Kapitel 55 - Studiotag

freddy

„Abgefahren“, entfährt es mir, als ich mit den anderen auf dem Parkplatz im Gewerbegebiet ankomme, wo der Musik-Truck in diesen Tagen Station macht.

Johnny lüpft seine Kappe und grinst mich an. „Ne, zum Glück nicht. Sonst hätten wir ein Problem.“

„Haha“, sage ich, verzichte aber darauf, ihm in die Seite zu boxen, wie ich es sonst vielleicht gemacht hätte. Die Tatsache, dass Johnny so dämliche Witze macht, zeigt, wie beeindruckt er ist. Und das, obwohl er in seiner Ausbildung sicher schon ganz andere Dinge gesehen hat. 

„Lasst uns ein Vorher-Nachher-Bild machen“, sagt Joshie und zieht ihr Handy hervor.

 

„Du kannst nicht vorher ein Nachher-Bild machen“, erwidert Ben trocken.

 

„Thanks, Mr. Obvious. Möchtest du dich trotzdem für ein Foto zur Verfügung stellen?“, fragt Joshie, während Johnny, Kris und ich uns schon nebeneinander aufbauen, und sie dirigiert Ben mit ihren Drumsticks in unsere Richtung. Wie schafft sie es eigentlich, immer mit diesen Holzstöcken zu hantieren?  Schlagzeugermysterium. Ben folgt dem Wink jedenfalls und Joshie positioniert sich vor uns, streckt ihren Arm weit aus, und macht ein Selfie.

 

„Soll ich ein Bild von euch und dem Truck machen?“

 

Wir fahren auseinander und sehen zu der Frau, die plötzlich auf der Metalltreppe steht, die zu einer Tür im Truck führt. Die Haare über ihrem braunen Undercut sind knallrot gefärbt, ihre linke Augenbraue zieren zwei Piercings und auf ihren Armen, an denen sie die Ärmel ihres Hoodies bis zu den Ellenbogen hinaufgeschoben hat, prangen bunte Tattoos.

 

Sie grinst uns an. „Hi, seid ihr Escape? Ich bin Britt.“

 

Während wir uns von dem Schrecken erholen, kommt Britt die Treppe herunter, nimmt von Joshie das Handy entgegen und macht aus ausreichendem Abstand ein Foto von uns.

 

„Ready to rock?“, fragt sie, als sie unserer Drummerin das Handy zurückgibt.

 

„Safe“, erwidert Ben und folgt Britt als erste die Treppe zum Truck hinauf.

 

„Na dann mal rein in die heiligen Hallen.“

 

Mir klappt die Kinnlade herunter, als ich durch die Tür ins Innere des Truck trete, und auf die mit hellem Holz verkleideten Wände sehe. Einfach nichts hier drin erinnert daran, dass wir uns hier in einem LKW befinden, allerhöchstens die langgezogene Form des Raumes. Im hinteren Bereich befindet sich ein kleines Podest, auf dem ein Schlagzeug, ein Keyboard und ein paar Mikrostative stehen. Vor dem Podest ein durch Fenster abgeteilter Bereich, der Aufnahmeraum, wie ich vermute. Davor der Kontrollraum mit Mischpult. Im Eingangsbereich sind ein paar Sitzgelegenheiten aufgebaut und es gibt sogar einen kleinen Schrank mit einem Kaffeeautomaten und einem Kühlschrank.

 

Krass. Bis vor ein paar Minuten, ehe ich mit den anderen den Parkplatz betreten habe, fühlte es sich noch unwirklich an, dass wir wieder im Studio sein würden. Jetzt fühle ich mich wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal all seine Weihnachtsgeschenke sieht und gar nicht weiß, womit es zuerst spielen soll. Am liebsten würde ich mir sofort meine Gitarre schnappen und losjammen, gleichzeitig ist da eine nervöse Anspannung, die mich ehrfürchtig auf der Stelle stehen lässt.

 

Von dem Platz vor dem Mischpult erhebt sich ein Mann mittleren Alters und kommt freundlich lächelnd auf uns zu.

