Kapitel 1 - Live für mich

Kristina

„Hier sind für euch Escape mit Trust!“

Die letzten beiden Worte der Moderatorin gehen im Jubel der Menge unter und ich wünschte, ich hätte meine Noisecancelling-Kopfhörer, oder wenigstens die Inears. Aber wie die anderen Bands auch, spielen wir heute mal wieder Playback. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, aber Spaß macht es mir immer noch nicht. 

Der Track wird abgespielt und ich bewege meine Finger über die lautlose Tastatur meines Keyboards, während Freddy vorn am Bühnenrand steht und die Lippen zur Musik bewegt.

 

Die Zuschauer vor der Bühne schwenken Leuchtstäbe

 

Sie filmen mit ihren Smartphones oder halten selbstgemalte Plakate in die Höhe. Gegen das blendende Scheinwerferlicht kann ich nicht erkennen, was darauf geschrieben steht, aber vermutlich sind die persönlicheren Botschaften sowieso an Freddy, Ben oder Johnny adressiert.

 

„Trust me.“ Ich singe die Backingvocals leise mit, obwohl mein Mikro nur eine Attrappe ist. Ein bisschen Rebellion muss sein. Und das Publikum singt schließlich auch mit, jede Zeile fehlerfrei. Kein Wunder, nach zwei Jahren Dauerbeschallung. Manchmal nervt es mich fast, wenn wir gebeten werden, in Fernsehshows Trust zu spielen. Den Song, der seit dem Erfolg der Netflix-Serie Sweet Dreams Tumbling unser größter Hit ist. Auch heute würde ich lieber etwas anderes spielen. Bens neuen Song And Action zum Beispiel. Aber wenn ich eins in den letzten zwei Jahren gelernt habe, dann, dass es schon längst nicht mehr nur um uns und unsere Wünsche geht. Wenn das Fernsehen Trust will, bekommen sie Trust. Die Medien sind es, die unsere Karriere erst möglich machen, und unsere Fans lieben den Song. Also liefern wir.

 

Look how far we‘ve come

Can we forever be one?

I pray that it was not in vain

For with you by my side

I can walk through the tides

Shake off my memories’ dust

Because of you I can trust!

 

So plötzlich sind 3 Minuten und 24 Sekunden vorbei, und jetzt bin ich ganz froh, dass wir Playback gespielt haben, und niemand hören kann, wie ich vor Überraschung versehentlich einen Akkord mehr spiele als im Playback vorhanden ist.

 

Ein Kamerakran schwebt an uns vorbei, während wir uns verbeugen und dem Publikum breit lachend zuwinken. Das Pfeifen und Johlen dringt schmerzhaft in meine Ohren, aber ich verziehe keine Miene. Die Fans meinen es gut mit uns, sie lieben unsere Musik, sie verdienen, dass wir ihnen gut gelaunt begegnen.

 

Trotzdem atme ich erleichtert aus, als wir die Bühne für den nächsten Act freimachen und in den Backstagebereich treten. Hier ist es zwar kaum leerer, Mitglieder von Bands, Techniker und Backliner wuseln umher, aber es ist wenigstens etwas leiser.

 

Vor dem Eingang zur Bühne steht eine Gruppe Tänzerinnen,

 

die noch ein paar letzte Dehnübungen machen. Ein Typ mit weißgeschminktem Gesicht und schwarzweißem Kostüm steht neben ihnen und knetet seine Hände. Es ist Pierrot, der neueste Star auf dem deutschen Musikmarkt.

 

„Super Show“, sagt er mit dünner Stimme, als wir an ihm vorbeigehen. Ich schaue von seinen Händen hoch in das geschminkte Gesicht, in dem zwei dunkle Augen beinahe panisch leuchten. Beinahe habe ich den Eindruck, als würde unter der weißen Farbe ein Hauch Grün hervorschimmern.

 

„Danke“, sagt Joshie, „dir viel Glück.“

 

Das war vermutlich genau das, was er nicht hören wollte, denn er taumelt gegen das Geländer der Bühnentreppe und keucht auf.

