Kapitel 59 - Once in a lifetime-Chance

Freddy

Spannung ist unsichtbar, man erkennt sie nur an ihrer Wirkung.

Wenn mich diese Wirkung nicht schon völlig unter ihrer Kontrolle hätte, würde ich  darüber lachen, dass mir jetzt ausgerechnet der Satz meiner ehemaligen Physiklehrerin einfällt. Ich war nie gut in Physik, mir reichte es, zu wissen, dass meine E-Gitarre zu hören ist, wenn ich den Verstärker einschalte.

Aber in diesem Moment im Proberaum des Jugendzentrums begreife ich zum ersten Mal, was meine Lehrerin gemeint hat. 

Kris sitzt auf dem Klavierhocker und hebt zum tausendsten Mal die Hände, lässt sie jedoch wieder sinken, ehe ihre Fingerspitzen die Tasten berühren können, und wickelt sich stattdessen ihre langen Haarsträhnen um die Zeigefinger. Johnny sitzt mit bleichem Gesicht in einem der alten Sessel und wippt unablässig mit dem rechten Bein, während seine Finger den Deckel der Zigarettenschachtel auf- und zuschnappen lassen. Es ist ein Wunder, dass er nicht längst dem Drang nachgegeben und sich eine Zigarette angezündet hat. Joshie presst die Fäuste um ihre Drumsticks, dass die Knöchel weiß hervortreten, und wenn sie die Enden der Sticks noch länger auf das Fell der Standtom drückt, wird irgendetwas kaputt gehen. Ben hat die Ellenbogen auf die Knie gestützt und die Hände gefaltet, die er immer wieder vor und zurück bewegt, wobei sie gegen seine aufeinandergepressten Lippen schlagen. Und ich? Ich sitze regungslos auf dem Boden, versuche ruhig zu atmen, während ich zwischen meinen BandkollegInnen hin und her sehe.

 

Frau Kothe würde große Augen machen, wenn sie jetzt hier wäre, und sie würde verstehen, dass man Spannung eben doch sehen kann. Auch wenn diese Spannung hier nicht in Joule zu messen ist. War Joule überhaupt die Einheit für Spannung? Verdammt, was denke ich hier eigentlich. Physik ist doch mal völlig egal!

 

Seit fünf Minuten, die sich wie Ewigkeiten anfühlen, hocken wir schon hier, ohne ein Wort zu sagen.

 

Außer dem Holy Shit, das mir gestern gegenüber Judith entfahren ist, weiß ich auch immer noch nicht, in welche Worte ich meine Gefühle packen soll. Aber irgendwie müssen sie jetzt raus, sonst platze ich.

 

„Hey, Leute, können wir einfach irgendetwas jammen? Ich werde sonst noch bescheuert.“

 

Die anderen seufzen beinahe simultan auf und Kris und Joshie bringen sich vor Klavier und Schlagzeug in Position, während Ben und Johnny nach ihren Instrumenten greifen.

 

Ich schlage einen Akkord an, lasse einen zweiten folgen, und einen Augenblick später befinden wir uns in einer Improvisation, in der wir unsere wirren Gefühle in Tönen verarbeiten. Laut, leise, mal synchron und manchmal etwas arhythmisch, weit entfernt von dem, was wir sonst auf der Bühne abliefern. Aber es hilft mindestens genauso gut. Mit jedem Akkord, der durch die Membran des Verstärker klingt, kehrt ein Stück Normalität und Selbstverständlichkeit zurück. Ich tue das, was ich kann, was funktioniert. Gemeinsam mit den anderen. Die Musik ist da, und sie wird bleiben.

Zusammen mit dem letzten Akkord lasse ich die angestaute Luft in meinen Lungen entweichen, lege die Hand auf dem Korpus meiner Gitarre ab und schließe für einen Augenblick die Augen. Jetzt geht es mir besser, obwohl die Nachricht von gestern noch immer genauso unglaublich ist wie zuvor. Aber jetzt weiß ich, dass sie uns die Musik nicht nehmen kann.

 

„Okay, sind wir bereit?“, fragt Ben, sobald er seine Gitarre in den offenstehenden Koffer gebettet hat.

 

Joshie lacht beinahe hysterisch auf. „Guter Witz. Kannst du uns nochmal sagen, worum es geht?“

 

Okay, wenn unsere Drummerin wieder zu ironischen Kommentaren in der Lage ist, kann sie auch über DIE Nachricht sprechen.

 

Ben zieht sein Smartphone aus der Hosentasche, sieht noch einmal in unsere Runde und liest uns die Mail vor, deren Screenshot er gestern Nachmittag in unserer Gruppe geteilt hat.