 

„Hi, ich bin Hardy“, begrüßt er uns.

 

Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nur ein Spitzname ist, aber er passt zu ihm. Sein Klamottenstil passt zu dem von Britt. Hardy trägt abgerissene Shorts und ein Festival-T-Shirt, und auch seine Arme sind tätowiert, wenn auch nicht ganz so bunt wie die von Britt. Im Vergleich zu den beiden sehen wir fünf geradezu spießig aus. Weder Britt noch Hardy scheint das aber zu kümmern. Nachdem wir uns alle vorgestellt haben, zeigt Britt uns die einzelnen Bereiche des Trucks und Hardy fragt, ob wir schon Studioerfahrung haben.

 

„Wir haben letztes Jahr zwei Songs im Studio der Musikschule aufgenommen“, berichtet Ben schulterzuckend. Vermutlich will er lässig wirken. Aber sein Tonfall ist nicht so selbstbewusst wie sonst, und ein Blick in sein angespanntes Gesicht verrät mir, dass er sich nicht so professionell fühlt wie er gern würde. Auch das scheint Hardy nicht zu stören.

 

„Macht euch keinen Kopf, wenn ihr schon zehn Alben aufgenommen hättet, wärt ihr nicht hier“, sagt ihr. „Das bisschen, was ihr schon wisst, reicht – und ansonsten lernt ihr noch etwas dazu.“

 

„Cool“, sagt Kristina und atmet geräuschvoll aus. „Können wir vielleicht trotzdem einmal zusammen spielen, bevor wir mit den Einzelaufnahmen starten? Ich glaube, ich muss erst warm werden.“

 

Britt grinst. „Klar, dann baut euch mal auf.“

 

Joshie stürmt direkt nach hinten zum Podest und positioniert sich hinter den Drums. Während Ben, Johnny und ich noch unsere Instrumente auspacken und verkabeln, streicht Joshie mit den Händen über die Felle und Becken und ihre Augen leuchten mit den hellen Deckenspots um die Wette.

 

„Sooo schön“, sagt sie und testet den Sound der Basedrum. Ein sattes Bumm ertönt. „Wow. Ich glaube, die Drums entführe ich euch“, sagt sie an Britt gewandt.

 

„Kein Problem“, erwidert diese, „macht einen Aufpreis von sechseinhalb Tausend.“

 

Joshie seufzt, dann lässt sie einen Trommelwirbel auf der Snare erklingen. „Jungs, dieses Lied muss ein Hit werden. Ich brauch so ein Schlagzeug.“

 

„Und ich brauch ein Ticket nach Panama“, entgegne ich und stelle die Höhe des Mikrostativs vor mir ein.

 

Vom Keyboard ertönt ein uns schon bekannter Telefon-Werbejingle. „Womöglich müssen wir uns irgendwo einen Proberaum mieten“, ergänzt Kristina.

 

Hardy lacht. „Ihr gefallt mir. Ich glaube, wir werden einen spaßigen Tag miteinander haben. Lasst mal hören, ob euer Song Hitpotential hat.“

 

„Hey, ich hab mir noch nichts gewünscht“, sagt Johnny mit gespielter Empörung.

 

„Dein Glück, dann wird dein Wunsch wenigstens wahr“, erwidert Britt augenzwinkernd und setzt sich im Schneidersitz vor das Podest.

 

Ich sehe rasch zwischen Ben, Johnny und Joshie hin und her, fange Kristinas Blick vom Keyboard, dann gibt Joshie den Takt vor und wir beginnen zu spielen. Die Akkorde meiner E-Gitarre drehen sich um mich, verbinden sich mit den sanften Tönen von Johnnys Bass und fangen die Klänge vom Keyboard ein. Das alles legt sich wie eine vertraute Decke um mich, und ich schließe entspannt die Augen, ehe ich mich einen Zentimeter vorbeuge und die ersten Zeilen ins Mikro singe.

 

I know I’m not easy

I might even be a lost cause 

You know, I’ve always been afraid

Of them, of you and me, of us

Can you still gently take my hand

And teach my how to trust?

