Kapitel 58 - Gezählte Tage

Judith

Wie oft wir schon Hand in Hand durch Hamburg gelaufen sind, kann ich schon gar nicht mehr sagen. Trotzdem fühlt es sich heute anders an. All die Male zuvor war es schön, manchmal auch ein bisschen aufregend, Freddys Finger zwischen meinen zu spüren, meine Schritte mit seinen in den gleichen Rhythmus zu bringen. Heute tanzen weder tausend Schmetterlinge in meinem Bauch, als Freddy mit dem Daumen über meinen Handrücken streicht, noch schlägt mein Herz himmelwärts. Alles in mir ist ruhig. Erstaunlich, wenn ich bedenke, dass Freddy mir gerade von den neuesten Entwicklungen bei Escape berichtet. 

„Sven hat mir den Kontakt zu einem Anwalt vermittelt, der sich mit Musikerverträgen auskennt.“ Freddy lacht auf. „Ey, das klingt wie im Film. Ich werde morgen mit einem Anwalt telefoniere!“

 

Ich halte Daumen und kleinen Finger an mein Gesicht und setze eine blasierte Miene auf.

 

„Kanzlei Geiger & Co, Ihre Fachanwälte für Musikrecht, was kann ich für Sie tun?“

 

Im ersten Moment sieht Freddy irritiert aus, dann huscht ein Grinsen über sein Gesicht und er lässt sich auf mein Spiel ein. „Guten Tag, Freddy Hermann hier. Meine Band wird gerade berühmt und wir wollen demnächst auf Tour gehen und … äh … ja, wir dachten, vermutlich wäre es klug, dazu Verträge innerhalb der Band zu haben. Aber wir haben keine Ahnung, wie das geht …“ Freddy kratzt sich nachdenklich am Kopf und lehnt sich an eine Laterne, was mich dazu zwingt stehenzubleiben. Meine Rolle gebe ich allerdings nicht auf.

 

„Was? Sind Sie etwa der Freddy von Escape?“

 

Freddy schüttelt den Kopf. „Als ob der uns kennen würde …“

 

„Aber natürlich kenne ich Sie! Meine Tochter hört seit Wochen Ihre Songs!“ Ich kann es mir nicht verkneifen, meine Hand affektiert auf meine Brust zu legen und Freddy mit großen Augen anzusehen, als könnte dieser Blick jeden Zweifel im Kern ersticken.

 

Freddy zuckt ergeben die Schultern. „Äh, ja, genau, der bin ich.“

 

„Es ist mir eine Ehre Sie juristisch zu vertreten. Machen Sie nur weiter Musik, den Rest übernehmen wir. Contracts are our business.“

 

Freddys Lachen schallt laut durch die Straße und ein paar Passanten wenden sich zu uns um, aber offenbar sind keine Escape-Fans dabei. Jedenfalls spricht uns niemand an oder bleibt neugierig stehen. Nun melden sich doch wieder ein paar Schmetterlinge in meinem Bauch, zusammen mit einem Kribbeln in meiner Brust. Es ist so schön, Freddy befreit lachen zu hören. Ein volles, ehrliches Lachen, ohne diese Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen oder den lauernden Blick, der nach der nächsten Katastrophe Ausschau hält. Für diesen Moment ist alles gut.

 

„Hoffentlich hat der Anwalt nicht wirklich eine Tochter, die unsere Musik hört.“

 

„Wäre das so schlimm?“

 

Wieder fährt Freddy sich durchs Haar. „Nein, nicht schlimm, aber … Verdammt, Judith, das ist irgendwie so groß.“

 

Ich mache einen Schritt auf ihn zu, lege meine Hände um seinen Nacken und reibe meine Nasenspitze an seiner. „Das ist es. Aber ihr habt es verdient. Du hast es verdient“, flüstere ich.

 

„Es war immer ein Traum. Dass er jetzt wahr wird, scheint so surreal.“

 

Das kann ich ihm nicht absprechen, ich musste mich auch schon ein paar Mal kneifen und habe mir auch von Helena bestätigen lassen, dass ich nicht träume. Aber jetzt freue ich mich einfach zu sehr für Freddy und die anderen, als dass ich ernsthaft daran zweifeln könnte.

 

„Was hältst du von etwas sehr Realem?“ Ich deute auf das Eiscafé in ein paar Metern Entfernung.

 

„Das Beste, um nach der Aufregung etwas abzukühlen“, sagt Freddy.

 

Drei Minuten später wünschte ich, einen anderen Vorschlag gemacht zu haben, da mich die Auswahl der angebotenen Eisbecher auf der Karte schlichtweg überfordert. Freddy hat die Karte einmal in der Mitte aufgeschlagen, sich für ein Spaghettieis entschieden und lehnt nun entspannt in dem Korbstuhl und schaut auf die Alster. Ich blättere zwischen der Seite mit den Joghurteis-Variationen und der Seite mit den Schokobechern hin und her.

 

„Nimm das zweite von links“, sagt Freddy schließlich spöttisch.

