Kapitel 3 - Zwischen Traum und Fernsehstudio

Kristina

Mit geschlossenen Augen lege ich den Kopf in den Nacken und atme tief durch, ehe ich den Schlüssel aus der Tasche hole und die Tür zu meinem Airbnb aufschließe. Es ist noch dämmrig, aber schon heller als vor einer halben Stunde, als ich losgelaufen bin. Dank der kühlen Luft bin ich jetzt auch wach.

Die anderen halten mich für bescheuert, dass ich mir diese frühmorgendlichen Laufrunden immer noch antue, und mein innerer Schweinehund hätte ihnen heute sogar recht gegeben. 

Fünf Stunden Schlaf sind echt nicht viel.

 

Das heißt, wenn ich die Phasen rausrechne, in denen ich mich viel zu aufgeregt von rechts nach links gedreht habe, waren es effektiv vermutlich nur drei Stunden Schlaf, maximal vier.

Trotzdem habe ich meinen Wecker auf halb sechs gestellt. Laufen hilft immer, besonders so früh am Morgen, wenn die Wahrscheinlichkeit, jemandem zu begegnen gering ist.

Die Vivaldi-Playlist mit rhythmisch zu meinem Lauftempo passenden Konzerten und Sonaten dudelt noch immer in meinen Kopfhörern. Ob Noah diese Stücke auch kennt?

 

Seufzend schalte ich die Playlist aus, lege die Inears mit dem Handy auf die kleine Kommode im Flur und streife die Joggingschuhe von den Füßen.

So viel also zum Thema Kopf frei bekommen.

 

Ich kann schon wieder nur an Noah denken. An das, was gestern Abend passiert ist. Seine Lippen auf meinen, die weichen Barthaare, die meine Haut gestreichelt haben, seine Hände auf meinen Hüften … Die Kuhle über seinem Schlüsselbein war wie gemacht für meinen Kopf und ich wünschte, ich könnte seinen Duft festhalten. Doch der hat sich gestern schon verflüchtigt, nachdem ich mich endlich getraut habe, den Lagerraum zu verlassen. Ich weiß nur noch, dass es ein angenehmer Duft war.

Ich gehe auf das kleine Bad zu und stoße mit dem großen linken Zeh gegen die Türschwelle.

 

Verdammt! Ich sollte mich besser konzentrieren. In einer Stunde muss ich voll auf Sendung sein, im wahrsten Sinne des Wortes. Gleich heute Früh sind wir zu Gast im Morgenmagazin eines Radiosenders, da sollte ich besser nichts Falsches sagen.

Während das heiße Wasser in der Dusche über meinen Körper rinnt, gestatte ich mir daher nur noch einen kurzen Gedanken an Noah. Er war gestern nicht mehr da, als ich zurück in den Saal kam, wo die Aftershowparty stattfand. Die Erinnerung schmerzt und ist daher die beste Option, um meine Gedanken an ihn loszuwerden.

 

Es war nur ein Kuss, nichts weiter.

 

Schön, aber unbedeutend. Er hat sein stressiges Leben und ich meins. Vermutlich ist er nicht einmal mehr in Berlin. Und auch für uns geht es nach dem Radiointerview direkt weiter zum nächsten Termin. Wie realistisch ist es da bitte, dass wir uns noch einmal über den Weg laufen?

 

Ich stelle das Wasser ab, wickle mir je ein Handtuch um Körper und Haare und eile zwischen Bett, vor dem ich meinen Koffer abgestellt habe, und Küchenzeile hin und her. Wasserkocher anstellen, Teebeutel bereitlegen, Unterwäsche und Socken anziehen. Tee aufgießen, Hose und Top überstreifen. Schlafanzug in den Koffer werfen, Joggingschuhe in die Plastiktüte drehen und ebenfalls in den Koffer legen. Der Tee hat fertig gezogen und ich gönne mir fünf Minuten Ruhe mit meinem Grüntee an dem kleinen Küchentisch.

 

Das Fenster des kleinen Apartments geht zum Hof, der nur durch die umliegenden Fenster, hinter denen langsam das Leben erwacht, erleuchtet wird. Es ist ein schönes Apartment, gemütlich und praktisch eingerichtet. Platz für ein Klavier gibt es nicht, doch davon abgesehen könnte ich es hier theoretisch auch länger aushalten. Aber wie so oft bin ich auch hier nur eine Nacht.

 

Ich überlege, wie viele Nächte ich ab heute Abend wieder zu Hause in meinem Bett schlafen werde, ehe die nächsten Auswärtstermine wieder anstehen, komme aber nicht weit. Hat Piet gestern nicht noch etwas von einem neuen Termin erzählt?