 

Als wir in den Refrain überleiten, öffne ich wieder die Augen, sehe Britt und Hardy mit konzentrierter und bewegter Miene an der Wand lehnen. Hardy nickt im Takt, Britt grinst, als Joshie am Schlagzeug einsetzt und Ben mit der Zweitstimme einsteigt. Es sind nur Britt und Hardy, die hier vor dieser Art Bühne stehen, trotzdem gebe ich alles, lege all mein Gefühl in diesen Song. Wie automatisch vervollständigt sich das Bild und ich stelle mir Judith, meine Mutter und Finn im Publikum vor – ich singe für sie, und die Unsicherheit, die beim Betreten des Trucks in mir aufgeflammt ist, verschwindet mit jedem Ton. Es fühlt sich so richtig an. Ich spiele Gitarre, ich singe, zusammen mit den anderen.

 

Hier gehöre ich hin.

 

After all I’ve lost

It’s time to move on

And finally learn how to trust

 

Die Holzverkleidung schluckt den Klang schneller als die Wände im Proberaum, vielleicht fällt mir deshalb auf, wie still es nach unserem Song im Truck wird. Dann klatscht Hardy in die Hände. Langsam, und nur viermal, schließlich schlägt er mit der Flachen Hand gegen die Akustikpanele.

 

„Fuck“, sagt er. Meint er seine vielleicht schmerzende Hand oder den Song?

 

„Ich fühle Hitpotential-Vibes“, sagt Britt und streicht sich mit den Händen über die nackten Arme, als ob sie eine Gänsehaut verjagen wollte.

 

„Ehrlich?“ Warum fällt es mir so schwer, die Anerkennung anzunehmen? Auf den Gesichtern der anderen liegt jeweils ein glückliches Lächeln, nur ich beiße mir auf die Lippen und warte darauf, dass Hardy oder Britt die Köpfe schütteln und so etwas sagen wie Ne, war nur Spaß oder Ja, ganz nett. Kann man mal hören.

 

Doch sie sagen nichts dergleichen. Stattdessen schüttelt Hardy den Kopf, lacht kurz auf und fixiert mich mit seinem Blick. „Ich hab schon viele Songs in diesem Truck oder in anderen Studios gehört. Viele waren gut, einige sehr gut. Und bei manchen habe ich gedacht Fuck, wie schafft dieses Lied es, dass ich jede verdammte Silbe so derbe fühle?

 

Er deutet mit der Hand abwechselnd auf uns und nickt noch einmal. Oh … okay. Ich schlucke. Ich kenne Hardy nicht, kann nur von den ersten Eindrücken und seinem Erscheinungsbild vermuten, dass er nicht der größte Redner ist und einen weichen Kern unter einer harten Schale versteckt, und dass er in seiner privaten Plattensammlung definitiv etwas anderes stehen hat als Indie-Rock. Wenn ihm Trust gefällt …

 

„Danke“, sagt Kristina. „Freddy fällt das noch schwer, Lob anzunehmen.“

 

Prima. Musste sie das jetzt sagen?

 

Hardy sieht mich an. „Das solltest du lernen. Denn wenn dieses Lied in die Welt geht, wirst du das noch öfter hören.“

 

Ich fahre mit der Hand den Gitarrenhals auf und ab. „Okay …, ich geb mir Mühe.“

 

„Awesome“, sagt Britt, klatscht in die Hände und erhebt sich aus dem Schneidersitz.

 

„Dann lasst uns anfangen, diesen Hit aufzunehmen.“

 

Joshie ist als erste an der Reihe. Einen Moment schauen wir ihr zu, wie sie mit Kopfhörern hinter den Drums im Aufnahmeraum sitzt und konzentriert ihren Part einspielt. Kristina filmt ein paar Sekunden, um sie auf Instagram hochzuladen.

Johnny deutet mit dem Kopf Richtung Ausgang und sieht mich fragend an. Ich nicke und gemeinsam mit Kris und Ben folge ich ihm nach draußen.

 

Kaum stehen wir auf dem Parkplatz, zündet Johnny sich eine Zigarette an und lehnt sich mit dem Rücken gegen den bunten Truck. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und checke meine Nachrichten.

