Kapitel 54 - Ist doch nur Abi

Judith

Warmer Popcornduft weht mir entgegen, als Joshie mir die Tür öffnet und mich mit einem freudestrahlenden Lächeln umarmt.

„Hey, komm rein.“

„Machen wir einen Filmabend?“, frage ich, während ich aus meinen regennassen Schuhen schlüpfe und die Jacke möglichst weit von den anderen entfernt auf einen Garderobenbügel hänge.

„Also, wenn ich ehrlich bin, hätte ich auf Percy Jackson definitiv mehr Lust als auf Shakespeare und Co“, erwidert Joshie und geht mir voran durch den Flur. „Aber wir können es uns beim Lernen ja wenigstens gutgehen lassen.“

Sie führt mich in eine geräumige Wohnküche, wo Kristina pfeifend vor der Anrichte steht und die tanzenden Maiskörner in der kleinen Popcornmaschine beobachtet.

„Und ich dachte, du bist schon mit Hamlet beschäftigt“, sagt Joshie lachend.

 

Kris wendet sich mit gespitzten Lippen und erhobenen Augenbrauen zu uns um und begrüßt mich ebenfalls mit einer Umarmung. „Ich habe meditiert.“

Sie klingt todernst und wendet ihren Blick auch gleich wieder der Popcornmaschine zu.

 

„To pop or not to pop?”, murmelt sie.

 

Joshie verzieht das Gesicht. „Eww, Kris, that’s disgusting!“

 

„Sorry“, sagt Kris schulterzuckend, kann sich das Grinsen aber kaum verkneifen. Sie stellt die Maschine aus, füllt das noch dampfende Popcorn in eine Schüssel und trägt es zu dem Esstisch, wo Joshie und sie schon ihre Lernsachen ausgebreitet haben.

 

Ich nehme mir einen freien Stuhl, lege meinen Englischhefter auf den Tisch und das Handy daneben. Prompt blinkt es auf, und während Joshie und Kristina sich am Popcorn bedienen, öffne ich die Nachricht von Freddy.

 

Hi Judith, viel Erfolg beim Lernen.

 

Ich will schon antworten, da folgt direkt eine weitere Nachricht, diesmal mit Bild. Mit einem Mal ist mein Mund ganz trocken und ich atme unwillkürlich schneller, ohne den Blick von dem Screenshot abwenden zu können.

 

Falls es mit dem Abi nicht klappt, kannst du Schauspielerin werden 😉

 

Auf dem Screenshot hat Freddy mit der Zeichenfunktion einen wilden roten Kringel gemalt. 340.000 Klicks. Für Girl in the Crowd.

 

„Krass.“

 

„Was?“

 

Ich sehe auf und fange Joshies fragenden Blick. Stumm reiche ich ihr mein Handy mit der geöffneten Nachricht und Joshie und Kristina beugen sich gemeinsam über das Display.

 

Kris lacht auf. „Na, Freddy muss es ja wissen“, sagt sie, dann scheint sie den Kringel zu entdecken und wird blass. „Okay, wow, das ist …“

 

„… ganz schön viel“, führt Joshie den Satz flüsternd zu Ende. „Wenn das so weitergeht, haben wir die Kosten für den Music-Truck bald wieder drin. Also, wenn das mit den Werbeeinnahmen klappt.“

 

„Da mache ich mir gar keine Sorgen. Immerhin hat Ben sich das auf die Fahne geschrieben“, erwidert Kristina. „Bis zum Studio-Termin sind wir wahrscheinlich schon börsennotiert.“

 

Mein Herz macht einen Satz und ich greife hastig in die Schüssel und nehme mir eine handvoll Popcorn.

 

Kauen beruhigt. Und Popcorn auch. Leider funktionieren hektisches Kauen und schnelles Atmen nicht gut zusammen. Ein winziges Stückchen Maisschale bleibt in meinem Rachen kleben und kratzt wie verrückt. Hustend versuche ich es loszuwerden, aber es hängt fest.