 

Kopfschüttelnd sauge ich den Duft von Jasmin ein, trinke einen großen Schluck und flitze zurück ins Bad, wo ich meine Haare föhne und wieder zu Knoten aufdrehe. Inzwischen habe ich diese Frisur innerhalb von zwei Minuten fertig. Noch fix ein bisschen Make-up, Mascara und Lidstriche, und ich blicke im Spiegel der Kristina ins Gesicht, die alle aus den Medien kennen. Kristina von Escape, nicht Kristina, die …

 

Der Weckton meines Handys unterbricht meine Gedanken.

 

Halb sieben. In ein paar Minuten werden die anderen hier sein und mich abholen. Hastig packe ich meine letzten Sachen zusammen, schließe den Koffer und trinke den Tee aus.

Kaum habe ich draußen den Schlüssel in den Briefkasten geworfen, kommt auch schon der Kleinbus vorgefahren und Piet winkt aus dem Beifahrerfenster.

 

„Moin, alles klar?“

 

„Klar.“ Ich öffne die Schiebetür und klettere auf den freien Platz neben Joshie.

 

„Du weißt es hoffentlich zu schätzen, dass wir früher aufgestanden sind, um dich hier abzuholen“, sagt sie gähnend anstelle einer Begrüßung.

 

Ich verkneife mir ein Lachen. Piet hat mein Airbnb extra so ausgesucht, dass es auf dem Weg zum Sender liegt, die Seitenstraße hier kann maximal einen Umweg von anderthalb Minuten bedeutet haben. Aber ich will meiner besten Freundin nicht vor den Kopf stoßen.

 

„Weiß ich. Und ich bin euch allen von Herzen dankbar.“

 

„Schön, könnt ihr dann jetzt bitte die Klappe halten? Ich will die paar Minuten noch zum Schlafen nutzen“, kommt es düster von Johnny, der auf der Rückbank sitzt, den Kopf ans Fenster gelehnt und sein Basecap tief ins Gesicht gezogen hat.

 

Entschuldigend hebe ich die Hände und schaue schweigend durch die Windschutzscheibe, vor der sich nun der morgendliche Berliner Wochenendverkehr ausbreitet. Also dann, los geht’s.

 

Wir haben zwei Stunden mit den Radiomoderatoren gequatscht und zu Freddys Gitarrenbegleitung einen unserer Songs performt. Anschließend hat Piet ein zweites Frühstück mit frischen belegten Brötchen springen lassen. Johnny hat auf dem Balkon des Senders eine Zigarette geraucht, Freddy hat mit Judith telefoniert und ich habe mit Ben und Joshie vor dem Sender ein bisschen Kontakt zu wartenden Fans gepflegt. Wir sind mit dem frühen Start in den Tag so ziemlich versöhnt, auch wenn ich gut einen zweiten Grüntee vertragen könnte. Aber im Sender gab es nur Kaffee, und ich Dussel habe die übrigen Teebeutel in meinem Koffer im Auto gelassen. Das ist mir auch noch nie passiert. Na ja, vielleicht habe ich gleich beim nächsten Interview etwas mehr Glück. In dem Fernsehstudio wird es doch irgendwo einen Wasserkocher geben!

Bis dahin muss ich mich mit einem Riegel Bitterschokolade über Wasser halten. Es knackt laut, als ich das erste Stück abbeiße.

 

Joshie schüttelt den Kopf und greift nach dem Papier des Riegels, wozu sie zwangsläufig mein Hand mitdrehen muss. „82 Prozent? Unglaublich, dass das Zeug nicht einfach aus der Packung staubt!“

 

Ich ziehe meine Hand weg und sehe sie genervt an. „Du hast ja keine Ahnung.“

 

„Jo, aber ich steh dazu.“

 

Die Schokolade legt sich trocken auf meine Zunge und der bittere Geschmack breitet sich in meinem Mund aus, während der Kleinbus uns gefühlt quer durch Berlin fährt.

 

Wo Noah wohl gerade ist?

 

Ich verschlucke mich an der Schokolade und huste heftig. Verdammt, woher kam dieser Gedanke jetzt schon wieder?

 

Joshie klopft mir fest auf den Rücken und reicht mir eine Flasche Wasser, sobald ich mich wieder beruhigt habe. „Geht’s?“

 

Ich trinke noch einen Schluck und gebe ihr nickend die Flasche zurück. „Danke.“

 

Der Hustenanfall hat mich buchstäblich wachgerüttelt und ich verzichte darauf, im Fernsehstudio nach einem Wasserkocher zu fragen. Nicht, dass noch mehr Unglücke passieren. Zwischen Ankunft, Vorbesprechung, Maske und Aufnahme im Studio bliebe auch gar keine Zeit, Tee zu kochen und ihn zu genießen.