 

„Mach dir keinen Kopf“, sagt Freddy und dreht seine Gitarre am Gurt auf den Rücken. „Die Leute lieben deinen Song, du singst Playback, es kann also niemand hören, ob deine Stimme zittert oder nicht.“

 

Pierrot lächelt gequält, was durch sein Make-up noch einmal verstärkt wird. „Das Singen ist nicht das Problem, aber das Interview hinterher. Reden ist nicht so meine Stärke.“

 

„Packst du schon. Stell dir vor, du redest mit deinem besten Kumpel.“

 

Pierrot knetet seine Finger bis sie knacken. Ich zucke zusammen, ich hasse dieses Geräusch. Mehr Zeit für Aufmunterungsversuche bleibt uns nicht, denn in diesem Moment werden Pierrot und seine Tänzerinnen auf die Bühne geschickt.

 

Freddy sieht ihnen kopfschüttelnd hinterher. „Krass, dass wir vor zwei Jahren noch den gleichen Schiss hatten wie er jetzt.“

 

„Und wie viele Fernsehshows haben wir seitdem gespielt?“, fragt Joshie.

 

„120 ish“, sagt Johnny und rutscht mit der linken Hand den Hals seines E-Basses runter.

Die Zahl ist natürlich maßlos übertrieben, aber irgendwie hat Johnny schon recht. Dinge wie Fernsehshows und Festivals waren für uns vor zwei Jahren noch gefühlt unerreichbar. Schon Wahnsinn, dass Auftritte wie dieser nun schon beinahe zur Route gehören.

 

Johnny zieht eine etwas zerknautschte Packung Zigaretten aus seiner Hosentasche. „Ich bin mal kurz vor der Tür. Gleich kommen wir ja auch wieder zu nichts.“

 

„Ich komme mit.“

 

Joshie sieht mich überrascht an. „Sag bloß, du willst auch das Rauchen anfangen.“

 

„Bestimmt nicht, aber Johnny hat recht. Das Kontakteknüpfen auf der Aftershowparty findet drinnen statt. Ein bisschen Frischluft vorher kann nicht schaden.“

 

Anderthalb Stunden später bin ich froh, dass ich die Pause draußen genutzt habe.

 

Im Saal ist es unfassbar warm, wir schieben uns nur so durch den Raum und sind bemüht, niemandem auf die Füße zu treten. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

Die geladenen Medienvertreterinnen und Vertreter bewegen sich von einer Band zum nächsten Künstler, setzen ihr schönstes Lächeln auf und fangen O-Töne in Endlosschleife ein.

 

„Für euch geht es bald wieder ins Studio, habe ich gehört?“

 

Der Journalist, der uns gegenübersteht, hat eine Hand hinter seinen furchtbar bunten Hosenträgern eingehakt und hält mit der anderen sein Smartphone in Freddys Richtung.

„Ja, in den letzten Monaten sind wieder einige neue Songs entstanden“, sagt er freundlich lächelnd. Aber mir entgeht das Zucken in seinem Mundwinkel nicht, das mir verrät, dass auch er die Frage etwas albern findet. Dass wir unser zweites Album aufnehmen wollen, ist wirklich keine Neuigkeit mehr.

 

Ich kratze mir am Kopf. Die Haarnadeln, mit denen ich meine Zöpfe zu zwei Knoten hochgesteckt habe, drücken in meine Kopfhaut, und die Hitze hier macht das Kribbeln unter den Haaren nicht besser.

 

„Ein paar neue Songs habt ihr in den Social Media ja schon einmal angeteasert“, fährt der Journalist vor. „Könnt ihr schon ein bisschen mehr verraten, welche Songs auf das neue Album kommen?“

 

Die Frage wäre okay. Wenn der Typ nur nicht so wahnsinnig uninteressiert klingen würde. Er sieht aus, als hätte man ihn gezwungen, hier zu sein, dabei gibt es genug Journalisten, die sich ein Bein ausreißen würden, um hier bei der Party sein zu können. Ben gibt sich allerdings professionell und beantwortet die Frage des Journalisten freundlich und eloquent wie immer.

 

„Schreibst du eigentlich auch Songs?“, wendet der Typ sich plötzlich an mich.

 

Ich mache einen überraschten Schritt nach hinten, wobei ich beinahe gegen eine der Tänzerinnen von Pierrot stoße, die sich gerade mit einem Drink durch die Menge schiebt.

„Sorry“, raune ich ihr hastig zu, ehe ich mich wieder zu dem Journalisten umdrehe. „Ähm, ja. Wir komponieren eigentlich alle.“

 

„Oh, tatsächlich?“

 

Was tut er denn jetzt so überrascht?

 

„Werden wir dich dann auf dem neuen Album auch hören?“ Der Blick des Journalisten ruht bei dieser Frage gut zwei Etagen unter meiner Augenpartie.

