Kapitel 2 - Völlig verzaubert

Noah

„Hiergeblieben!“

Scott packt mich an der Schulter und zieht mich zurück in den Saal, wo sich die Leute beinahe stapeln. Gerade so einen Seufzer unterdrückend, werfe ich einen letzten sehnsüchtigen Blick Richtung Bar.

„Mann, ich hab‘ Durst.“

Grinsend drückt Scott mir eine kalte Halbliterflasche Wasser in die Hand. Wenn ich nicht zu genervt wäre, müsste ich ihm dafür eigentlich Respekt zollen. Woher hat er so plötzlich das Wasser? Und wie zur Hölle hat er es kalt gehalten? 

Mir wäre zwar eher nach etwas Stärkerem gewesen, aber na ja, ein kaltes Wasser ist besser als nichts. Ich drehe den Plastikdeckel ab, setze die Flasche an die Lippen und trinke hastig, während ich Scott und den anderen durch den Saal folge. Ich habe keinen Plan, wohin er will, aber es ist auch egal.

 

Es ist definitiv nicht die Richtung, die ich angestrebt hätte.

 

Ein paar Leute lächeln uns im Vorbeigehen an oder grüßen, manche freundlich schüchtern, andere bewundernd. Ich lächle zurück oder gebe ein lässiges „Hi“ von mir. Freundlichkeit ist oberstes Gebot in diesem Job. Der Job, der mir seit einem Jahr ein noch aufregenderes Leben beschert als ich ohnehin gewohnt bin. Nur dass er so oft mit vollen Räumen zu tun hat, passt mir nicht in den Kram.

 

„Oh my God, hier sind sie“, sagt eine junge Frau, die nur wenig älter als ich selbst sein kann. Ihre blonden Haare mit silbergrauen Strähnen fallen ihr offen über die Schultern und rahmen den Backstage-Pass und Presseausweis ein, der an einer Kordel um ihren Hals hängt. Es ist zu dunkel, als dass ich ihren Namen auf dem Pass lesen könnte, und ihr tief ausgeschnittenes Top, das wenig Spielraum für Fantasie lässt, trägt auch nicht unbedingt dazu bei, dass ich mich auf den Ausweis konzentrieren könnte. Ich weiß, dass sich das nicht gehört, aber ich bin auch nur ein Mann, verdammt, und alle anderen Frauen, denen ich in meinem Beruf begegne, wollen genau so von mir angeschaut werden. Trotzdem zwinge ich mich jetzt dazu, meinen Blick zu heben, und der Blondine in die Augen zu schauen.

 

„10 Minuten“, sagt Scott knapp.

 

Die Blondine nickt unserem Manager zu und schenkt uns ein strahlendes Lächeln. „Hi, ich bin Celina.“

 

„Hey, schön dich kennenzulernen“, erwidern wir. Erst jetzt bemerke ich die kleine Kamera, die eine Frau neben Celina mit offensichtlich geübter Hand führt. Ich rücke etwas näher an Liam heran, damit wir auf jeden Fall gemeinsam aufs Bild passen.

 

„Das ist euer dritter Auftritt in Deutschland gewesen, demnächst seid ihr hier auf Tour. Was wollt ihr in Deutschland erleben?“

 

„Ich will unbedingt mal aufs Oktoberfest“, sagt Andy grinsend.

 

„Und ich möchte Currywurst probieren“, fügt Suma hinzu.

 

„Weißt du denn, wo es die richtige gibt?“, fragt Celina und grinst herausfordernd.

 

Suma macht große Augen. „Es gibt auch falsche Currywurst?“

 

„Das hast du gesagt. Wenn du es herausgefunden hast, gib mir Bescheid.“ Celina lacht, wechselt dann aber gekonnt das Thema. „Ihr seid jetzt seit einem Jahr als Five2Seven unterwegs, was war bislang euer Highlight?“

 

„Wow, schwierig, da ein Ereignis zu nennen.“ Liam fährt sich durch seine braunen Locken und lächelt nonchalant. „Aber der Auftritt in Wembley war schon ziemlich nice.“

 

„Absolut. Wembley war gigantisch“, sage ich.

 

Celina nickt zufrieden und wendet sich dann an Suma. „Wer, würdest du sagen, ist von den anderen dreien der beste Tänzer?“

 

Suma kratzt sich am Kinn, als ob er angestrengt nachdenken müsste. Aber vielleicht ist die Frage wirklich nicht so leicht zu beantworten. Im Vergleich zu ihm sind wir alle Bewegungslegastheniker.

„Andy ist nicht schlecht.“

 

„Danke, dass du meine Anstrengung beim Training endlich siehst“, frotzelt Andy und stößt Suma kumpelhaft den Ellenbogen in die Seite.

