Judith
„Hier, deine Schlüsselkarte. Du bist in Zimmer 214, zweiter Stock. Zwei von deinen Zimmernachbarinnen sind schon da.“
Unwillkürlich schlägt mein Herz schneller, als Florian mir im Eingangsbereich der Jugendherberge eine Schlüsselkarte in die Hand drückt und etwas auf einer Liste auf dem Klemmbrett in seiner Hand abhakt. Natürlich habe ich nicht damit gerechnet, bei dem Vorbereitungscamp für Panama ein Einzelzimmer zu bekommen, aber bislang konnte ich das ausblenden, weil ich mich hauptsächlich auf das angekündigte Programm konzentriert habe. Doch als ich jetzt meinen Rucksack schultere und die Treppe nach oben erklimme, wird mir mit jeder Stufe klarer, dass ich auch die Zeit zwischen den Workshops nicht allein sein werde.
Wie die anderen Teilnehmer wohl sind?
Ob die beiden Mädchen, von denen der Camp-Leiter eben gesprochen hat, sich schon kennen? Was, wenn sie mich nicht als Zimmernachbarin akzeptieren?
Meine Hand ist schweißnass, als ich sie an die Tür zum Flur im zweiten Stock lege, und schnell wische ich sie an meiner Hose ab. Ich hasse es, dass diese Zweifel wieder in mir aufkommen. Wieso kann ich sie nicht einfach abstellen? Die Leute im letzten Camp waren doch auch alle cool. Aber jetzt ist es wieder eine ganz neue Gruppe, vielleicht … Atmen, ermahne ich mich. Ein. Und aus. Ich spanne meinen Körper an, drücke die Handflächen Richtung Boden, während ich langsam den Flur entlanglaufe, bis ich vor der 214 stehe. Obwohl ich die Schlüsselkarte in der Hand halte, klopfe ich an.
„Ja“, ruft jemand, und nur zwei Sekunden später wird die Tür geöffnet.
Ein Mädchen mit Brille und dunklem Pferdeschwanz steht vor mir und sieht mich fragend, aber nicht unfreundlich an.
„Hi, ich bin Judith, ich soll auch hier in diesem Zimmer schlafen.“
„Ach so, hi. Ich bin Svea“, sagt sie und lässt mich eintreten. „Hast du noch keine Schlüsselkarte bekommen?“
„Doch, aber irgendwie fand ich es unhöflich, einfach reinzukommen“, erwidere ich.
„Zum Glück, bist du nicht einfach reingekommen. Sonst hätte ich hier halb nackt gestanden!“
Erst jetzt bemerke ich die zweite Person, die im Zimmer steht und gerade ein T-Shirt in den Bund ihrer Hose steckt. Ihre kurzen blonden Haare stehen in alle Richtungen vom Kopf ab.
„Fine, hi. Ich danke dir sehr für deine Zuvorkommenheit.“
Svea schüttelt den Kopf. „Du kennst komische Wörter. Gibt es das überhaupt?“
„Ich habe es benutzt, jetzt existiert es“, sagt Fine schulterzuckend.
All die Zweifel und Steine, die ich mit mir hier heraufgeschleppt habe, fallen polternd von meiner Seele. Svea und Fine scheinen nicht darauf aus zu sein, mich auszugrenzen. Im Gegenteil, Svea wirft mir in diesem Augenblick einen verzweifelten Blick zu und macht eine Geste, die ausdrückt, dass sie gegen Fines Verrücktheit unbedingt eine Verbündete braucht. Ich zwinkere ihr zu, aber bevor ich mich in die Wort-Diskussion einmischen könnte, wirft Fine einen Blick auf ihr Handy und reißt die Augen auf.
„Oh, schon fast fünf Uhr. Wir müssen runter zum ersten Treffen.“
Ich lasse meinen Rucksack neben eines der noch freien Betten fallen und mache mich mit Fine und Svea auf den Weg in den Gruppenraum, wo der erste Workshop des Camps stattfinden soll.