 

Uuuund? Wie läuft’s?

 

Grinsend tippe ich eine schnelle Antwort an Judith. Ganz gut. Joshie spielt gerade die Drums ein.

 

„Liebe Instagram-Gemeinde, hier seht ihr die harte Realität. So sozial kompetent sind Bandmitglieder in der Pause“, ertönt plötzlich Bens Stimme neben mir. Unser Bandältester steht mit erhobenem Smartphone vor uns und hält die Kamera abwechselnd auf Johnny und mich. „Der eine steht in der Ecke und raucht, der nächste hängt am Handy …“

 

„Und der dritte hat nichts Besseres zu tun, als das für die Ewigkeit festzuhalten und ins Netz zu stellen“, gibt Johnny trocken zurück, wobei ein kleines Rauchwölkchen unter dem Schirm seiner Basecap hervorschwebt, was doch irgendwie witzig aussieht.

 

Ben grinst, trotzdem bin ich froh, dass Johnny diesen Spruch gebracht hat. In den letzten Wochen haben sich die Wogen zwischen uns zwar wieder geglättet und wir können normal miteinander reden, aber ich will das Schicksal lieber nicht herausfordern.

 

Kristina nähert sich Ben von hinten und schnappt ihm das Smartphone aus der Hand.

„Zum Glück gibt es auch noch jemanden, der für Harmonie sorgt“, sagt sie und greift in ihre Tasche. „Müsliriegel, anyone?“

 

Wir greifen zu und schalten die Kamera aus. Wie wir essen, müssen wir für die sozialen Medien nun wirklich nicht festhalten.

 

Die kurzen Videoclips, die wir in den Storys hochladen, bleiben jedoch nicht ohne Wirkung. Auf unserem Account kommen in kurzer Zeit dutzende begeisterte Nachrichten und Reaktionen rein und alle sprühen vor Neugierde auf den fertigen Song.

 

„Wann kommt der Song raus?“, liest Kris eine der Nachrichten vor.

 

Das Vibrieren meines Handys lenkt mich von den Überlegungen ab, die Ben anstellt.

 

Freut mich zu sehen, dass ihr an neuem Material arbeitet. Ronja ist hyped, sie kann es kaum erwarten, den neuen Song zu hören. Gruß, Robin.

 

Ein Schauer rieselt mir über die Haut, einer der angenehmen Sorte. Es ist eine Weile her, dass Robin und ich uns das letzte Mal in der Selbsthilfegruppe getroffen und Nummern ausgetauscht haben. Er hat mir erzählt, wie sehr seine Schwester sich über das Plek von mir gefreut hat, und dass sie seitdem noch häufiger unsere Musik hört. Ich kenne Ronja nicht, Robin hat mir nicht einmal ein Foto von ihr gezeigt. Streng genommen ist sie genauso ein anonymer Fan wie die anderen Follower auf Instagram. Und trotzdem, wenn sie nicht wäre und das Gespräch mit Robin während meines ersten Besuchs in der Selbsthilfegruppe, dann wäre ich jetzt vermutlich nicht hier.

 

Vielleicht gibt es auch für deine Mutter und dich eine Lösung.

 

Das hat er mir damals gesagt und es hat mich nicht mehr losgelassen. Noch ist der Antrag für Mamas Pflegestufe nicht durch, eine Lösung noch nicht gefunden. Aber wir arbeiten daran. Ich arbeite daran.

 

„Der Nächste bitte.“ Joshie steht breit grinsend auf der Treppe vor dem Truck, ausnahmsweise ohne Drumsticks in der Hand oder der Hosentasche. „Freddy, du bist dran.“

 

Ich nicke, beantworte noch rasch Robins Nachricht und lasse das Smartphone in der Hosentasche verschwinden, während ich schon die Stufen zum Truck hinauflaufe. Das hier ist meine Chance, ich werde alles geben. Für meine Familie, für Judith, für die Band und für Ronja und all die anderen Fans. Und für mich. Weil das hier mein Leben ist. Ich brauche es. 

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