 

Celina lacht, so wie es ihre Follower vermutlich tun werden. Dieses Verhalten ist genau das, was die Leute von uns sehen wollen, wenn wir nicht gerade auf der Bühne stehen und singen.

„Okay, wir sind auf deine Tanzkünste auf der Tour gespannt. Noah, wem laufen die Mädels hinterher, wenn sie sich nicht auf dich stürzen?“

 

„Liam, ganz klar“, sage ich, dankbar dass sie nicht diese EINE Frage gestellt hat. Aber vermutlich hat Scott sie vorher gebrieft, welche Art von Fragen erlaubt sind.

 

Auch Suma und Andy bekommen noch eine eigene Frage von Celina, wir unterschreiben noch auf unserem Album, das sie uns unter die Nasen hält, und auf ihrem Instagramkanal verlosen will.

 

Dann sind die zehn Minuten vorbei. Leider nur die zehn Minuten des ersten Interviews.

 

Scott hat noch weitere Termine für uns vereinbart und schleift uns von einem Journalisten zum nächsten, von denen leider keiner auch nur im Ansatz so kurzweilige Fragen stellt wie Celina. Die Wasserflasche habe ich schon längst geleert und immer öfter schweift mein Blick zur Bar am anderen Ende des Saals.

 

Andy neben mir wippt mit dem Fuß auf und ab, während der Journalist vor uns eine Frage stellt, die er auf jedem Fan-Blog ausführlich beantwortet finden würde, und dabei an seinen hässlichen Hosenträgern zieht. Liam spielt den Musterschüler und beantwortet auch diese Frage freundlich. Doch in mir fängt es an zu brodeln. Es ist zu warm, zu voll, ich habe Durst – und wenn dieser Typ noch eine dämliche Frage stellt, erwürge ich ihn mit seinen Hosenträgern.

 

„Im Finale von Next Star habt ihr verschiedene Songs gecovert. Ist davon mehr geplant? Zum Beispiel von Falling for you?“

 

Ich sehe mich ruckartig zu Scott um und würde am liebsten Blitze aus meinen Augen schießen. Genau das ist die Frage, die ich nicht gebraucht habe, aber unser Manager scheint sie nicht mitbekommen zu haben. Ich bezwinge die Vorstellung des Hosenträger-Mords mit einem angestrengten Lächeln und schüttle den Kopf, während ich meine Hand in der Hosentasche zur Faust balle.

 

„Vermutlich eher nicht. Wir haben so viele eigene Songideen, die haben erstmal Priorität.“

 

Der Typ nickt, nestelt wieder an seinen Hosenträgern. „Verstehe. Wobei ich mir das von euch echt ganz schön vorstelle …“

 

Wenn das ein Kompliment sein sollte, ging das voll daneben. Ich atme gepresst aus, wobei ein Knurren meiner Kehle entweicht. Leider nicht laut genug, um den Journalisten einzuschüchtern, aber laut genug, dass Andy es hört und sich sicherheitshalber ein Stück vor mich schiebt.

 

„Unsere neuen Songs werden Ihnen auch gefallen, da bin ich sicher“, sagt er.

 

Der Typ nuschelt etwas vor sich hin, keine Ahnung, ob Englisch oder Deutsch. Ist mir aber auch egal. Zwar ist dieses Interview jetzt auch vorbei, aber hinter Scott steht bereits ein weiterer Journalist. Mein Bick wandert zu der Saaltür, die gar nicht so weit entfernt ist.

 

Andy stößt mich an und nickt zum Ausgang. „Beeil dich Mann, ich sag, du bist auf’m Klo.“

 

Oh Mann, ich könnte ihn knutschen, wenn das nicht unser Boygroup-Image belasten würde. Ich werfe einen hastigen Blick zu Scott, der zum Glück gerade in die andere Richtung schaut, dann mache ich mich dünne.

 

Sobald die Saaltür hinter mir ins Schloss fällt und ich auf dem Flur stehe, atme ich tief durch.

 

Endlich Ruhe!

 

Jetzt irgendwo hinsetzen und ein kühles Bier genießen. Kurz überlege ich, ob ich zu der anderen Saaltür laufen und mir an der Bar etwas zu trinken besorgen sollte. Aber ich verwerfe den Gedanken so schnell wie er gekommen ist. Zu riskant, Scott hätte mich in Null Komma Nix wieder eingefangen. Also gehe ich den Flur in die andere Richtung hinunter. Mal schauen, wohin der Gang führt.

 

Je weiter ich komme, desto dämmriger ist die Beleuchtung, und ich gebe mich der Vorstellung hin, ich wäre in einem Escape-Room. Wobei, so weit hergeholt ist das gar nicht. Ein paar Türen gehen von dem Flur nach rechts und links ab. Ob hinter einer Tür vielleicht ein Treppenhaus liegt und ich bis auf das Dach steigen könnte? Die nächtliche Stadt von oben sieht bestimmt cool aus.

