Epilog - 2 Monate später

Freddy

„Toll, dass ihr heute Abend hier seid! Wir sind Escape. Lasst uns gemeinsam ausbrechen.“

Applaus brandet auf und ich schließe für einen Moment die Augen, während sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet und meine linke Hand sich wie automatisch um den Gitarrenhals legt. Zwischen den Fingern der rechten Hand liegt kühl und glatt das neue Plektrum aus Holz, das Judith mir heute zum Abschied geschenkt hat.

Sie ist wahrscheinlich gerade irgendwo über dem Atlantik, in bester Gesellschaft von den anderen Freiwilligen. Und ich stehe hier auf der Bühne, umgeben von meiner Band und bejubelt von einem erschreckend großen Publikum. 

 

Wir sind beide dort, wo wir sein sollen,

 

auch wenn ich sie schon jetzt vermisse und es heute Momente gab, in denen ich am liebsten mit Judith ins Flugzeug gestiegen wäre.

 

„Kommt nicht in Frage. Ich erwarte einen ausführlichen Konzertbericht, sobald ich mittelamerikanischen Boden betrete“, hat Judith gesagt, obwohl sie selbst kaum die Tränen zurückhalten konnte.

 

Deshalb stehe ich jetzt hier und lasse meinen Blick über das Publikum schweifen, zumindest soweit es die Beleuchtung zulässt, und schlage den ersten Akkord an.

 

Well, here we are again

Back on stage, another gig.

The cheers are killing all my pain

For this moment I may leave the brig.

Waving arms and dancing lights

What if I lose the ground?

Just for this moment blind my eyes

Tomorrow I’ll again be bound.

 

A smile beyond all borders

Shy like the sun behind a cloud

I find my peace when I see

The girl in the crowd

 

Jubelrufe erklingen, sobald ich die erste Zeile anstimme, beim Refrain singen bereits einige Leute mit. Über meine Arme kriecht Gänsehaut, und wenn ich nicht Gitarre spielen müsste, würde ich mich jetzt kneifen, um sicherzugehen, dass ich nicht träume.

 

Tausend Menschen sind gekommen, so viele wie noch nie, und am besten vergesse ich diese Zahl schnell wieder, ehe ich ernstlich nervös werde. Ich freue mich über jeden einzelnen Gast, aber über vier Menschen ganz besonders.

 

Rechts vor der Bühne steht Robin neben dem Rollstuhl seiner Schwester, deren Augen mit den Scheinwerfern um die Wette strahlen. Ich habe es vor dem Konzert nicht mehr geschafft, die beiden zu begrüßen, aber nachher werde ich sie treffen. Neben Ronja stehen Finn und meine Mutter und lächeln mir zu. Mama trägt Ohrschützer und hält sich an dem Stuhl vor sich fest. Vielleicht hält sie nicht das gesamte Konzert durch, aber sie wollte unbedingt kommen.

 

„Wenn nicht jetzt, wann dann? Wer weiß, was beim nächsten Mal ist?“, hat sie gesagt, als wir über den Gig gesprochen haben.

 

Ich bin froh, dass sie hier ist und sich das Konzert zutraut. Vor drei Wochen wurde ihre Pflegestufe anerkannt und es kommt nun regelmäßig jemand, der ihr und uns mit dem Haushalt hilft. Das nimmt ihr zwar nicht die Schmerzen, aber wenigstens etwas Stress.

 

Finn hebt sein Smartphone in die Höhe und hält es still auf mich gerichtet, während ich den Refrain ein letztes Mal singe, unterstützt von einem vielstimmigen Chor. Ich muss Finn später bitten, mir das Video zu schicken, damit ich es an Judith weiterleiten kann.

 

Vor einem Jahr war sie nur mein Fixpunkt. 

 

Eine willkürlich aus der Menge herausgepickte Person, nie hätte ich erwartet, geschweige denn zu hoffen gewagt, dass aus uns mehr werden könnte.

