Kapitel 52 - Zwischen Wahrheit und Kuss

Judith

Endlich frei! Seit ich das Schulgelände am Freitag verlassen habe, fühle ich mich mindestens zehn Kilo leichter. Nie wieder muss ich mit meinen Klassenkameraden im Unterricht sitzen, muss nicht das Getuschel in den Pausen fürchten oder neue Episoden von Videos auf dem Schulklo hören. Heimlich habe ich in meinem Zimmer ein paar Tränen verdrückt, sobald ich meine Schultasche abgestellt hatte. 

Jetzt sitze ich vor meinen Deutschbüchern und wiederhole die Merkmale der verschiedenen Literaturepochen, als es an der Tür klopft und meine Mutter das Zimmer betritt.

 

„Störe ich?“

 

„Nö, was gibt’s?“

 

Mama tritt hinter mich an meinen Schreibtisch und wirft einen Blick über meine Schulter. „Sollen wir die Woche gemeinsam nach einem Kleid für den Abiball schauen?“

 

Ich erstarre über der Übersicht zur Barockliteratur, und während ich Mama nur mit aufgerissenen Augen anstarren kann, schlägt mein Herz wie verrückt. Shit, shit, shit. Ich habe den Abiball kategorisch abgehakt und daher verdrängt, dabei hätte mir klar sein müssen, dass meine Mutter früher oder später mit mir shoppen gehen wollen würde. Nun scheinen ihr jedoch Zweifel zu kommen. „Oder willst du lieber mit Helena shoppen gehen?“

 

In einem anderen Leben wäre das womöglich eine Variante gewesen, aber Helena geht schließlich auch nicht zum Ball. Und bevor meine Eltern sich noch für meinen Schulabschluss neu einkleiden, sollte ich lieber reinen Tisch machen. Ich lege meinen Kugelschreiber auf die Schreibtischunterlage, schüttle den Kopf und atme tief durch.

 

„Ich geh nicht hin“, erkläre ich.

 

Meiner Mutter fällt die Kinnlande herunter. „Was? Wieso das denn nicht?“

 

Ich seufze, nehme den Kugelschreiber wieder zur Hand und klicke ein paar Mal auf den Druckknopf. Fast ein Jahr habe ich das, was an der Schule passiert ist, vor meiner Familie geheim gehalten. Zuerst vermutlich, weil ich nicht geglaubt hätte, welche Ausmaße es annehmen würde, schließlich weil ich wenigstens zu Hause nicht mit dem Thema konfrontiert werden wollte. Und jetzt …? Soll ich meinen Eltern auf den letzten Metern noch Sorgen machen? Sie könnten doch auch nichts ausrichten. Selbst die Schulleitung und meine Lehrer haben trotz ihrer Nachforschungen nicht herausgefunden, wer die Videos produziert und geteilt hat. Es ist also wohl das Beste, wenn ich mich damit abfinde und nicht noch andere belaste.

 

„Ich hab einfach keine Lust einen pseudodramatischen Abschied zu feiern, wo man sich ständig erzählt, dass man sich voll vermissen, aber auf jeden Fall in Kontakt bleiben wird, und nach zwei Monaten hat man sich schon vergessen. Und tanzen war sowieso nie mein Ding“, sage ich und fühle mich tatsächlich fast so gleichgültig wie ich klinge.

 

Meine Mutter macht dennoch ein enttäuschtes Gesicht. „Schade, ich hatte mich schon auf die Feier gefreut.“

 

„Tut mir leid“, sage ich. „Können wir nicht hier feiern? Ich würde lieber mit euch und Leuten, die mir wirklich wichtig sind, feiern, und auf diesen pompösen Krams verzichten.“

 

„Es ist dein Abschluss“, sagt Mama, „wenn du lieber eine Gartenparty hättest, machen wir eine Gartenparty.“

 

Meine Mundwinkel wandern weit über mein Gesicht. „Klingt super. Könnte Helena mit ihrer Mutter dazukommen?“