 

Ich lege eine Hand an die Klinke der Tür zu meiner Linken – und stutze. Dahinter liegt definitiv kein Treppenhaus. Oder es wäre ein Treppenhaus mit Beschallung. Hinter der Tür erklingt Klaviermusik.

 

Vorsichtig drücke ich die Klinke hinunter, ziehe die Tür einen Spalt auf. Die Musik wird lauter. Der Raum ist fast dunkel, nur in einer Ecke scheint ein kleines Licht einer Handytaschenlampe. Genug Licht, um zu erkennen, dass dort jemand am Flügel sitzt und spielt. Unglaublich. Und wie dieser jemand spielt!

 

Leise schließe ich die Tür hinter mir und lehne mich im Dunklen gegen den kalten Stahl. Es ist eine Frau, die dort spielt, und offenbar hat sie mich nicht bemerkt. Ihre Hände gleiten geschmeidig über die Tastatur, streicheln die Töne aus dem Instrument heraus. Ich kenne das Stück nicht, aber es verzaubert mich sofort. Die tiefen Akkorde, und die melancholische Melodie die sich sanft darüberlegt. Wie von selbst tauchen Bilder vor meinem inneren Auge auf. Ein See, umgeben von Bäumen, dahinter eine Burg, deren Zinnen im Nebel verschwinden … Ich warte darauf, dass die Töne mir mehr erzählen, wer in dieser Burg lebt. Doch da bricht das Stück mit einem fast unspektakulärem einzelnen leisen Ton ab und die Bilder verschwinden.

 

Für einen Moment verharrt die Hand der Frau einige Zentimeter über den Tasten, ehe sie sie wieder aufsetzt. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als sie wieder zu spielen beginnt. Dieses Stück habe ich vor einigen Jahren von meinem Klavierlehrer aufgebrummt bekommen. Allerdings klang Bachs wohltemperierte Klavier bei mir nie so richtig wohltemperiert. Bei ihr allerdings … Mir wird selbst ganz warm, auf angenehme Art, nicht so wie eben im Saal. Wie kann man nur so Klavier spielen?

 

Das ist keine Musik, das ist Magie!

 

Ich lasse mich an der Tür hinab auf den Boden gleiten, kreuze die Arme auf meinem angewinkelten Bein und lege den Kopf darauf. Mein Blick folgt den sanften Bewegungen ihres Oberkörpers, der sich in fließendem Rhythmus den Tönen nähert. Ich kenne das Stück nicht, und doch scheint es mir seltsam vertraut. Ich kann spüren, wohin die Musik geht, sie rührt etwas tief in mir an, kitzelt in meiner Kehle, meiner Nasenspitze.

Als der letzte Ton leise verklingt, fangen meine Hände an zu klatschen, ohne dass ich begreife, was ich da tue.

 

Sie fährt auf dem Klavierhocker herum und sieht mich mit aufgerissenen Augen an.

„Oh my God“, ruft sie und fügt noch etwas auf Deutsch hinzu. Vermutlich, dass ich sie erschreckt habe, denn das habe ich ganz offensichtlich.

 

„Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Das war wunderschön!“

 

Sie atmet tief durch und sieht auf den Boden. „Danke. Wie lang hörst du schon zu?“

Ihr Englisch ist beinahe akzentfrei, aber ihre Stimme klingt schüchtern. Nicht so selbstbewusst wie die Musik vorhin.

 

„Eine Weile.“ Wow, meine Stimme ist ganz schön belegt, als ob die Klaviermusik sämtlichen Klang für sich beansprucht hätte. „Ich wollte nicht stören.“

 

„Schon okay.“ Sie schüttelt den Kopf, dann kneift sie die Augen zusammen, wobei sich eine Falte auf ihrer Stirn bildet. „Bist du nicht einer von Five2Seven?“

 

Mir entfährt ein heiseres Lachen. Seit einem Jahr habe ich niemanden mehr getroffen, der nicht sicher wusste, wer ich bin. Es gab kaum jemanden, der mich nicht direkt auf meine Familie, meinen Vater angesprochen hätte. Und sie sitzt hier und kennt meinen Namen nicht. Ungeahnte Leichtigkeit breitet sich in mir aus. Wann habe ich mich das letzte Mal vorgestellt?

