Judith
Umrahmt von meinen Eltern und Geschwistern, und mit Freddy an meiner Seite betrete ich den Schulhof, wo schon dutzende meiner Stufenkameradinnen mit ihren Angehörigen umeinander wuseln. Manche von ihnen sind bereits so aufgebrezelt, als ob jetzt schon der Abiball anstünde. Vor der Treppe zum Haupteingang stehen Paula und Kim voreinander und zupfen sich gegenseitig ein paar Haarsträhnen zurecht. Ich streiche über den Rock meines Leinenkleids und atme tief durch. Ich hätte mir mein Zeugnis zuschicken lassen sollen, dann würde mir dieser Zirkus erspart bleiben. Aber das hätte ich meiner Familie beim besten Willen nicht erklären können.
Ein paar Leute werfen mir Blicke zu, als ich mit meiner Familie den Schulhof überquere. Mein Puls beschleunigt sich. Ob jemand vor meinen Eltern und Geschwistern etwas sagt?
Freddy nimmt meine Hand und drückt sie.
„Die finden mich viel interessanter als dich“, raunt er mir zu.
Trotz Nervosität entfährt mir ein Lachen. „Das klingt gar nicht egozentrisch“, sage ich, traue mich aber dennoch nicht, aufzusehen und nachzuprüfen, ob Freddys Behauptung vielleicht doch kein Scherz war.
„Wir sollten schon einmal in die Aula gehen und uns Plätze suchen“, sagt mein Vater und legt meinen jüngeren Geschwistern die Arme um die Schultern, als ob er ihnen den Weg zeigen müsste. Ruth lässt es sich gefallen, aber Elias dreht sich weg, was mir ein Grinsen entlockt. Mein kleiner Bruder tut seit ein paar Wochen alles dafür, um klarzustellen, dass er kein Kleinkind mehr ist.
„Bis gleich, mein Schatz. Wir sind so stolz auf dich“, sagt meine Mutter und umarmt mich rasch, ehe sie mit meinem Vater und Ruth und Elias Richtung Aula strebt. Samuel bleibt noch stehen und wartet, dass Freddy ihm folgt.
„Du bist mehr als das, was sie in dir sehen, vergiss das nicht“, sagt Freddy leise, sodass mein Bruder es nicht hören kann, und küsst mich sanft.
Ich schlucke. Freddy hat recht, hatte er auch schon, als er mir diese Worte vor meiner Abiprüfung gesagt hat, und wenn ich nicht an der Schule bin, kann ich das sogar glauben. Aber hier mitten im Foyer, wo sich meine Stufe nun versammelt, damit wir gleich zusammen in die Aula einziehen können, sind die Sprüche der letzten Monate viel zu präsent.
„Du schaffst das.“
„Okay“, antworte ich heiser und nicke, mehr um mich selbst zu überzeugen.
Freddy lächelt mir noch einmal aufmunternd zu, dann folgt er Samuel zur Aula, und ich bleibe inmitten meiner Mitschüler allein zurück. Wo ist eigentlich Helena? Sie müsste längst da sein. Ich sehe mich im Foyer um, kann meine beste Freundin allerdings nirgend entdecken. Nur unser Stufenleitung, die mit ausladenden Armbewegungen versucht, uns zu ordnen, wie wir es vor ein paar Tagen geübt haben.
„Stellt euch bitte ordentlich in Zweierreihen auf“, sagt Frau Junker.
Ich gehe auf die andere Seite des Foyers, dank meines Nachnamens bin ich eine der letzten, die gleich in die Aula einziehen wird.
„So viel nackte Haut. Ist das nicht ein bisschen freizügig für Sankt Judith?“
Ich zucke zusammen und presse die Kiefer aufeinander, zwinge mich aber, Paula nicht anzusehen. Mein Kleid ist ärmellos und kniekurz, weit entfernt von freizügig. Und selbst wenn. Ich muss mich nicht rechtfertigen. Ich bin mehr als das, was sie in mir sehen.
„Na, das ist doch jetzt die letzte Chance. Ab nächster Woche gibt’s nur noch Kluft und Schleier.“
Atmen. Tief atmen. Ich. Werde. Nicht. Heulen.
Auch wenn Kilians Spruch Tränen in mir aufsteigen lässt.
Ich halte den Blick gesenkt, stelle mich nach hinten in die etwas schiefe Schlange, die die anderen inzwischen gebildet haben.
„Wo ist denn Helena?“, ruft Frau Junker. Das würde ich auch gern wissen. Energisch zwinge ich die Tränen zurück und schaue auf mein Handy. Tatsächlich, vor vier Minuten hat Helena mir geschrieben.
Fuck, fuck, fuck, hier ist alles zugeparkt! Ich eile.
„Sie kommt gleich. Sie findet keinen Parkplatz“, sage ich, leise, weil meine Stimme mir nicht gehorcht. Unsere Stufenleiterin hat es dennoch gehört und seufzt.