 

Joshie springt auf und reicht mir kurz darauf mit besorgter Miene ein Glas Wasser. Ich trinke, merke, wie das Kratzen meine Kehle hinunterrutscht und sich endlich verflüchtigt.

 

„Danke“, krächze ich. „Ich sollte nur Flüssignahrung zu mir nehmen, wenn Freddy mir solche Nachrichten schickt.“

 

Kristinas und Joshies erschrockene Gesichter lösen sich in Lachen auf. „Und wir sollten uns mit unseren Witzen zurückhalten. Am Ende sind wir noch schuld, wenn Freddys Girl in the Crowd nicht mehr miterlebt, wie wir die Millionenmarke knacken“, sagt Joshie glucksend.

 

„Nicht lustig“, erwidert Kris und wirft Joshie einen bösen Blick zu.

 

Augenblicklich wird Joshie wieder ernst. „Sorry.“

 

„Schon okay“, sage ich abwinkend und nehme mein Handy wieder an mich. „Wie läuft’s mit den Proben?“

 

Nicht, dass Freddy mir in den letzten Tagen nicht schon immer begeistert davon erzählt hätte, aber mich interessiert auch, was seine Bandkolleginnen denken. Kristinas leuchtende Augen sprechen allerdings Bände.

 

„Mega. Ich hoffe, das klingt jetzt nicht total scheiße, aber irgendwie war dieser Tiefpunkt neulich wohl wichtig für Freddy.“

 

Kristina sieht mich zweifelnd an, als ob sie fürchten würde, ich könnte jeden Augenblick auf sie losgehen. Aber ich bleibe ruhig auf meinem Platz sitzen.

 

„Ich weiß, was du meinst“, sage ich leise. Meine Gedanken wandern zum gestrigen Nachmittag, den ich mit Freddy erst an der Elbe und schließlich im Fleet21 verbracht habe. Seine Stimme hat sich beinahe überschlagen, als er von den Plänen der Band sprach. Noch immer ist mir ganz warm ums Herz, wenn ich an die Freude denke, die aus jedem Wort und seinen Augen sprach.

 

„Er lernt wieder zu vertrauen.“

 

Kristina nickt. „Das hat er vor allem dir zu verdanken. Ohne dich würde er wahrscheinlich immer noch in diesem Loch hängen.“

 

Ich will etwas erwidern, aber Joshie kommt mir zuvor. „Da fällt mir ein, hast du nicht schon letztes Jahr gesagt, dass du Judith dafür die Füße küssen wolltest?“

 

Ich lache laut auf, während Kris stöhnend ihren Kopf in den Händen vergräbt. „Oh Joshie, wer dich zur besten Freundin hat, braucht echt keine Feinde mehr.“

 

Joshie zuckt unbekümmert die Schultern. „Ich mein ja nur. Deine Worte.“

„Jaaaa, aber …“

 

„Schon gut, Kris, ich erlasse dir diese Schuld“, sage ich immer noch lachend. Zwar kann ich nicht leugnen, dass ich gern wüsste, wann sie das wieso gesagt hat, aber Joshies Sticheleien, so lieb sie vermutlich auch gemeint sind, will ich sie trotzdem nicht länger aussetzen. Sie sieht mich dankbar an und kreuzt dabei die Hände auf ihrer Brust.

 

„Kris hat schon recht, ich werde das Gefühl nicht los, dass du unsere Band vor dem Aus bewahrt hast“, sagt Joshie ernst.

 

„Wow, das klingt schon ziemlich nach Rock n Roll.“

 

„Und gar nicht nach Verantwortung. Bin ich auch für euren Erfolg zuständig?“ Ich bemühe mich um einen lockeren Tonfall, dass meine Kehle enger wird, kann ich jedoch nicht verhindern.

