Kapitel 57 - Keine Ahnung, aber Arbeit

Freddy

Das Tempo, in dem Ben auf sein Notebook einhackt, ist beeindruckend und sieht in Kombination mit der konzentrierten Miene, die er aufgesetzt hat, auf verstörende Weise wichtig aus. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. So richtig ernst nehmen kann ich Bens Verhalten nicht, denn so wie er jetzt mit einer Hand über das Touchpad fährt, mit zusammengekniffenen Lippen die Kappe von einem Kugelschreiber zieht und mit der anderen Hand etwas auf einen Zettel neben sich kritzelt, macht er auf mich den Eindruck, als wäre er zum Manager des Jahrhunderts aufgestiegen. Wobei, dazu fehlen vielleicht noch ein Headset und eine offene Telefonleitung.

Ich wage ein vorsichtiges Grinsen, während ich zu Johnny sehe,

 

doch die Tatsache, dass auch mein bester Freund ernst schaut, wischt es wieder von meinem Gesicht. Okay, das hier ist wirklich ernst. Aber bis zu diesem Moment konnte ich es mir nicht richtig vorstellen, und begreifen kann ich es auch jetzt noch nicht.

 

Ich bin mit Johnny und Ben verabredet, um das weitere Vorgehen von Escape zu planen. Das klingt völlig abgefahren, ohne dass ich es ausspreche. Aber seit die Klick- und Streamingzahlen unserer Videos und Songs steigen und die Zahl unserer Follower beträchtlich gewachsen ist, können wir nicht länger vor uns hin wurschteln.

 

„Stand jetzt, 21.05., 14:23, folgen uns 21.823 Profile bei Instagram“, verkündet Ben über den Rand des Notebooks hinweg.

 

„Minus fünf, wenn du unseren privaten Konten abziehst“, sagt Johnny, wobei ich mir sicher bin, dass er damit nur von seiner eigenen Fassungslosigkeit ablenken will.

Fast 22.000 – krass, wann ist das passiert? Vor dem Release von Trust waren es definitiv noch weniger als 20k.

 

„Euch ist klar, dass wir jetzt nicht aufhören können, oder?“ Ben sieht Johnny und mich abwechselnd an.

 

Johnny tippt sich an sein Basecap und grinst. „Ey, wir sind doch keine Anfänger.“

 

„Ne, nur verdächtig still.“ Bens Blick bleibt an mir hängen, seine grünen Augen scheinen mich zu durchbohren und wecken in mir den Drang, mich zu verteidigen.

 

„Gestehst du uns ein paar Minuten Überraschung zu?“ Passiert schließlich nicht jeden Tag, dass die eigenen Songs auf einmal mehr Menschen erreichen als man je zu träumen gewagt hat.

 

Ben schnappt sich sein Handy und startet allen Ernstes einen Timer. „Zwei Minuten, dann wird gearbeitet.“

 

Johnny lehnt sich schnaubend in dem Sessel zurück. „Alter, chill mal. Oder willst du uns direkt zu Beginn unserer Karriere in den Burnout treiben?“

 

„Nein, höchstens aus dem Dornröschenschlaf wecken“, entgegnet Ben.

 

„Oh, bitte küss mich nicht“, ruft Johnny aus und drückt sich noch ein Stück tiefer in den Sessel, während vor meinem inneren Auge Bilder auftauchen, die nichts mit diesem Meeting zu tun haben.

 

Wie kann es sein, dass sie auch noch nach zwei Tagen so präsent sind?

 

Und nicht nur die Bilder, auch jede einzelne von Judiths Berührungen auf meiner Haut, jeder ihrer Küsse ist fest in meinem Gedächtnis verankert. Die letzten beiden Nächte habe ich kaum geschlafen, weil ich erst ewig mit Judith telefoniert und geschrieben habe, und anschließend die Ereignisse von Sonntagabend wieder und wieder wie einen Film vor mir gesehen habe. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass sich innerhalb so kurzer Zeit so viel verändern kann, zumindest nicht zum Guten. Wie schnell es in diesem Leben abwärts geht, habe ich schon oft genug erlebt. Aber dass ich mich Judith noch näher, noch verbundener fühlen würde … fuck, es ist mir beinahe unheimlich.

 

„Hallo! Auch wenn du gerade den besten Sex deines Lebens hattest, komm mal wieder klar.“

 

Ich zucke zusammen und Hitze schießt mir ins Gesicht, während Johnny sich vor Lachen kringelt. Woher weiß er, was am Sonntag passiert ist? Von mir bestimmt nicht, und von Judith auch nicht. Aber wenn Johnny es bislang nicht sicher wusste, ist es ihm spätestens jetzt klar. So heiß wie sich mein Gesicht anfühlt, ist es bestimmt rot wie eine überreife Tomate.

 

Ben schüttelt seufzend den Kopf. „Könnten wir mal wieder zum Thema zurückkommen?“

 

„Klar“, antworte ich sofort, dankbar für die Ablenkung.

 

In Johnnys Augen blitzt es verräterisch, er ist noch nicht fertig mit dem Thema, und ich möchte wetten, dass er mich später nach allen Regeln der Kunst aushorchen wird. Aber fürs erste habe ich noch eine Galgenfrist.

 

„Schieß los, was steht in deinem Masterplan?“ Ich nicke in Richtung von Bens Equipment.

 

„Momentan ist es eher To-Do-Liste als Masterplan.“ Ben klickt auf der Tastatur herum, trinkt einen Schluck aus dem Thermobecher neben sich und räuspert sich. „Die Idee, unsere Follower zu fragen, wo wir mal einen Gig spielen soll, war gut. Wir haben 143 Wunschorte genannt bekommen, die habe ich alle schon aufgeschrieben.“

 

„Wo soll es hingehen?“, fragt Johnny.