 

Zu der unangenehmen Hitze in meinem Körper und dem Jucken auf meinem Kopf gesellt sich nun auch noch Übelkeit.

 

Ganz miese Nummer.

 

Dem Typ ist es scheißegal, ob ich auf dem neuen Album singe oder Purzelbäume schlage, er will mich heute Abend abschleppen. Als er nun auch noch einen Schritt näher auf mich zukommt als notwendig wäre, und dabei mit seinen Fingern wie zufällig meine Hüfte streift, hat er jeden Bonuspunkt, den ich ihm vielleicht zugestanden hätte, verspielt.

 

„Natürlich werde ich zu hören sein. Am Klavier“, erwidere ich.

 

Joshie kneift die Lippen zusammen, was ihr Grinsen allerdings nur schlecht verbirgt. Egal, der Typ hat’s nicht anders verdient. Auch die Mienen der Jungs verändern sich. Bens freundliches Lächeln gefriert und er schiebt sich halb zwischen den Journalisten und mich.

 

„Tja, wir müssen dann auch weiter, wir sind noch verabredet.“

 

Mit diesen Worten zieht er mich sanft, aber bestimmt, zur Seite und außer Reichweite von den übergriffigen Fingern, Blicken und Fragen des Journalisten.

 

„So ein Arsch“, murmelt Johnny. „Wo ist eigentlich Piet, wenn man ihn braucht?“

 

Ich bezweifle, dass unser Manager etwas an dem Verhalten von Typen wie diesem von eben ändern könnte, aber es ist gut zu wissen, dass die Jungs für mich einstehen. Lieber wäre mir natürlich, wenn es nicht nötig wäre. Aber diese Hoffnung habe ich schon sehr früh aufgegeben. Wenn Joshie und ich für jeden Blick, jede zufällige Berührung und jede Frage, die man den Jungs nicht gestellt hätte, einen Euro bekommen würden, könnten wir auf unsere Gage verzichten und hätten trotzdem noch ein gutes Auskommen. Traurig, aber wahr.

 

„Ich muss jetzt erstmal was trinken“, sagt Freddy. „Was ist mit euch?“

 

Die anderen nicken zustimmend, aber mir ist gerade nicht nach weiterer Geselligkeit. Neben der Bar ist auch einer der Ausgänge, die auf den Flur und zu den Toiletten führen. Ich begleite unseren Leadsänger bis zur Bar, trete dann aber vor den Saal. Statt links zu den Toiletten abzubiegen, gehe ich den Flur jedoch rechts hinunter, mich immer wieder vorsichtig umsehend, ob mir jemand folgt. Doch ich habe Glück.

 

Ich bleibe allein.

 

Der Flur macht einen Knick nach rechts. Hier brennen nur ein paar schwache Lichter, aber das ist mir nach dem hellen Scheinwerferlicht ganz lieb. Vom Stimmengewirr aus dem Saal ist hier nichts mehr zu hören, nur das Quietschen meiner Sohlen auf dem Boden. Links von mir hebt sich eine doppelflügelige Tür von der Wand ab. Aus einer Laune heraus drücke ich auf die Klinke und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als die Tür sich öffnet. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und schalte die Taschenlampe ein. Ich stehe in einem Lagerraum, auf der einen Seite lehnen sich Regale mit silbernen Metallboxen an die Wand. Ihnen gegenüber – mein Herz macht vor Freude einen Satz – steht ein kleiner Flügel, sorgsam abgedeckt mit einer Plane.

 

Ich schließe die Tür hinter mir, gehe auf den Flügel zu und ziehe die Plane weg. Der schwarze Lack glänzt im Licht der Taschenlampe und drückt kühl gegen meine Fingerspitzen, als ich mit der Hand darüber gleite. Vorsichtig öffne ich den Deckel und weiße Tasten blitzen zwischen dem Schwarz hervor. Wie von selbst wandern meine Mundwinkel nach oben, als ich den winzigen Abständen zwischen den Tasten nachspüre. Es gibt nichts Schöneres als die Ebenmäßigkeit schwarz-weißer Oktaven.

 

Neben dem Flügel steht ein Klavierhocker. Ich schiebe ihn mir zurecht, lehne das Handy auf den schmalen Notenständer des Flügels und löse die Haarnadeln. Als mir die Strähnen endlich wieder offen über den Rücken fallen, atme ich tief durch. Dann lege ich die Hände auf die Tastatur, streichle ein paar Mal darüber, schließe die Augen – und beginne zu spielen.

 

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