Kapitel 53 - Fragen und andere Antworten

Freddy

Ich lenke unser altes Auto in eine Parklücke vor der Klinik und ziehe die Handbremse an. Stumm starre ich durch die Windschutzscheibe auf den dunkelblauen Kleinwagen vor uns. Was die Besitzer dieses Autos hier wohl machen? Nur einen kurzen Besuch? Oder sind sie zu einer Untersuchung hier? Es fällt leichter, mir darüber Gedanken darüber zu machen, als über den wahren Grund, warum ich hier bin.

Auch Mama, die neben mir auf dem Beifahrersitz sitzt, hält einen Moment inne, ehe sie sich zu mir umdreht.

„Danke fürs Bringen“, sagt sie und lächelt zaghaft.

 

„Klar. Soll ich noch mit reinkommen?“

 

Mama schüttelt den Kopf und legt ihre Hand auf meinen Arm. „Ist lieb, aber brauchst du nicht. Ich hab‘ ja noch ein bisschen Zeit.“

 

„Okay.“ Natürlich hätte ich sie begleitet, aber ich bin trotzdem froh, dass sie allein zur Onkologie gehen will. Allein bei dem Wort bekomme ich schon Bauchschmerzen, was vielleicht lächerlich ist, im Vergleich zu dem, was die Patienten dort durchmachen – was Mama dort durchmacht. „Meldest du dich dann, wenn du fertig bist? Dann hole ich dich ab.“

 

„Mach ich. Danke, Freddy.“ Sie streckt die Finger nach dem Türgriff aus und schenkt mir einen langen Blick. „Du siehst gut aus.“

 

Stirnrunzelnd sehe ich meine Mutter an. Das hat sie mir noch nie so gesagt, vor allem nicht mit diesem seltsam leuchtenden Blick, der nicht dazu passt, dass sie in einer halben Stunde ihren nächsten Chemoblock beginnt. Und wieso sagt mir in letzter Zeit eigentlich ständig jemand, dass ich gut aussehe?

 

„Was meinst du?“

 

Mama lächelt verschmitzt. „Du und Judith, ich freu mich so für euch. Sie tut dir gut.“

Unwillkürlich schließe ich die Hände fester um das Lenkrad. Auch diesen Satz habe ich schon einmal gehört, von Johnny. Ihm habe ich damals widersprochen, und auch jetzt flammen die Zweifel wieder auf.

 

„Und ich?“

 

„Was meinst du?“, wiederholt Mama meine Frage verwirrt.

 

„Glaubst du, ich bin auch gut für sie?“, frage ich leise.

 

„Ich hab keinen Job, und wenn sie bald nach Panama fliegt, kann ich sie nicht einmal besuchen.“

 

Mama seufzt, was nicht gerade dazu beiträgt, dass sich meine Zweifel legen, aber dann legt sie mir noch einmal die Hand auf den Arm, drückt ihn durch den Stoff meiner Jacke und sieht mich ernst an.

„Freddy, so wie sie dich am Sonntag angesehen hat und wie du mit ihr umgegangen bist, habe ich nicht den geringsten Zweifel daran.“

 

Ich habe keine Ahnung, was sie meint. Klar, Judith hat mich vorgestern beim Osterkaffee oft angelächelt. Wir haben uns sogar vor unseren Familien geküsst, wenn auch zaghaft, was verdammt schwer war. Wie Mama daraus ableiten will, dass ich Judith guttue, ist mir schleierhaft.

 

„Du trägst sie auf Händen“, sagt sie. „Keiner eurer Väter hat mich jemals so behandelt.“

 

Sie wendet rasch den Kopf in die andere Richtung, doch ich sehe noch, wie sich bei dem letzten Satz ihr Blick verdüstert. Auf einmal ist da so viel, das ich meine Mutter fragen will. Dinge, über die wir nie gesprochen haben. Weil ich zu jung war, weil Mama krank war und keine Zeit blieb.

Auch jetzt ist keine Zeit, diese Fragen zu stellen. Die Digitaluhr im Armaturenbrett springt auf 10:15 Uhr. Mama nickt kurz und drückt die Beifahrertür auf.

 

„Ich muss los. Bis später.“

 

„Bis dann. Viel Glück“, antworte ich, während ich mir gleichzeitig fest vornehme, Mama bald all diese Fragen zu stellen, die mir in der letzten Minute durch den Kopf geschossen sind.

 

„Dir auch“, sagt sie, wirft die Tür zu und winkt mir noch einmal zu.