 

Joshie grinst. „Du musst nur Freddy weiterhin zu genialen Songs inspirieren. Aber no pressure.“

 

Lachend schüttle ich den Kopf. Ich bin mir nicht sicher, wie ernst Kris und Joshie das alles meinen, und ob mir die Richtung gefällt, in die dieses Gespräch geht. Ich bin froh, dass Freddy wieder Musik macht und sich mit der Band versöhnt hat, ich glaube, er tut genau das Richtige. Vielleicht habe ich einen Teil dazu beigetragen, dass er allem noch eine zweite Chance gibt. Aber ich brauche keine Heldenrolle in dieser Geschichte. Die Wahrheit ist wohl, dass Freddy mindestens genauso viel für mich getan hat, auch wenn ich objektiv betrachtet nicht ganz so am Arsch war wie er.

 

„Er bedeutet mir viel“, sage ich leise.

 

Kris streckt über den Tisch hinweg ihre Hand nach meiner aus. „Das sieht man, und ich bin sehr froh, dass ihr euch gefunden habt. Nicht wegen der Band.“

 

„Ich weiß“, sage ich und ergreife ihre Hand, weiche ihrem Blick aber aus, weil sich ein leider viel zu bekanntes Brennen in meine Augen stiehlt. Ich will jetzt nicht heulen. Auf der Suche nach einem anderen Ziel für meine Augen, sehe ich in das blasierte Gesicht von Shakespeare, das auf dem Cover der Hamlet-Schullektüre prangt. Die gespitzten Lippen unter dem Schnurrbart scheinen zu sagen: Schwachheit, dein Name ist Weib.

Der muss es ja wissen. Trotzig schlucke ich die Tränen runter.

 

„Sollen wir noch was lernen?“, frage ich, obwohl mir der Sinne so gar nicht nach dem bescheuerten Dramatiker steht.

 

Kristina checkt die Uhrzeit auf ihrem Handy und macht große Augen. „Oh – die Zeit ist aus den Fugen“, proklamiert sie.

 

„Sein oder nicht sein“, ergänzt Joshie grinsend und schlägt energisch ihre Aufzeichnungen zu. „Die wichtigsten Zitate können wir. Ich glaube, wir packen das nächste Woche schon.“

 

 

Als ich eine Woche später in die Straße einbiege, in der unsere Schule liegt, bin ich von Joshies Prognose nicht mehr so ganz überzeugt.

 

Meine Hände klammern sich fester als sonst um den Fahrradlenker und mit jedem Meter, den ich der Schule näherkomme, liegt mir mein Frühstück schwerer im Magen. War es klug, gestern nicht mehr zu lernen? Bin ich gut genug vorbereitet? Welche Stilmittel gibt es noch mal? Anapher, Allegorie, Metapher … Scheiße, das sind doch viel mehr. Wie heißen die?

Braucht eine Nonne überhaupt Abi?

 

Abrupt ziehe ich die Handbremsen an und komme so plötzlich zum Stillstand, dass ich beinahe über den Lenker gehe. Erst im letzten Moment kann ich einen Sturz verhindern. Verdammt, woher kam dieser Gedanke? Hatte ich all diese Fragen nicht endgültig aus meiner Erinnerung verbannen wollen? Hat ja gut geklappt. Nicht.

Wie werden die anderen reagieren, wenn sie mich gleich wiedersehen? Ob in den letzten Wochen ein neues Video in den Chats geteilt wurde?

 

Auf einmal bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das Frühstück sich noch in meinem Magen befindet oder gerade den Rückweg antritt. Scheiße, nicht auch das noch. Blamieren kann ich mich echt anders. Hektisch schnappe ich nach Luft, schließe die Augen und kämpfe die Übelkeit nieder. Dann setze ich mich langsam wieder in Bewegung, auf den Schulhof zu, obwohl mein ganzer Körper danach schreit, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen.

 

Ich halte den Blick gesenkt, als ich auf die Fahrradständer zusteuere, so sehe ich nur aus den Augenwinkeln ein paar Leute auf dem Schulhof stehen. Beim Abschließen schaue ich auf die Uhr, noch eine Viertelstunde bis zum Prüfungsbeginn. Ewig kann ich mich also nicht mehr hier herumdrücken. Tief durchatmend richte ich mich auf – und stolpere beinahe einen Schritt zurück.