 

Joghurtbecher mit Beeren, Himbeersoße und Sahne. Ja, warum eigentlich nicht? Ich schlage die Karte zu und mustere Freddys Profil. Das lockige Haar, das er wie immer halb über seinen Ohren liegen und im Nacken zusammengebunden hat, der helle, kaum sichtbare Bartschatten an seinen Schläfen, und die geschwungenen Lippen, die ein entspanntes Lächeln formen. Er sieht so verdammt gut aus, und ich drücke meine Hände gegen das Flechtmuster meiner Stuhllehne, um mich davon abzuhalten, aufzuspringen und Freddy zu küssen. So weiterzumachen wie letzte Woche … Aber hier wäre definitiv nicht der richtige Ort dafür.

 

Ein Kellner fragt nach unseren Wünschen und durchbricht meine Gedanken. Ein Glück, wer weiß, wie lang das sonst gut gegangen wäre. Kaum hat der Kellner sich umgedreht und unseren Tisch wieder verlassen, verkündet mein Smartphone den Eingang einer neuen Nachricht. Mein Mund wird trocken, als ich auf das Display schaue und die Betreffzeile der Mail lese.

 

Dein Abflugdatum nach Panama.

 

Ich tippe mit zitterndem Finger aufs Display und öffne die Mail. Da steht es, schwarz auf weiß. Das Datum, auf das ich in den letzten Wochen hingefiebert, und vor dem ich mich gleichzeitig gefürchtet habe. 26. August. An diesem Tag wird meine Reise nach Panama beginnen – und es wird der Tag sein, an dem ich mich von meiner Familie und von Freddy verabschieden muss. Die Flüssigkeit, die sich aus meinem Mund urplötzlich verflüchtigt hat, sammelt sich brennend in meinen Augen.

 

„Judith? Was ist los?“ Freddy zieht seinen Stuhl näher zu mir und nimmt meine Hände in seine.

 

„Unsere Tage sind gezählt“, bringe ich heiser hervor und schiebe ihm das Handy hin.

 

„Oh“, sagt er, sobald er gelesen hat. Dann zieht er mich in eine Umarmung, so gut das über die Korbstühle hinweg eben geht, und küsst mich sanft. „Wir haben immer noch drei Monate.“

 

Vermutlich soll es zuversichtlich klingen, und er hat ja auch recht, es ist noch Zeit. Doch das leichte Zittern in seiner Stimme kann Freddy nicht verbergen. Wir hatten noch nicht einmal ein ganzes Jahr zusammen, wie kann ich da planen, ihn für ein Jahr zu verlassen? Das ist doch bescheuert!

 

„Bleibe ich trotzdem dein Girl in the Crowd?“, frage ich, eng an seine Schulter gelehnt.

 

„Nicht nur da, das weißt du doch. You’re more than just a girl in the crowd.” Er singt mir die letzte Zeile des Songs leise ins Ohr, und mein Herzschlag, der sich mit dem Öffnen der Mail beschleunigt hat, beruhigt sich etwas.

 

„Ich wünschte, ich könnte dabei sein, wenn ihr auf Tour geht.“

 

„Und ich würde mir gern Panama von dir zeigen lassen.“

 

Ich seufze. Es sind Illusionen, nicht mehr. Wir werden beide unsere Wege gehen, und wenn Gott will, werden sie nach diesem Jahr wieder zusammenführen. Andererseits waren mein Wunsch nach Panama zu gehen und Freddys Erfolg mit der Musik bislang auch nur Illusionen und Träume. Wenn sie wahr werden konnten, vielleicht dann auch die anderen?

 

Der Kellner kommt mit zwei großen Eisbechern auf einem Silbertablett an unseren Tisch zurück.

„Prego. Buon appetito“, sagt er mit hartem deutschen Akzent.

 

„Gracias“, erwidere ich.

 

Freddy hält sich die Hand vor den Mund, während der Kellner die Stirn in Falten legt und sich schnell auf den Weg zum nächsten Tisch macht. Freddy sieht mich mit tadelndem Blick an, aber um seine Mundwinkel herum zuckt es verdächtig.

 

„Was?“, frage ich. „So schlecht wie der Italienisch spricht, kann ich auch auf Spanisch antworten.“

 

„Ich wusste nicht, dass du eine so scharfe Zunge hast“, sagt Freddy kopfschüttelnd.

 

„Das kommt vom Spanischlernen, da macht man viele aufregende Dinge mit der Zunge.“

 

Freddy atmet scharf ein, zieht die Augenbrauen in die Höhe und greift nach seinem Löffel. „Okay, ich schlage dringend einen Themenwechsel vor.“

 

Doch noch bevor er den Löffel in die Nähe der Erdbeersoße auf seinem Spaghettieis bewegen kann, gibt sein Handy ein Piepen von sich und beinahe gleichzeitig gräbt sich die Sorgenfalte, die ich schon so gut kenne, in seine Stirn. Bitte lass bei ihm zu Hause alles gut sein, schicke ich ein Stoßgebet in den Himmel.

Freddy lehnt das Smartphone an die Tischkante und senkt den Blick. Erleichtert bemerke ich, dass die Sorgenfalte sehr schnell wieder von seinem Gesicht verschwindet, aber ich bin mir nicht sicher, ob mir der neue Gesichtsausdruck besser gefällt. Freddy ist beinahe so weiß wie die Sahne in seinem Eisbecher.

 

„Holy Shit“, murmelt er. 

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