 

Ein paar Sekunden sehe ich ihr hinterher, dann drehe ich den Zündschlüssel und fahre vom Parkplatz.

 

 

Es wäre einfacher gewesen, das Auto zuhause zu parken und mit der Bahn in die Stadt zu fahren.

 

Vor lauter Fragen und Aufregung habe ich nicht daran allerdings nicht gedacht und fahre nun schon die dritte Schleife auf der Suche nach einer Parklücke. Endlich schert einige Meter vor mir ein Kombi vom Straßenrand aus und fädelt sich in den Verkehr ein. Mit den Händen am Lenkrad drücke ich mir selbst die Daumen, dass keines der vier Autos vor mir in diese Lücke fährt. Ich habe Glück, sie ziehen vorbei und ich kann einparken.

 

Mir ist ein wenig mulmig, als ich die fünfzig Meter aufs ProTone zulaufe.  Zwar hat Sven gesagt, ich solle mal von mir hören lassen, aber auf einmal bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob das nur eine Floskel war. Unschlüssig sehe ich auf das Papier in meiner Hand. Wird Sven mir erlauben, es aufzuhängen? Andererseits, wieso sollte er nicht? Es hängen tausend anderer Zettel am Schwarzen Brett.

 

Ich werfe einen Blick durch das Schaufenster und entdecke Sven schließlich hinten bei den Keyboards, wo er offenbar in einem Kundengespräch ist. Perfekt, so kann ich mich noch ein bisschen akklimatisieren. Ich atme noch einmal tief durch, dann drücke ich die Klinge und betrete den Laden.  

 

Sven sieht auf, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, und hebt überrascht die Augenbrauen. Sein Mund formt sich zu einem Lächeln. Ein Glück, er wird mich wohl nicht hochkant rausschmeißen.

 

Ich würde gern behaupten, dass ich geduldig warte, aber das tu ich nicht.

 

Mein Hals schlägt mir trotz Svens freundlichem Gesicht bis zum Hals und in meinem Bauch rumort es heftig. Vielleicht hätte ich doch etwas frühstücken sollen. Das Papier, das ich zusammengerollt in der Hand halte, knackt leise, als ich meine Finger auf und ab bewege. Wenn ich so weiter mache, brauche ich es gleich nicht mehr aufzuhängen.

 

Ich lasse meinen Blick über das Schwarze Brett wandern, das vor Plakaten, Zetteln und Flyern fast schon überquillt. Ob mein Zettel da überhaupt auffällt? Eins der Plakate sticht mir sofort ins Auge und drückt mir im Bruchteil einer Sekunde die Luft aus den Lungen. Die Konzertankündigung von Mooor Sacrifice. Wär ich doch nie hingegangen zu dem verdammten Gig. Dann hätte ich vermutlich einen anderen Weg gefunden, um den Karren vor die Wand zu fahren. Wäre, hätte … Jetzt bin ich hier und muss zusehen, wie ich das Beste aus er Situation mache.

 

Hinten im Laden reicht Sven dem Kunden ein Paar Kopfhörer, woraufhin dieser sich an eins der Keyboards setzt. Sven kommt zu mir herüber, immer noch lächelnd, aber die Überraschung ist Neugier gewichen.

 

„Moin, Freddy. Was machst du denn hier?“

 

Das Papier in meiner Hand hat schon einige Knicke davongetragen, trotzdem halte ich es meinem ehemaligen Ausbilder jetzt unter die Nase.

 

„Ich wollte fragen, ob ich das hier aufhängen kann.“

 

Sven nimmt es entgegen und rollt den Zettel auseinander. „Du willst Gitarrenunterricht geben?“

 

Ich zucke mit den Schultern als ob es mir egal wäre. Die Wahrheit ist, es ist für mich die einfachste Variante, kurzfristig ein bisschen Geld zu verdienen, mit etwas, das ich kann. Doch so, wie Sven mich jetzt ansieht, mit kritischer Miene, kommen mir Zweifel.

 

„Glaubst du, ich hab keine Chance gegen die studierten Musiker?“

 

Sven seufzt und schüttelt augenrollend den Kopf. „Mann, Freddy, was hab ich dir über Selbstvertrauen gesagt?“ Er haut mir mit der Papierrolle auf die Stirn. „Ich bin froh, dass du wieder Musik machen willst. Du bist gut genug, um anderen was beizubringen.“

Er greift hinter den Tresen und drückt mir ein Päckchen Reißzwecken in die Hand. „Hier, häng dich auf“, sagt er grinsend.