Kurz darauf sitze ich mit ungefähr dreißig anderen im Stuhlkreis und schaue auf Florian, der sich und zwei Frauen vorstellt, die uns an diesem Wochenende auf unsere Aufenthalte in Südamerika vorbereiten werden. Einige von uns werden nach Argentinien gehen, anderen nach Chile, Brasilien oder Venezuela. Nur zwei weitere Teilnehmer werden wie ich ihr FSJ in Panama verbringen. Aber heute Abend spielen unsere jeweiligen Zielländer noch keine große Rolle. Für uns ist alles neu, und das verbindet. Meine Zweifel lösen sich mehr und mehr in Luft auf, als ich feststelle, dass niemand mich schief von der Seite anschaut. Alle sind aufgeschlossen, und wir lachen gemeinsam bei den Vorstellungsspielen, bei denen wir uns ohne zu reden nach verschiedenen Kriterien sortieren sollen. Ein Mädchen wirft mir dabei immer wieder neugierige Blicke zu. Kathi, wenn ich mich richtig erinnere, Brasilien.
„Darf ich dich was fragen?“, sagt sie, als unser Redeverbot nach dem Kennenlernspiel wieder aufgehoben ist.
„Klar.“
„Hast du in dem Musikvideo von Girl in the Crowd von Escape mitgespielt?“
Ich erstarre zur Salzsäule und weiß für einen Moment nicht, was ich sagen soll. Niemals hätte ich damit gerechnet, erkannt zu werden, zumindest nicht hier, dabei hätte mir das nach den Klickzahlen, die das Video inzwischen erreicht hat, eigentlich klar sein müssen. Die Leute, die den Song gehört haben, können nicht alle aus Hamburg und Umgebung sein. Und trotzdem, dass jemand Fremdes auf mich geachtet hat und nicht nur auf die Musik, kommt mir irgendwie surreal vor.
„Äh, ja“, bringe ich schließlich hervor und habe direkt das Bedürfnis mich für meine lange Leitung entschuldigen zu müssen.
Kathi winkt ab. „Alles gut, ich hab dich jetzt total überrumpelt, oder?“
„Ja, schon“, gebe ich zu.
„Sorry, ich musste das nur einfach fragen. Ich feiere die Musik von Escape total.“
Wärme durchflutet mich und angesichts Kathis geröteter Wangen kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es ist schön, dass ein mir unbekannter Mensch die gleiche Musik liebt wie ich. „Ich auch. Die Songs sind echt cool.“
„Hast du den neuen Song schon gehört? Ich hab so geheult beim Livestream, als sie Trust revealed haben.“ Kathi faltet die Hände vor der Brust und macht ein Gesicht, als könnte sie jeden Moment wieder in Tränen ausbrechen.
Ich kneife die Lippen zusammen und schaue auf meine Schuhspitzen. Ich glaube Kathi aufs Wort, dass der Song sie berührt hat, schließlich habe ich wie beim letzten Livestream Kiron über die Schulter geschaut, während die Kommentare zu Trust eingingen. Aber wenn sie wüsste, dass ich das neue Lied von Escape nicht erst seit dem Livestream kenne, mehr noch, dass Freddy es unter anderem für mich geschrieben hat … Nein, das kann ich ihr nicht erzählen. Das geht sie nichts an. Niemand außer unseren Familien und der Band weiß über Freddys und meine Beziehung Bescheid. Freddy vertraut mir, das werde ich nicht enttäuschen, indem ich mit anderen über unser Privatleben spreche.
„Ja“, sage ich also wieder. „Trust ist der Hammer.“
Kathi nickt und stimmt den Refrain an. Ein anderes Mädchen dreht sich zu uns um und stimmt textsicher mit ein.
Wow, einfach wow. Wenn Freddy und die anderen das sehen und hören könnten. Kurz bin ich versucht, mein Handy hervorzuziehen und das zu filmen, aber dann singe ich einfach mit, wenn auch leise, weil sich mein Gesangstalent auch ohne den Kloß, der plötzlich in meiner Kehle sitzt, in Grenzen hält.