„Ist ja nicht so, als ob wir darüber ausführlich gesprochen hätten. Na ja. Zwei, drei Minuten können wir noch warten.“
„Nicht nötig, bin schon da“, ruft Helena in diesem Augenblick und stürmt ins Foyer.
„Jetzt aber fix“, sagt Frau Junker streng und winkt Helena hektisch nach vorne in die Reihe. „Los geht’s.“
Nicht heulen. Ich bin mehr als das, was sie in mir sehen.
Ich schaffe es, die Tränen zurückzudrängen, aber mein Lächeln ist vermutlich sehr gezwungen. Egal. Unsere Familien und Freunde klatschen, als wir einziehen und unsere Plätze einnehmen, Musik spielt, alles ist festlich geschmückt. Ich schaff das!
Die Reden unserer Direktorin, unserer Stufenleiterin und unseres Stufensprechers ziehen an mir vorbei, es interessiert mich schlichtweg nicht, was sie sagen. Als die Bigband unserer Schule zwei Stücke spielt, habe ich das Webmuster meines Kleids so lang studiert, dass ich es mit geschlossenen Augen nachzeichnen könnte.
Noch ein paar Ehrungen, ein Lied, dann bekommen wir endlich unsere Zeugnisse. Zuerst sind unsere Namen, die unsere Direktorin aufruft, noch zu hören, doch ab der sechsten Person, die aufgerufen wird und vorn ihr Zeugnis überreicht bekommt, geht alles im allgemeinen Klatschen unter.
Wir ziehen wieder aus, versammeln uns vor dem Schuleingang, wo noch jemand ein paar Fotos von uns macht. Dann sind unsere Familien da, schließen uns in die Arme und beglückwünschen uns. In Freddys Umarmung kann ich endlich wieder normal durchatmen. Doch noch ehe er mich küssen kann, schließt Helena ihre Arme um uns.
„Wir haben Abiiii“, ruft sie ausgelassen.
„Äh … Ich nicht“, wirft Freddy ein, aber Helena übergeht das.
„Nie wieder Schule!“
Schlagartig werde ich wieder ernst. „Nie wieder Schule“, wiederhole ich. Hoffentlich nie wieder Hallejudith-Sprüche. Helena verengt die Augen zu schlitzen und Freddys Kiefer mahlen angestrengt aufeinander, sodass sein Jochbein sich auf und ab bewegt.
„Hat wieder irgendjemand etwas gesagt?“, fragt er mit bebender Stimme.
Ich nicke nur und er zieht mich noch einmal fester an sich.
„Diese verdammten …“
Helena kommt nicht dazu, ihren Fluch zu Ende zu bringen, denn jemand tritt zu uns und räuspert sich.
„Judith?“
Amira steht mit schüchternem Lächeln neben uns und nestelt an den Ecken ihrer Zeugnismappe. Das Aprikot ihres Seidenkopftuchs, das sie in London gekauft hat, leuchtet hell in der Sonne und setzt sich in dem Blumenmuster ihrer Tunika fort.
„Ich …“ Sie senkt den Blick und atmet tief durch, dann sieht sie wieder auf. „Ich wollte mich entschuldigen. Das, was in den letzten Monaten mit dir passiert ist, war nicht fair. Und es tut mir leid, dass ich dir nicht geholfen habe.“
Fassungslos starre ich sie an und es braucht eine Weile, bis ich meine Sprache wiederfinde, allerdings nur sehr rudimentär. „Oh, danke.“
„Ich hatte Angst, dass sie auch auf mich losgehen“, sagt Amira und senkt wieder die Lider. „Aber das hätte mich nicht abhalten dürfen. Es tut mir leid. Ich wünsche dir alles Gute und eine wundervolle Zeit in Panama.“
Sie streckt zaghaft ihre Hand aus und berührt mich am Oberarm, noch immer lächelt sie schüchtern. Im Leben hätte ich nicht damit gerechnet, dass sich jemand aus meiner Stufe entschuldigen würde, nach den Sprüchen heute Morgen schon einmal gar nicht. Die Schulzeit ist vorbei, Amira hätte nichts mehr sagen müssen, sie hätte einfach ihrer Weg gehen können. Dass sie doch gekommen ist, obwohl wir nie viel miteinander zu tun hatten, versöhnt mich ein Stück mit meiner Stufe. Eine von 95. Aber immerhin eine.
„Danke.“ Ich umarme sie spontan und nach einem kurzen Zögern erwidert Amira die Geste. „Dir auch viel Erfolg mit deinem Medizinstudium.“
Stunden später, als ich nach Helenas und meiner Abi-Gartenparty mit Freddy in meinem Zimmer sitze, wandern meine Gedanken wieder zu Amira zurück.
Neben Helena war sie die einzige, die heute in der Schule ein freundliches Wort an mich gerichtet hat. Ich kann verstehen, dass sie Angst hatte, sich für mich einzusetzen, sie hat lang genug um ihren Platz in der Stufe gekämpft. Aber hätte es nicht auch andere gegeben, die für mich hätten Partei ergreifen können?