 

„Will sie etwa auch nicht zum Abschlussball?“

 

„Nope.“

 

Mama schüttelt den Kopf. „Unfassbar. Aber mir soll es recht sein. Hättest du für die Abi-Gartenparty denn gern ein neues Kleid?“

 

Mein Grinsen wird noch breiter. „Sag doch einfach, dass du mit mir shoppen gehen willst.“

 

„Na hör mal, ein bisschen Mutter-Tochter-Zeit wird doch erlaubt sein. Schließlich muss ich bald ein Jahr auf dich verzichten“, erwidert meine Mutter und stemmt in gespielter Entrüstung die Hände in die Hüften.

 

Ich springe auf und nehme sie in den Arm.  „Ist erlaubt“, sage ich lachend, und die Vorfreude auf die Shoppingtour überdeckt für den Moment meine Gewissensbisse darüber, dass ich meiner Mutter nicht die ganze Wahrheit gesagt habe.

 

 

Freddys Finger liegen warm zwischen meinen.

 

Unsere Daumen kreisen sanft umeinander, und bei jedem Schritt nach vorn gehen wir gleichzeitig ein paar Millimeter aufeinander zu. Er nach links, ich nach rechts, bis unsere Schultern sich berühren, während wir unsere fast schon angestammte Route am Kaiser-Friedrich-Ufer entlanggehen. Obwohl wir jeden Tag schreiben oder telefonieren, haben wir seit dem Nachmittag, an dem ich mit ihm die Vertrauensübungen gemacht habe, nicht mehr über Panama gesprochen. Erst wollte ich ihn nicht drängen, und dann passierte das mit Finn. Ich freue mich so sehr für Freddy, und auch für Sandra, dass die Familie nun wieder zusammen ist.

 

„Du siehst gut aus“, sage ich und drücke seine Hand ein wenig fester.

 

Freddy wirft mir einen belustigten Blick zu. „Äh … danke?“

 

„Ich meine das ernst. Man sieht dir an, dass du glücklicher bist als vor ein paar Wochen.“

 

„Oh, echt?“

 

„Echt“, wiederhole ich. „Geht es gut mit Finn?“

 

Freddy pustet sich eine Locke aus der Stirn und lächelt so versonnen, dass mir ganz warm wird. „Er bittet mich jeden Abend, Gitarre zu spielen, bis er einschläft. Das habe ich früher immer gemacht, als er noch kleiner war.“

 

„Das klingt schön. Hat er erzählt, wie es bei seinem Vater war?“

 

Augenblicklich verdüstert Freddys Miene sich und eine tiefe Falte teilt seine Stirn. „Nein“, sagt er kopfschüttelnd. „Er ist noch schweigsamer als vorher, dafür hilft er mehr als früher im Haushalt.“

 

„Zumindest letzteres ist doch nicht so schlimm“, sage ich schmunzelnd, werde aber gleich wieder ernst. Ich möchte Freddy nicht den Eindruck vermitteln, als würde ich seine Sorge und seine so deutliche Wut über Finns Vater für übertrieben halten. „Es war bestimmt nicht leicht für ihn. Deine Musik hilft ihm bestimmt sehr.“

 

„Ich hoffe es. Manchmal spiele ich auch nachts leise, wenn er nicht gut schläft.“

 

Tränen der Rührung brennen in meiner Kehle und eine Woge der Liebe für diesen Jungen neben mir überrollt mich, sodass ich mir nicht anders zu helfen weiß, als ihn in den Arm zu nehmen und fest an mich zu ziehen.

 

„Das ist so schön, dass du das für ihn tust“, sage ich. „Könntest du beim nächsten Mal eine Liveschaltung machen? Ich würde dich auch gern spielen hören, wenn ich einschlafe“

 

Freddys Arme liegen locker um meine Hüften, doch dicht genug, dass ich die Veränderung wahrnehme, die nun durch seinen Körper geht. Seine Muskeln spannen sich und sein Griff wird fester. „Für dich würde ich gern noch etwas anderes tun, bevor du einschläfst“, sagt er leise.