 

„Noah, ja. Hi.“

 

„Kristina.“

 

Ich sitze noch immer wie festgeklebt auf dem Boden, mustere sie aus fünf Metern Abstand. Habe ich sie schon einmal gesehen? Vielleicht vor der Show irgendwo im Vorbeigehen? Sie trägt weite dunkle Hosen und Sneaker, ihr braunes Haar fällt ihr offen weit über das bedruckte weiße Top, bis auf die Hüften. Ein dunkler Lidstrich zieht sich schwungvoll ein Stück über ihre Augenpartie hinaus. Endlich fällt bei mir der Groschen.

 

„Du hast doch auch vorhin mit deiner Band gespielt, oder? Escape, richtig?“

 

Kristina nickt und streicht mit der rechten Hand über die Tasten des Flügels, ohne einen Ton zu spielen. Okay, hier sitzen jetzt zwei Stars abseits von all dem Trubel der Aftershow-Party in einem Lagerraum und schweigen sich an. Ein gefundenes Fressen für die Medien, wenn sie uns hier finden. Fuck, hoffentlich hat Scott noch keinen Suchtrupp rausgeschickt!

 

„Ich brauchte mal ein paar Minuten für mich“,

 

sagt Kristina in die Stille und klingt fast entschuldigend. Dabei bin ich wohl der Letzte, der das nicht verstehen könnte.

 

„Ich auch. Ganz schön stressig manchmal mit all den Interviews.“

 

„Und den Journalisten.“ Sie lacht, aber es wirkt gezwungen. Ob sie mit dem gleichen komischen Typ zu tun hatte?

 

Plötzlich rutscht sie ein Stück auf dem Klavierhocker zur Seite und klopft zweimal mit der Hand auf die freigewordene Stelle. Ich schlucke. Ist das ihr Ernst?

 

„Da unten holst du dir noch ne Blasenentzündung.“

 

Erst jetzt merke ich, dass der Boden wirklich ganz schön kalt ist. Kristina sieht mich abwartend an, ihr Angebot mich neben sie zu setzen, steht offenbar noch. Langsam stehe ich auf, gehe zum Flügel hinüber, zögere aber noch, mich tatsächlich zu setzen. Sie rutscht noch ein Stück zur Seite und fängt wieder zu spielen. Und als ob die Töne eine magnetische Anziehungskraft hätten, lasse ich mich neben Kristina fallen. Sie spielt weiter, als ob nichts wäre, fast schon unbeeindruckt. Ich folge der Bewegung ihrer Hände mit meinem Blick. Meine Kehle wird trocken und ich halte unwillkürlich die Luft an, als die Musik ganz plötzlich stoppt. Kristinas Finger liegen noch auf den Tasten, ihr Atem geht ihm Rhythmus des Stücks, das sie bis eben noch gespielt hat.

 

Mit einem Mal hebt sie den Kopf und sieht mich an. Sie sagt kein Wort, aber ihre braunen Augen fixieren mich mit einem verstehenden Blick. Ich halte Stand, wage nicht zu blinzeln, weil ich diese Verbindung keinesfalls trennen will. Etwas flattert in meiner Magengegend und die Luft zwischen uns scheint zu vibrieren. Ein Nachklang der Musik? Verspätete Schallwellen?

 

Was auch immer es ist, es zieht mich unaufhaltsam zu Kristina hin. Und sie zu mir.  Unsere Nasenspitzen berühren einander schon fast. In ihren Augen funkelt das Licht der Handytaschenlampe, viel intensiver als die großen Scheinwerfer der Showbühne. Und plötzlich liegen unsere Lippen aufeinander. Ich schmecke einen Hauch von Kamille, vermutlich der Zusatz eines Pflegestifts, spüre der Form ihrer Lippen nach und schiebe meine Zunge ein Stück vor. Beinahe sofort beantwortet Kristina meinen Vorstoß und tippt mit ihrer Zungenspitze gegen meine und jagt damit einen Energieschub durch meinen Körper. Ich überwinde mit den Händen die Distanz auf dem Klavierhocker und umfasse ihre Hüften genau in dem Moment, als sie beginnt, an meiner Unterlippe zu saugen. Holy Shit. Sanft fahre ich mit der Zunge ihren Amorbogen entlang und sie erschauert leicht, ehe sie schließlich den Kopf in meine Halsbeuge schmiegt und langsam und tief ausatmet. Der Lufthauch streift meine Brust unter dem T-Shirt und in mir lodert das Verlangen auf, dass Kristina mich dort küsst, wohin ihr Atem verschwunden ist.

 

„Verdammt noch mal, wo ist der denn?“

 

Wir zucken gleichzeitig zusammen und fahren auseinander. Fuck! Das ist Andy da draußen auf dem Flur. Im Idealfall ist er allein, wenn nicht … Egal, er darf mich hier drin auf keinen Fall finden, schon gar nicht zusammen mit Kristina.

 

Ich springe auf. „Versteck dich“, flüstere ich ihr zu. Dann eile ich zur Tür. 

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