Ich lasse den Schlussakkord verklingen und lege die rechte Hand ums Mikro.

 

„You’re more than just a girl in the crowd”, singe ich in den bereits tobenden Applaus hinaus und schließe die Augen. Judith mag nicht physisch hier im Club sein, aber in diesem Song, in meinem Herzen, ist sie mir ganz nah.

 

Verdammt, ist das kitschig. Ich muss über mich selbst grinsen, während Joshie bereits den Takt für Run vorgibt.

 

Die Leute vor der Bühne hüpfen klatschend auf und ab, ihre Gesichter strahlen. Von der Seite fange ich Johnnys Blick. Er grinst, macht ein paar Schritte auf mich zu, und wir wippen nebeneinander im Takt hin und her. Glück rieselt in Form von Gänsehaut über meine Arme. Es ist so unglaublich, dass wir hier stehen und unsere Musik mit so vielen begeisterten Menschen teilen dürfen. Noch unglaublicher ist, dass ich noch immer – oder wieder – ein Teil von Escape bin.

 

Die Stahlsaiten vibrieren unter meinen Fingern als wollten sie selbst gern ausbrechen, und weil es gerade am Ende des Songs passt, lasse ich ihnen den Spielraum. Ben sieht kurz zu mir rüber, lacht aber mit hochgezogenen Augenbrauen. Vielleicht werde ich das auf der Tour fest in den Song einbauen. Ich schüttle den Kopf und sehe auf die Setlist, die ich zu meinen Füßen auf die Bühne geklebt habe.

 

Konzentrier dich, ermahne ich mich selbst. Die Tour fängt erst in ein paar Wochen an. Bleib im Hier und Jetzt.

 

Der nächste Song ist Trust. Ben bedankt sich für den Applaus, tritt einen Schritt von seinem Mikro zurück, ich mache einen Schritt auf mein Mikro zu. Einer der Beleuchter richtet einen Spot auf mich und taucht mich und die Bühne um mich herum in orangeleuchtendes Licht. Aus dem Augenwinkel sehe ich Finn wieder sein Handy heben. Diesmal ist es abgesprochen, ich habe ihn vorher genau instruiert.

Ich lasse meine Finger am Gitarrenhals entlangrutschen, umfasse das Plektrum etwas fester und atme noch einmal tief durch.

 

„Der nächste Song bedeutet mir sehr viel. Er ist der Grund, warum ich heute hier stehe, und ich bin euch allen sehr dankbar, dass ihr dieses Lied so feiert.“

 

Irgendwo im Publikum kreischt jemand hysterisch. Okay, damit hätte ich jetzt nicht gerechnet, aber ich lasse mich nicht davon beirren.  

 

„Als ich dieses Lied geschrieben habe, wollte ich mich bei den wichtigsten Menschen in meinem Leben entschuldigen. All diese Menschen sind heute Abend hier – alle, bis auf eine. Deshalb bitte ich euch: singt ganz laut mit, damit dieses Lied bis über den Atlantik dringt. Hier ist für euch – und für Judith – Trust.“

 

Das Publikum nimmt es mit dem Lautsein sehr genau und rastet schon völlig aus, bevor ich auch nur die erste Zeile gesungen habe. Aber zum Refrain singen wirklich alle aus voller Kehle mit. Finn grinst mir zu, ohne das Smartphone zu senken. Er wird das Video gleich im Anschluss an Judith schicken, das hat er mir versprochen. Und auch, wenn die Lautstärke dem Song einen Hauch der ursprünglichen Dramatik nimmt, gibt sie ihm und mir in diesem Moment die Stärke, die ich brauche, und ich weiß, Judith wird das spüren, wenn sie das Video sieht.

 

Look how far we‘ve come

Can we forever be one?

I pray that it was not in vain

For with you by my side

I can walk through the tides

Shake off my memories’ dust

Because of you I can trust!

 

 

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