schüttelt ihre Hand ab. „Lasst mich doch in Ruhe, ihr versteht das doch eh nicht.“

 

„Richtig“, sagt Frau Brauer und seufzt. „Wir verstehen es nicht, aber wir würden es gern verstehen. Deshalb sitzen wir hier.“

 

Herr Brix scheint mit seiner Kollegin nicht völlig einer Meinung zu sein, denn er zieht die Stirn in Falten und sieht Finn streng an. „Aber auch bei allem Verständnis, kann Gewalt nicht die Lösung sein. Du hast Eike schwer verletzt, und es ist wohl Glück, dass es nicht schlimmer ausgegangen ist.“

 

Meine Mutter verkrampft ihre Hände im Schoß und senkt nun ebenfalls seufzend den Kopf. „Finn …“, sagt sie leise, und obwohl sie mit dem Rücken zu mir sitzt, kann ich an ihrer Haltung und ihrem Tonfall ihre Hilflosigkeit erkennen. Diesmal können Finn und ich sie nicht davor schützen, und es ist schlimmer als beim letzten Mal. Was, wenn Eikes Mutter Finn diesmal anzeigt? Was ist mit Finn passiert, dass er Eike offenbar mehr als nur ein blaues Auge verpasst hat?

 

„Ich wollte das nicht“, murmelt Finn.

 

„Mag sein, aber du bist lang genug Basketballer, um zu wissen, was passieren kann, wenn man jemandem beim Spiel ein Bein stellt“, erwidert Frau Brauer, nun wieder etwas strenger.

 

„Finn, ist das wahr?“, fragt Mama, immer noch leise, aber hörbar entsetzt.

 

Mein Bruder zuckt mit den Schultern und nickt.

 

„Was ist mit Eike passiert?“

 

„Er hat sich beim Sturz das Handgelenk gebrochen“, sagt Frau Brauer. „Das ist natürlich nicht lebensgefährlich, aber angesichts der noch anstehenden Prüfungen sehr ärgerlich für Eike. Ganz abgesehen von den Schmerzen.“

 

Ich kann mir gerade noch ein Schnauben verkneifen, indem ich mir auf die Zunge beiße. Als ob Frau Brauer oder Eike Mama etwas von Schmerzen erzählen müssten … Aber das ändert nichts daran, dass Finn trotzdem Mist gebaut hat, der unserer Familie endgültig zum Verhängnis werden könnte.

 

„Frau Hermann, wir nehmen diesen Vorfall sehr ernst, schließlich ist es nicht das erste Mal, dass Finn mit Eike aneinandergeraten ist“, setzt Herr Brix das Gespräch fort.

 

„Natürlich“, erwidert Mama hilflos, nicht ohne Finn und mir einen raschen fragenden Seitenblick zuzuwerfen. „Es tut mir leid, dass es dazu gekommen ist. Es ist gerade nicht leicht für Finn, was allerdings keine Entschuldigung ist.“ Beim letzten Teil des Satzes wechselt ihr Tonfall von weich zu streng, worunter Finn tatsächlich kurz zusammenzuckt.

 

Auch ich zucke zusammen, allerdings nicht wegen des Vorspiels zu einer Standpauke, sondern weil Mama Frau Brauer und Herrn Brix nun offen von ihrer Erkrankung erzählt. Nicht mitleidheischend, sie legt nur die Fakten dar, trotzdem schnürt es mir die Luft ab und mein Puls beschleunigt sich. All die Jahre haben wir dieses Geheimnis gehütet, und jetzt gibt sie es einfach auf? Am liebsten würde ich aufspringen, behaupten, dass alles nur ein Missverständnis ist, und mit Mama und Finn verschwinden, am besten gleichzeitig noch die Gedächtnisse der Lehrer manipulieren. Aber ich sitze wie festgeklebt auf meinem Stuhl, und Vergessenszauber gibt es sowieso nicht.

 

„Vermutlich ist in der Zeit einiges auf der Strecke geblieben“, schließt meine Mutter ihren Bericht.