 

Hallo liebe Mitglieder von Escape,

gerade haben wir euren neuen Song Trust gehört und sind begeistert.

Seit geraumer Zeit suchen wir schon den passenden Intro-Song für die neue Netflix-Serie Sweet Dreams Tumbling. Bislang konnte uns noch kein Lied richtig überzeugen – Trust ist genau der Song, den wir gesucht haben. Der Text und die Arrangements spiegeln genau die Stimmung der Serie und greifen das durchgehende Thema der Handlung auf.

Wir würden uns freuen, wenn ihr eure Zustimmung geben würdet, Trust als Intro zu nutzen, und sind gespannt auf eure Antwort.

 

Okay, auch in vorgelesener Form klingt diese Mail noch abgedreht. Es macht keinen Unterschied, dass ich den Text seit gestern schon ungefähr tausend Mal gelesen habe.

 

„Das ist einfach nur verrückt“, murmelt Kris kopfschüttelnd. Sie hat schon wieder eine ihrer Strähnen um den Zeigefinger gedreht.

 

„Sind wir vielleicht gerade in irgendeiner Serie?“, fragt Johnny. „Sowas passiert doch im echten Leben nicht.“

 

Ben grinst schief. „Mal angenommen, wir wären Figuren in so einer Serie. Wie würden wir uns dann entscheiden?“

 

Na toll, jetzt sind wir an dem Punkt, um den meine Gedanken seit gestern Nachmittag unablässig kreisen.

„Kann ich mal die nächsten Seiten im Drehbuch lesen?“

 

„Das würde wohl unter spoilern fallen und ist streng verboten“, erwidert Joshie lachend.

 

Ben wischt über sein Handydisplay. „Wenn ich das richtig gelesen habe, basiert diese Serie auf einer Romanreihe. Golden Dreams Acadamy. Sagt mir nichts, aber scheint erfolgreich zu sein.“

 

„Die ist total bekannt, aber vermutlich nicht dein Genre.“ Kristinas Stimme klingt heiser, als ob sie nach einer dicken Erkältung zum ersten Mal wieder sprechen würde.

„Die Autorin steht seit Jahren mit ihren Büchern auf den Bestsellerlisten. Die Golden Dreams Trilogie ist echt gut.“

 

„Und? Glaubst du, die Produzenten haben recht? Passt unser Song zu dem Inhalt der Serie?“, frage ich.

 

Kristina zuckt mit den Schultern. „Wenn die bei der Verfilmung nah an den Romanen bleiben, ja. Es geht um eine Akademie, an der die Schüler lernen, Träume zu erfüllen. Dazu müssen sie das Vertrauen der Menschen gewinnen, und dann gibt es natürlich zig Intrigen und Verwirrungen, Liebesdramen …“ Sie zuckt erneut mit den Schultern und macht eine wegwerfende Handbewegung, die wohl impliziert, dass wir uns den Rest denken können.

 

Ich kann es mir tatsächlich ungefähr vorstellen, und bestimmt passen die Lyrics von Trust dazu. Aber das war doch mein Song, den ich für Judith, meine Familie und die Band geschrieben habe. Kann ich ihn so einfach aus der Hand geben? Andererseits habe ich das schon längst. Seit dem Release im Livestream wurde der Song schon über hunderttausendmal gestreamt und runtergeladen. Wenn es so weitergeht, liegt Trust bald gleichauf mit Girl in the Crowd. Immer wieder bekommen wir Nachrichten über die sozialen Medien von Leuten, die uns erzählen, wie sehr sie dieses Lied berührt, und wem sie wieder vertrauen wollen. Tausend Menschen, die meine Gedanken und Gefühle für sich irgendwie interpretiert haben. Die Interpretation der Serienproduzenten wäre nur eine weitere. Trotzdem ist das so verdammt … keine Ahnung, mir fehlt ein Wort dafür.

 

„Wenn die Serie genauso erfolgreich wird wie diese Bücher, dann wird das ein Riesending“, murmelt Johnny und zieht den Schirm seiner Basecap bis zur Nasenspitze. „Dann werden die Leute Trust immer mit dieser Serie in Verbindung bringen.“

 

Ich versuche zu schlucken, aber es gelingt mir nicht, weil mein Mund völlig trocken ist. Johnny könnte recht haben, und der Gedanke, die Leute könnten zukünftig sagen Das ist doch der Song aus dieser Serie, ist merkwürdig. Denn für mich ist es das Lied, das mir so viel bedeutet wie kein anderes.

 

„Gleichzeitig bedeutet das für uns eine wahnsinnige Publicity“, fügt Ben hinzu. „Die Zuschauer gucken die Serie, hören unseren Song und streamen oder downloaden ihn und werden dadurch auch auf unsere anderen Songs aufmerksam. Und wir verdienen mit jedem Klick. Wenn wir so eine Werbemaßnahme buchen würden, wäre das richtig teuer."