Auch Lena, das andere Mädchen, erkennt mich als das Girl in the Crowd, und beim Abendessen fragen sie und Kathi mich, wie ich an die Rolle gekommen bin. Die einschleimende Frage von Oksana schleicht sich in meine Erinnerung und kurz schießt mein Puls in die Höhe, als Panik in mir aufflammt. Aber ich kämpfe sie nieder. Kathi und Lena sind nicht wie meine Klassenkameraden, sie sind nur ehrlich neugierig. Trotzdem behalte ich die genauen Hintergründe für mich und sage nur, dass wir uns aus dem Jugendzentrum in Hamburg kennen.
Kathi stützt den Kopf in die Hand und rührt gedankenverloren in ihrer Portion Nudeln. „Ich wünschte, ich würde auch in Hamburg wohnen … Aber vielleicht spielen Escape ja mal in Koblenz.“
„Aber dann erst übernächstes Jahr, sonst hast du in Brasilien auch nichts davon“, wendet Lena ein.
„Eine Welttournee wäre auch eine Option“, sagt Kathi grinsend.
Ich erwidere nichts darauf, schlucke nur mit den Nudeln die kitzelnden Tränen in meiner Kehle hinunter. Eine Welttournee steht für Escape noch weit in den Sternen, das ist mir zu bewusst. Genauso wie die Tatsache, dass Panama verdammt weit weg von Hamburg ist, und mein FSJ ein Jahr ohne Freddy sein wird.
Aber noch bin ich nicht in Panama.
Und Freddy ist in greifbarer Nähe. Er steht auf dem Bahnsteig, als ich am Sonntagnachmittag aus dem Zug steige, schließt mich in eine feste Umarmung und nur den Bruchteil einer Sekunde später berühren sich unsere Lippen. Die Menschen um uns herum laufen geschäftig hin und her, niemand hat einen Blick für uns, und so lasse ich mich ganz in diese Begrüßung fallen. Es ist nicht der Sänger von Escape, der hier vor mir steht, es ist einfach nur Freddy. Mein Freund. Ein Kribbeln durchfährt mich, als mir diese zwei Worte durch den Kopf gehen.
„Schön, dass du wieder da bist“, flüstert Freddy mir zwischen zwei Küssen zu.
„Du hast mir gefehlt.“
Freddy weicht mit dem Oberkörper ein Stück zurück und sieht mich verwundert an. „Was, jetzt schon?“
„Immer“, erwidere ich, nehme ihn bei der Hand und schlendere mit ihm Richtung U-Bahn.
Auf der Fahrt zu mir nach Hause, beschränke ich mich darauf, Freddys Hand zu halten, obwohl ein Ziehen in meiner Brust mich mit aller Kraft dazu bewegen will, ihn wieder zu küssen. Aber hier sind zu viele Leute um uns herum, die nichts anderes zu tun haben als in der U-Bahn zu sitzen, und vielleicht reagieren sie nicht so cool wie Kathi und Lena. Unwillkürlich spanne ich meine Muskeln und Freddy sieht mich besorgt an. Schnell schüttle ich den Kopf. Hier ist nicht der Ort, um über meine Gedanken zu reden. Vielleicht sind sie auch komplett lächerlich, und ich bin nur zu gebrannt von den Erlebnissen des letzten Schuljahres. Die ältere Frau vor uns in der Sitzgruppe, die beiden Jungs schräg gegenüber, die auf ihre Handys starren – die wären doch nicht gefährlich, oder? Trotzdem sehe ich immer wieder hinüber, während ich meine Finger fester um Freddys Hand schließe, und als wir unsere Station erreichen, atme ich erleichtert aus.
„Was ist los?“
„Später“, wimmle ich seine Nachfrage ab. In meiner Kehle wird es eng und ich weiß, wenn ich ihm jetzt alles erzähle, würde ich die Tränen nicht mehr zurückhalten können, und ich müsste meiner Familie viel zu viel erklären, wozu ich noch nicht bereit bin. Vielleicht werde ich das nie sein. Aber für diesen Moment möchte ich neben Freddy herlaufen und mich der Illusion hingeben, dass alles in Ordnung ist.