 

Herr Brix nickt, wieder mit verschlossener Miene. Ich kann beim besten Willen nicht lesen, was in ihm vorgeht. Frau Brauer nickt auch, allerdings eindeutig verständnisvoll, wenn auch die pädagogische Strenge nicht ganz von ihrem Gesicht verschwindet.

„Brauchen Sie Unterstützung? Vielleicht könnte die Familienberatungsstelle oder das Jugendamt …“

 

„Nein!“

 

Finn und ich springen gleichzeitig auf, was uns von Seiten von Finns Lehrern irritierte Blicke beschert. Zumindest mir ist das allerdings herzlich egal.

Mama hebt beschwichtigend die Hand und zieht Finn am Ärmel zurück auf seinen Platz, ich setze mich nur zögerlich wieder.

 

„Danke, das hatten wir schon einmal“, sagt Mama. „Es war eine Katastrophe und hat nicht zur Besserung beigetragen.“

 

„Tja, aber wie soll es weitergehen?“, fragt Herr Brix. „Wir können nicht zulassen, dass Finn dauernd um sich schlägt, oder so tun, als wäre nichts passiert.“

 

„Natürlich nicht“, stimmt Mama ihm zu. „Finn, wir werden darüber sprechen und nach einer Lösung suchen. Aber so etwas wie gestern wird nicht mehr vorkommen.“

 

Woher sie die Überzeugung nimmt, ist mir schleierhaft. Weder weiß ich, wie eine Lösung aussehen sollte, noch wie Mama verhindern will, dass Finn und Eike wieder aneinandergeraten. Aber sie klingt entschlossen wie schon lang nicht mehr, und das lässt mich ruhiger werden.

 

„Das wollen wir hoffen“, sagt Herr Brix. „Eine Klassenkonferenz wird allerdings dennoch einberufen werden.“

 

„Sicher.“ Mama nickt, steht auf und gibt Herrn Brix und Frau Brauer die Hand.

 

Sobald wir das Schulgebäude verlassen haben und aufs Auto zusteuern, gerät Mamas selbstsichere Fassade ins Wanken. Ihre Schultern sinken herab und sie stützt sich zitternd mit der Hand ans Autodach.

 

„Finn, was hast du dir nur gedacht?“ Ihre Stimme kippt und Tränen treten ihr in die Augen.

 

„Es tut mir leid, Mama. Wirklich.“

 

Ich mustere Finn, wie er in geknickter Haltung vor ihr steht. Er hat sich verändert in den letzten Wochen. So verloren hat er schon lang nicht mehr ausgesehen, sieben Jahre nicht, um genau zu sein. Trotz der Gesichtszüge, die härter sind als damals und angespannter als vor ein paar Wochen, sehe ich wieder den kleinen Jungen.

 

„Schickst du mich weg?“, fragt er leise.

 

Mama wird bleich und mir wird eiskalt. Die Angst in Finns Stimme ist beinahe greifbar.

 

„Niemals.“ Mama zieht Finn in eine Umarmung.

 

„Er will mich nicht“, sagt er, immer noch leise, aber laut genug, dass ich es höre.

 

Ich bin mir sicher, dass Frau Brauer oder Herr Brix keine Ahnung haben, wie sehr ein kurzer Satz oder auch nur ein Wort einen reizen kann, dass man auch mit der friedfertigsten Einstellung Amok laufen könnte. In diesem Moment könnte ich ihnen einiges dazu erzählen. Natürlich wusste ich, dass auf Lennart kein Verlass ist. Doch so sehr es mir gegen den Strich ging, dass Finn zu ihm gezogen ist, so habe ich trotzdem irgendwo gehofft, dass es ihm gut gehen würde. Jetzt hat dieses Arschloch von einem Vater ihn wieder verletzt, zum tausendsten Mal.

 

„Darf ich wieder nach Hause kommen?“, fragt Finn über Mamas Schulter hinweg.

Sie zieht ihn zur Antwort noch fester an sich. Der Blick meines Bruders ruht jedoch auf mir.

 

Ich nicke. „Immer.“  

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