 

Joshie atmet gedehnt aus und schüttelt den Kopf. „Ich check das noch nicht so ganz, aber es klingt … krass.“

 

„Die Frage ist also eigentlich nicht, ob wir denen Trust zur Verfügung stellen wollen, sondern eher, ob wir für die möglichen Konsequenzen bereit sind“, sagt Kris und sieht fragend in unsere Runde.

 

„Glaubst du, wir werden über Nacht reich und berühmt?“, frage ich. Es soll scherzhaft klingen, aber völlig kann ich den unsicheren Ton in meiner Stimme nicht unterdrücken. Was eine höhere Bekanntheit bedeuten würde, übersteigt schlicht meine Vorstellungskraft.

 

„Vielleicht“, sagt Ben. „Vermutlich dauert’s ein bisschen. Natürlich heißt es auch nicht, dass wir für den Rest unseres Lebens als Band um die Welt touren müssen, nur weil unser Song den Soundtrack zu einer Serie liefert. Aber es wäre eine Chance, unseren Träumen näher zu kommen.“

 

„Mit besten Grüßen von der Golden Dreams Acadamy“, sagt Johnny.

 

Wir müssen alle darüber lachen, und das ist ähnlich befreiend wie unsere vorherige Jamsession.

 

„Okay, also, was sollen wir denen von der Produktionsfirma antworten? Sind wir interessiert oder nicht?“ Ben sieht aus, als hätte er schon die Nummer von den Produzenten gewählt und müsste nur noch auf den Hörer drücken. Sofort schlägt mein Herz wieder schneller.

 

„Na, interessiert doch auf jeden Fall, oder?“ fragt Joshie.

 

„Jo.“ Johnny nickt.

 

„Wir sollten mit denen telefonieren oder uns treffen, und hören, wie das genau funktionieren soll. Vielleicht kann uns der Anwalt, den Sven dir empfohlen hat, auch dazu beraten“, sagt Kristina.

 

Die anderen nicken, bis sich schließlich alle Augen auf mich richten.

 

„Was ist mit dir, Freddy? Schließlich ist es dein Song.“

 

Ungläubig starre ich Ben an. Dass ausgerechnet er mich das fragt! Schließlich war er bis vor wenigen Wochen noch mehr als skeptisch, ob ich überhaupt noch Teil von Escape sein sollte. Und jetzt will er mir die Entscheidung überlassen?

 

Ich presse die Lippen aufeinander. Es wäre eine Chance, den Traum, den ich schon so lang habe, den wir schon so lang haben, endlich zu leben. Vielleicht könnte unser Wunsch wahr werden, nicht nur hier in Hamburg und Umgebung hin und wieder mal ein Konzert zu spielen, sondern tatsächlich auf Tour zu gehen. Nicht nur einmal, sondern regelmäßig. Vielleicht können wir wirklich eines Tages von unserer Musik leben. Ein bisschen kommt ja schon jetzt rein, und angesichts der Tatsache, dass ich keinen festen Job habe, habe ich aktuell nichts zu verlieren. Außer … Meine Familie.

 

Wenn ich mit der Band durch die Weltgeschichte toure, müsste ich Finn und Mama allein lassen. Die Verantwortung will ich meinem Bruder nicht aufdrücken, und noch haben wir keinen positiven Bescheid von der Pflegeversicherung. Vielleicht wäre es sicherer, wenn ich mir irgendeinen Job hier in der Nähe suche.

Unwillkürlich schießen mir Svens Worte durch den Kopf.

 

Du gehörts nicht hier hinter den Tresen. Du musst auf die Bühne.

 

Und Robins Frage, die er mir vor Wochen in der Selbsthilfegruppe gestellt hat, reiht sich direkt ein.

 

Wie geht es deiner Mutter mit deiner Entscheidung?

 

Wieder muss ich schlucken, und diesmal gelingt es, weil mir bei dem Gedanken an diese Fragen, die Tränen kommen. Meine Mutter, Sven und auch Finn wären vermutlich unheimlich stolz, wenn ich mit Escape endlich durchstarten würde. Es ist mit tausend Unsicherheiten verbunden. Niemand kann uns versprechen, dass wir erfolgreich werden. Niemand kann sagen, ob diese Serie unserer Band einen Karrierebooster verschafft oder uns ins Aus feuert. Nur eins ist sicher: wenn wir es nicht versuchen, werden wir es niemals erfahren.

 

Ich hole tief Luft, dann nicke ich Ben zu. „Okay, ruf sie an.“

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