 

„Norddeutschland ist am häufigsten Vertreten, aber ansonsten alle möglichen Orte zwischen Rügen, Saarland und Mittenwald.“

 

Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ob der Wunsch, einen Gig in Mittenwald zu spielen von meiner Kurzzeit-WG, genauer von Debbie kam? Kurz flammt das schlechte Gewissen in mir auf, weil ich mich nur kurz bei ihnen gemeldet habe, nachdem Sven mir gekündigt hat. Das haben sie nicht verdient, wir hatten schließlich eine gute Zeit zusammen …

 

„Es ist sogar auch ein Ort in Belgien dabei.“

 

Bens Stimme reißt mich wieder in die Wirklichkeit zurück und ich schiebe die Gedanken an die WG wieder von mir.

 

„Deutschland-Tour?“, fragt Johnny und beißt auf den Hals seiner Colaflasche.

 

Ich schlucke. Wie lang haben wir davon geträumt, auf Tour zu gehen, nicht nur hier in Hamburg auf Stadtfesten oder im Jugendzentrum ein paar Songs zu spielen, sondern auf großen Bühnen zu stehen? Ist das alles jetzt in greifbarer Nähe? Es war so leicht zu träumen, in dem Wissen, dass das doch alles weit weg und nahezu unmöglich ist. Aber wie soll das alles in der Realität aussehen? Ich kann doch nicht ewig weg sein. Was soll aus Mama und Finn werden?

 

„Ich kann nicht wochenlang weg sein.“ Mit gesenktem Kopf schiele ich zu Ben rüber. Ich will nicht den Eindruck vermitteln, als könnte die Band sich nicht auf mich verlassen, aber meine Familie muss das schließlich auch können.

 

Zum Glück komme ich nicht in die Verlegenheit mich rechtfertigen zu müssen, denn Johnny bläst ins gleiche Horn.

„Ich müsste auch gucken, wie ich das neben der Ausbildung packe. Und Kris und Joshie fangen doch wahrscheinlich auch im Herbst mit dem Studium an …“

 

Ben hebt beschwichtigend die Hände. „Ihr macht den fünften Schritt vor dem ersten.“

 

Er dreht das Notebook zu Johnny und mir um und präsentiert uns die To-Do-Liste.

 

Unwillkürlich schnappe ich nach Luft. Scheiße, ist Ben nur so kleinschrittig vorgegangen oder haben wir wirklich so viel zu tun? Johnny schiebt sein Basecap auf der Stirn hin und her und stößt einen langgezogenen Pfiff aus. Dann beugt er sich ein Stück weiter nach vorn und nickt hin und wieder, während sein Blick auf die Liste gerichtet bleibt. Jeder einzelne von Bens Punkten ergibt Sinn, und ich muss zugeben, dass ich nicht einmal an die Hälfte gedacht hätte. Verbindliche Absprachen treffen, Verträge schreiben, Konto anlegen, Auftrittsmöglichkeiten recherchieren, Clubs ansprechen, Pressematerial zusammenstellen und Medien kontaktieren, Terminkoordination, Booking …

 

Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, als ich an den rechtlichen Aspekten hängenbleibe. Wer von uns hat Ahnung von so etwas? Ich jedenfalls nicht. Das klingt verdammt seriös und lässt mein Herz auf beunruhigende Weise schneller schlagen, aber Ben hat schon recht. Hier im Fleet21 können wir Konzerte recht unkompliziert auf dem kurzen Dienstweg klarmachen. Alex und sein Team planen ein Fest und sie fragen, ob wir spielen wollen, dann ist das Ding meistens geritzt. Aber die Leute in Hintertupfingen oder Berlin (ja, verdammt, auch Berlin steht auf der Wunschliste unserer Follower) kennen uns nicht. Sie brauchen Sicherheiten.

 

„Ich habe übermorgen einen Termin bei der Bank, da kann ich mich erkundigen, welche Konditionen es für ein neues Konto gibt“, sagt Johnny und tippt auf die To-Do-Liste.

 

„Nice.“ Ben markiert die Aufgabe und schreibt Johnnys Namen dahinter. „Ein kleines Pressekit haben wir ja schon, das aktualisiere ich in den nächsten Tagen. Und ich gucke, dass ich ein bisschen Ordnung in diese Landkarte aus Wunschorten bekomme.“

 

Ich kneife die Lippen zusammen. Der rechtliche Kram ist noch übrig. Nirgendwo steht geschrieben, dass ich das übernehmen muss, und ich glaube auch nicht, dass Ben, Johnny oder die Mädels das erwarten. Aber ich habe etwas gutzumachen. Ich habe die Band hängengelassen und sie haben mir verziehen und mich wieder aufgenommen.

 

„Ich recherchiere, was die rechtlichen Belange angeht“, sage ich, ehe ich es mir anders überlegen kann.

 

Ben hebt die Augenbrauen, nickt anerkennend. „Cool. Ich bin da echt planlos.“

 

„Ich auch. Deshalb die Recherche“ Vielleicht nehme ich mir hier gerade zu viel vor, aber Bens aufrichtige Dankbarkeit gibt mir ein wenig Auftrieb. Heute Abend werde ich mich gleich nach dem Essen hinsetzen und das Internet durchforsten – und dann werde ich wohl noch einmal Sven besuchen. Vielleicht hat er noch Kontakt zu einem Anwalt, der mit sich Musikerverträgen auskennt.

 

Wieder muss ich schmunzeln, während Ben meinen Namen auf die Liste setzt. Meine Ausbildung mag offiziell beendet sein, aber im Moment habe ich eher das Gefühl, dass sie jetzt erst richtig losgeht. Allerdings ganz anders als erwartet.

  

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