 

Noch ehe ich mich der Pinnwand zuwende, fährt Sven sich erst über den Kopf, dann durch den Bart und seufzt. „Da muss dringend aussortiert werden.“

 

Er wirft einen Blick nach hinten in den Laden, wo der Kunde noch immer mit Kopfhörern vor dem Keyboard sitzt und vor sich hin spielt und folgt mir zur Pinnwand. So kurzentschlossen, dass es mir fast schon wahllos erscheint, rupft er Plakate und Flyer von der Wand. Auch die Konzertankündigung von Mooor Sacrifice findet ihren Weg in die Ablage P, die Sven spontan auf dem Boden eröffnet. Anstatt meinen Zettel aufzuhängen, helfe ich Sven, die Altlasten loszuwerden.

 

Erst als das Schwarze Brett beinahe jungfräulich aussieht und Sven sich bückt, um den Müll aufzuheben, befestige ich meinen Zettel mit vier Reißzwecken auf der Wand und überfliege noch einmal den Text. Dann wandert mein Blick zu einem Aushang, der für privaten Klavierunterricht wirbt. Neben dem Text, der sich nicht wesentlich von meinem unterscheidet, prangt ein Foto von dem jungen Studenten. Timo sieht sympathisch aus, und die meisten Schnipsel mit seiner Handynummer und Mailadresse sind bereits abgerissen. Ich kneife die Lippen zusammen. Hätte ich auch ein Foto einfügen sollen? Würde das eher Vertrauen wecken? Na ja, jetzt ist es auch egal.

Ich wende mich ab, gehe zum Tresen und gebe Sven die Schachtel mit den Reißzwecken zurück.

 

Er nickt dankend. „Wie läuft es sonst mit der Musik? Ich hab eure Songwriting-Reels auf Instagram gesehen. Klingt richtig gut.“

 

Einen Moment lang kann ich ihn nur anstarren. Sven schaut sich tatsächlich unsere Reels an? Sogar jetzt noch? Und dann gefällt ihm Trust auch noch, obwohl er privat eigentlich einen ganz anderen Musikgeschmack hat! Ich kann es kaum glauben.

 

„Danke. Vielleicht liegt’s an dem Song, dass die anderen mir noch ne Chance gegeben haben …“

 

„Bekommt man ihn bald ganz zu hören?“, fragt Sven.

 

Ich sehe ihn geheimnisvoll grinsend an. Bislang haben wir nur Schnipsel von dem Song geteilt, sodass man einen Eindruck bekommt, aber selbst wenn man alle Reels zusammenschneidet, nicht das gesamte Lied hören kann. Sven ist nicht der erste, der danach fragt.

 

„Bestimmt“, sage ich. „Wir sind eigentlich fertig mit den Arrangements, aber wir wollen den Song auch gern wieder im Studio aufnehmen und auf den Streamingdiensten teilen.“

 

Dummerweise ist das Studio in Bens Musikschule für die nächsten Wochen komplett ausgebucht, Das gleiche gilt für die meisten Studios im Großraum Hamburg. Oder sie sind schlichtweg zu teuer für uns.

 

Sven tippt sich an die Nasenspitze und greift in eine der Ablagen hinter dem Tresen, sucht einen Augenblick und stößt schließlich ein triumphierendes „Ha!“ aus.

„Wusste ich doch, dass ich den noch hier rumliegen habe“, sagt er und reicht mir einen Flyer in Postkartengröße. „Den hatte ich eigentlich auch an die Wand pinnen wollen, aber weil eh kein Platz war … Na ja, ist jetzt auch egal. Vielleicht könnt ihr etwas damit anfangen.“

 

Bilder von einem LKW, eine bunte Überschrift und Silhouetten von Instrumenten im Hintergrund. Studio on Tour – Music-Truck. Ein komplettes Tonstudio in einem LKW.

 

„Danke, klingt mega.“

 

Sven nickt, setzt zu sprechen an, aber in diesem Moment erhebt sich der Kunde hinten im Laden von dem Klavierhocker und legt die Kopfhörer ab.

 

„Viel Erfolg, wir sehen uns“, sagt Sven noch, während er sich bereits umdreht und zu dem Kunden rübergeht.

 

Ich kann nur nicken, drehe noch einmal den Flyer zwischen meinen Fingern hin und her. Meine Gedanken nehmen Fahrt auf, und noch ehe die Tür des ProTones hinter mir ins Schloss fällt, kreisen sie bereits in atemberaubendem Tempo. 

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