 

Vor mir steht Freddy und lächelt mich an. „Hi, Judith.“

 

„Freddy, was machst du hier?“, stammle ich, sobald ich mich von dem ersten überraschten Schrecken erholt habe.

 

„Ich dachte, jetzt, wo ich die Ausbildung vergeigt habe, könnte ich es mal mit Abi probieren“, sagt er schulterzuckend, dann breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Ich wollte dir viel Glück wünschen.“

 

„Das hast du doch schon gestern Abend“, wende ich ein und könnte mich im selben Moment dafür ohrfeigen. Es ist so schön, dass Freddy gekommen ist, meinetwegen, nur um mir das zu sagen. Die Übelkeit von eben ist verflogen, zurück bleibt nur ein sanftes Schmetterlingsflattern im Bauch. Ich werfe einen Blick zur Seite und entdecke Melanie und Oksana, die an der Schulmauer lehnen und zu Freddy und mir herüberstarren.

 

Freddy legt seine Hand sanft an meine Wange und schiebt meinen Kopf in die andere Richtung. „Sieh nicht hin. Die wissen nicht, wie großartig du bist.“

 

Mein Blick verschwimmt, während Freddys Worte in mich eindringen. Ich versuche mir ein gemütliches Nest in meinem Herzen vorzustellen, in das ich sie betten kann, und zu denen ich mich legen kann, um mich immer wieder an sie zu schmiegen. Und während dieses Nest in mir Gestalt annimmt, überwinde ich den Abstand zwischen Freddy und mir und lasse mich in seine Umarmung fallen. Das Streicheln seiner Hände auf meinem Rücken ist wie sanfter, warmer Regen, und lässt mich mit jeder erneuten Berührung ruhiger werden. Ich hebe meinen Kopf ein Stück, bis sich unsere Nasenspitzen berühren, sanft aneinanderreiben, und schließlich unsere Lippen sich finden.

 

„Du schaffst das, Judith“, haucht er mir zu.

 

Ich lege die Worte mit in das Nest in meinem Herzen, küsse ihn wieder.

 

„Ich glaub an dich.“ Er umschließt weich meine Unterlippe, fährt mit der Zungenspitze darüber. Sanft stupse ich mit meiner Zungenspitze dagegen. Er lächelt, beim Küssen, hält meine Hände, fährt mit seinen Fingern über meine Fingerknöchel. Es könnte ewig so weitergehen.

 

Aber nein. Aus den Augenwinkeln sehe ich ein paar meiner Stufenkameraden an uns vorbei auf den Eingang zulaufen.

 

„Wir romantisch“, sagt irgendjemand abfällig, und sofort sticht ein Messer in die kleine Horde Schmetterlinge.

 

Freddy fasst meine Hände fester. „Scheiß auf das, was sie sagen. Du bist mehr als das, was sie in dir sehen.“

 

Woher hat er diese wunderschönen Worte? Ich blinzle heftig und nicke. Ich weiß, dass er recht hat. Es sollte mir egal sein, jetzt, während der Klausur, immer. Freddy fährt mir mit den Daumen über die Wangen und wischt meine Tränen weg. Dann greift er in seine Jackentasche und zieht eine Tafel Schokolade heraus. Als ich den Schriftzug lese, den er auf ein Extrapapier darauf geklebt hat, fange ich fast wieder an zu heulen.

 

For the one and only Girl in the Crowd – and always more than that XXX

 

Noch einmal drücke ich fest meine Lippen auf seine. „Danke“, flüstere ich.

 

„Viel Glück.“

 

Er bleibt stehen, bis ich das Schulgebäude betrete und hebt kurz die Hand, als ich mich noch einmal nach ihm umdrehe. Er lächelt, und ich lächle zurück, ungefähr fünf Kilo leichter als noch vor einer Viertelstunde. Diese Abiprüfung muss ich allein schreiben, aber ich habe ein Lächeln, Küsse und ein Nest voller Worte in mir, die mich begleiten.

 

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