Freddy fährt sanft mit den Fingerspitzen über meinen Unterarm. „Woran denkst du?“
„An Amira.“
„Kannst du ihr verzeihen, dass sie sich nicht eher für dich eingesetzt hat?“
Ich nicke und knete dabei meine Hände im Schoß. „Ich frage mich nur …“
„Was?“, fragt Freddy, als ich nicht weiterspreche.
„Was, wenn es in Panama so weitergeht? Wenn sie da auch etwas finden, um sich über mich lustig zu machen?“ Nun, da ich Freddy beichte, was ich mir in den letzten Wochen nicht einmal selbst eingestehen wollte, kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie fließen mir in Strömen übers Gesicht und Tropfen von meinem Kinn. Zum bestimmt tausendsten Mal heute zieht Freddy mich in eine feste Umarmung und streichelt mir über den Rücken.
„Wenn sie das tun, haben sie einen Knall.“
Zwischen zwei Schluchzern lache ich auf, aber die Zweifel melden sich schnell wieder zurück. „Das klingt so einfach.“
„Ich weiß. Ich wünschte, ich könnte dir versprechen, dass alles gut wird.“
Ich halte mich an Freddy fest und drücke mein Gesicht an seine Schulter. Eine seiner Haarsträhnen kitzelt an meiner Stirn. „Wie soll ich unvoreingenommen auf Leute zugehen, wenn ich in den letzten Monaten immer so einen Scheiß zu hören bekommen habe?“
Freddy seufzt. „Vielleicht klingt es komisch, wenn ich das jetzt sage, aber irgendjemand hat mir vor nicht allzu langer Zeit gesagt, dass es sich lohnt, zu vertrauen.“
Wieder muss ich unweigerlich lachen. Ein kleiner Schritt weg von den trüben Gedanken. Ich wünsche mir so sehr, sie gänzlich loszuwerden.
„Wer immer dir das gesagt hat, hat dir verschwiegen, dass das leichter gesagt als getan ist.“
„Ja, aber sie hat mir Übungen gezeigt, wie man das Lernen kann“, erwidert Freddy schmunzelnd.
„Zum Beispiel?“ Eigentlich will ich ihn nur necken, doch Freddy nimmt mich beim Wort.
„Schließ die Augen.“
Ich gehorche. Kurz darauf fühle ich seine Hand an meiner, er zieht daran, sodass ich aufstehen muss. Meine rechte Hand weiterhin festhaltend, lässt Freddy seine andere Hand meinen Körper entlangwandern. Zuerst wischt er mir die Tränen von den Wangen, dann liebkosen seine Finger meinen Hals und wandern an meiner Brust entlang, bis sie schließlich auf meiner Hüfte verharren. Das Prickeln, das seine Berührungen hinterlassen, bleibt, und ich will es nicht nur dort, wo seine Finger schon waren, sondern überall. Es zieht in meinem Unterleib. Da lässt Freddy mich plötzlich los.
„Augen zu lassen“, sagt er leise.
Etwas orientierungslos stehe ich in meinem Zimmer und warte auf weitere Anweisungen. Es raschelt leise.
„Jetzt lass dich nach vorn fallen.“
Warum habe ich Freddy diese bescheuerten Vertrauensübungen verraten? Das musste doch nach hinten losgehen. Ich weiß, dass Freddy mir nichts Böses will, er wird mich auffangen, trotzdem kostet es mich Überwindung, zu tun, um was er bittet. Ich atme tief durch, lasse mich fallen …
… und lande in seinen Armen auf meinem Bett, das weich unter mir nachgibt.
„Sehr gut“, lobt Freddy.
„Darf ich jetzt wieder gucken?“
Er lacht leise auf. „Du dürftest, aber vielleicht ist es ohne gucken aufregender.“
Hitze durchströmt mich und mein Herz erbebt, während sich das Ziehen in meinem Unterleib auch auf andere Regionen meines Körpers ausdehnt.
Ich schicke meine Hände auf Entdeckungsreise, ertaste zuerst Freddys Brustkorb, der noch unter seinem T-Shirt verborgen ist. Höchste Zeit, das zu ändern. Er erschaudert und seufzt leise, als meine Finger die nackte Haut um seinen Bauchnabel berühren und sich langsam aufwärts bewegen. Seine Hand, die eben noch an meiner Hüfte ruhte, schiebt sich mein Bein hinunter.
„Ich mag diese Übung“, flüstere ich.
„Danke. Ich hatte eine gute Lehrerin“, erwidert Freddy ebenso leise und schiebt langsam mein Klein hoch. „Ist das okay?“
„Mehr als das.“
Seine Lippen finden meinen Mund. „Ich bin da.“
„Ich weiß“, sage ich. „Ich fang dich auf.“
„Und ich dich. Ich liebe dich, Judith.“
„Ich liebe dich auch, Freddy.“
Kommentar schreiben