Nach dem Abendessen mit meiner Familie kann ich Freddys besorgter Miene allerdings nicht mehr ausweichen. In meinem Zimmer sitzt er mir auf meinem Bett gegenüber und sieht mich flehend an.
„Judith, was ist los?“, fragt er erneut.
„Ist auf dem Camp irgendetwas Schlimmes passiert?“
Ich versuche gar nicht erst, die Tränen zurückzuhalten, obwohl ich mir selbst nicht ganz erklären kann, woher sie kommen. Es war nicht schlimm, dass Kathi und Lena mich auf das Musikvideo angesprochen haben. Sie waren nett, wir haben heute sogar noch Nummern ausgetauscht. Ich lache unter meinen Schluchzern auf.
„Es ist total lächerlich“, sage ich kopfschüttelnd.
Freddy streichelt sanft über meine Handrücken. „Wenn du deswegen weinen musst, bestimmt nicht. Außerdem hat jemand mir kürzlich gesagt, dass es keine lächerlichen Gefühle gibt“, sagt er und zwinkert mir zu.
Ich lache ertappt und berichte endlich von allem, was mir an diesem Wochenende widerfahren und durch den Kopf gegangen ist. Freddys Augen weiten sich und sein Mund formt ein stummes Oh, als ich von Lenas und Kathis Begeisterung für seine Musik erzähle, aber er unterbricht mich nicht.
„Ich wollte nicht lügen, aber ich kann doch auch nicht einfach über deinen Kopf hinweg etwas in die Welt posaunen.“
Ein amüsiertes Lächeln kräuselt Freddys Lippen. „Entschuldigst du dich gerade ernsthaft dafür, dass du unser Privatleben für dich behältst?“
Wieder entfährt mir ein ersticktes Lachen. „Vermutlich, ja. Sorry.“
„Ich bin mir gerade nicht sicher, ob das eine weitere Lektion aus deinem Trainingsprogramm ist, aber wenn, dann war es die beste“, sagt Freddy und zieht mich in eine Umarmung. „Danke, dass ich dir vertrauen kann.“
Ich lehne mein Gesicht auf seine Schulter, eine seiner Strähnen kitzelt mich an der Nase, aber ich schiebe sie nicht weg. Diese Nähe ist es, die ich will, nur Freddy und ich.
„Es sollte keine Lektion sein“, flüstere ich. „Aber du hast recht. Die andern müssen nicht mehr sehen als das, was wir im Video zeigen.“
„Finde ich auch. Das hier geht nur uns etwas an.“ Seine Hände wandern von meinem Rücken auf meine Hüften, während er mich sanft küsst.
Ich wende mein Gesicht ihm zu, bis unsere Lippen sich voll und ganz berühren und sich immer wieder neu erkunden. In einer kurzen Bewegung packe ich sein T-Shirt und lasse mich rücklings auf meine Matratze fallen. Mit einem überraschten Lachen kommt er auf mir zu liegen, hört aber nicht auf, mich zu küssen. Stattdessen lässt er seine Hand unter mein T-Shirt gleiten und umkreist mit seinen Fingern meinen Bauchnabel. Ich erschaudere unter der Berührung. Aber das ist nichts gegen das Ziehen, das sich in meinem Unterleib breitmacht, als seine Hand höher wandert und unter meinen BH gleitet. Was für ein unnötiges Teil, schießt es mir durch den Kopf, ehe mir ein Stöhnen entfährt, da Freddys Unterleib sich fest gegen meinen drückt. Ich schiebe meine Hand in seinen Hosenbund, bis ich den Knopf finde und ihn öffne.
„Danke“, sagt er rau, zwischen immer schneller werdenden Atemzügen.
Seine Küsse wandern meinen Hals hinab, während ich die Wärme seiner Lenden unter meinen Fingern spüre. Ich schließe die Augen, gebe mich dem ziehenden Verlangen hin – und dann bleibt nur noch Nähe.
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