 

„Was denn?“, bringe ich mühsam hervor, weil mein Herz plötzlich einen doppelten Salto schlägt und meinen Körper erbeben lässt.

 

In Freddys Augen blitzt es. „Das hier.“

 

Er legt seine Hände sanft um meinen Hals, streichelt mit den Daumen meine Wangen und drückt langsam seine Lippen auf meine.  Erst ist es nur eine vorsichtige Berührung, Haut an Haut, doch dann umschließt sein Mund meine Unterlippe, ich schließe meine Lippen über seiner, bis ich den Druck seiner Zunge spüre. Ich öffne meinen Mund, heiße seine Zungenspitze mit meiner willkommen. Freddys Kuss wird fordernder, ein Drängen, auf das ich mich nur zu gern einlasse.

 

Verdammt, das fühlt sich so gut an, und ich weiß jetzt schon nicht, wie ich jemals wieder klarkommen soll, wenn dieser Moment endet. In dieser Nähe liegt so viel Halt, während ich mich gleichzeitig fühle, als würde ich mindestens zehn Zentimeter über dem Boden schweben.

 

Langsam und mit größter Vorsicht löst Freddy seine Lippen von meinen, hält mein Gesicht aber weiterhin zwischen seinen Händen und sieht mir tief in die Augen.

 

„Wow“, entfährt es mir, wenn auch mit belegter Stimme. „Das hier jeden Abend vor dem Einschlafen?“

 

„Jeden Abend. Und zu jeder anderen Tageszeit, wenn du willst. Vielleicht kommen wir so auf ausreichend Küsse, die vorhalten, bis du wieder da bist.“

 

Die Magie des Moments zerbricht wie Glas und ich weiche einen halben Schritt zurück.

 

„Du willst nicht, dass ich nach Panama gehe“, sage ich und hoffe wirklich, dass es nicht wie eine Anklage klingt.

 

Freddy lächelt schief. „Wenn ich egoistisch sein darf, ja. Aber ich habe kein Anrecht auf dich, und ich glaube, ich weiß, wie viel dir das FSJ bedeutet.“

 

In Sekundenschnelle habe ich den halben Schritt, den ich vorhin zurückgemacht habe, wieder überwunden und schließe Freddy erneut in eine feste Umarmung.

„Danke.“

 

„Ich hab ein bisschen Schiss, wie es ohne dich werden soll … Okay, ziemlich Schiss“, gibt er zu. „Hast du noch eine Vertrauensübung?“

 

„Kommt Sonntag zum Oster-Kaffee vorbei“, sage ich grinsend.

 

„Was? Gehört das zum Lektionsplan?“ Freddy sieht mich ungläubig an, dann schüttelt er den Kopf. „Ich kann doch Mama und Finn doch an Ostern nicht allein lassen.“

 

Ich verdrehe seufzend die Augen. „Du hast mir nicht zugehört. Ich sagte nicht komm, sondern kommt. Ihr seid alle eingeladen. Und ja, das gehört zum Lektionsplan.“

 

Freddy öffnet den Mund, holt Luft, und schließt ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Ich nicke anerkennend.

 

„Sehr gut. Keine Widerrede. Du wolltest doch wissen, wieso ich vertrauen kann. Du wirst es erleben.“

 

„Okay. Äh, danke.“ Freddy kratzt sich am Kopf und sieht so herrlich verwirrt aus, dass ich laut auflache.

 

„Lachst du mich aus?“

 

„Niemals“, beteuere ich und pieke ihm meinen Zeigefinger in den Bauch.

 

Freddy reißt empört die Augen auf. „Na warte“, ruft er, streckt die Hand nach mir aus, doch ich weiche blitzschnell zurück und laufe den Weg hinunter. Freddy jagt mir lachend hinterher. 

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