 

Ich stehe hinter Ben und Freddy am Rand des Studios und schaue auf das hell erleuchtete grüne Sofa, auf dem Liz, die Moderatorin, noch einmal abgepudert wird und ihre Moderationskarten sortiert. Meine Haarnadeln drücken schon wieder und nur mit Mühe kann ich dem Drang widerstehen, mich am Kopf zu kratzen. Gleich geht es los.

 

„Wir gehen auf Sendung in 5, 4, 3, 2, 1.“

 

Liz hebt den Kopf und lächelt breit in die Kamera. „Seit zwei Jahren surfen sie auf der Erfolgswelle und haben die Herzen ihrer Fans mit Songs wie Girl in the Crowd und Run im Sturm erobert. Im Herbst soll ihr neues Album erscheinen. Was sie bis dahin noch alles vorhaben, verraten uns jetzt Escape.“

 

Wir gehen zu dem Sofa hinüber und setzen uns auf die zuvor abgesprochenen Plätze. Die Wärme der Scheinwerfer breitet sich augenblicklich auf meinem Gesicht aus, und die Tatsache, dass wir nun zu sechst auf dem Sofa sitzen, macht alles noch eine Nummer kuscheliger.

 

„Ich glaube, wir brauchen ein neues Sofa“, sagt Liz und lacht. „Nachdem gestern schon Five2Seven hier auf den Polstern gesessen haben, und heute ihr, wäre das Interesse bestimmt groß, uns das Sofa abzunehmen …“

 

Hitze steigt mir ins Gesicht. Sind das nur die Scheinwerfer oder werde ich rot? Kann man das unter all dem Puder sehen? Sitze ich womöglich auf dem gleichen Platz wie Noah?

Oh Mann, ich führe mich auf wie ein verliebter Teenager! Ich bohre die Fingernägel in meine Handinnenflächen. Konzentration!

 

„Ach, das passt. Kuschelkurs sind wir aus dem Bus gewöhnt“, entgegnet Ben fröhlich.

 

„Und ich dachte, als erfolgreiche Band ist man in großen Nightlinern unterwegs.“

 

„Ja, auch. Aber hier im Berliner Stadtverkehr musste dann doch ein normaler Van herhalten.“ Freddy rück noch ein Stück näher an Joshie.

 

„Okay. Auf euren Konzerten könnt ihr euch hingegen über zu wenig Platz nicht beschweren. Die Hallen werden ja immer größer. Könnt ihr das noch überschauen?“, fragt Liz.

 

„Ist es unprofessionell, wenn wir nein sagen?“, fragt Johnny, nur um gleich darauf zu grinsen und locker weiterzuerzählen. „Also es ist auf jeden Fall cool und natürlich sehen wir auch die steigenden Klickzahlen bei den Streamingdiensten oder die größere Nachfrage bei den Konzerttickets. Aber zwischen prinzipiell wissen und richtig checken, was da abgeht, liegen manchmal Welten.“

 

„Das glaube ich. Könnt ihr euch erklären, was die Fans an eurer Musik so begeistert?“

 

Ich erwidere Liz‘ offenes Lächeln, das sich auch in ihren Augen widerspiegelt. Sie scheint ernsthaft interessiert, nicht wie dieser furchtbare Typ gestern. Vielleicht hört Liz unsere Musik auch gern.

 

Ben stößt mir seinen Ellbogen in die Seite.

 

Unsichtbar für die Kameras, aber deutlich spürbar in meinen Rippen. Verdammt, die Frage ist an mich gerichtet. Ich räuspere mich hastig, als ob ich nur mit meiner Stimme zu kämpfen gehabt hätte und nicht auf gedanklichen Abwegen gewesen wäre.

 

„Wir lieben es einfach, gemeinsam Musik zu machen“, antworte ich endlich. „Ich glaube, das hört man raus. Und unsere Fans schreiben uns so oft, dass sie sich in unseren Songs wiederfinden.“

 

Liz nickt. „Vertrauen, Selbstzweifel, die große Liebe – das sind ja auch Themen, die jeder kennt. Gibt es etwas, worüber ihr keinen Song schreiben würdet?“

 

Über heimliche Küsse in Lagerräumen, schießt es mir durch den Kopf und ich beiße mir hastig auf die Lippe, bevor mir noch etwas herausrutscht. Freddy beantwortet die Frage, aber ich bekomme nicht mit, was er sagt. Das Jucken meiner Kopfhaut wird stärker, vielleicht bin ich gegen die Haarnadeln allergisch? Wie gern würde ich sie wieder aus den Knoten lösen. So wie gestern Abend, als mir mein Haar endlich wieder frei über den Rücken fiel. Noah hat die Haarspitzen zwischen seinen Fingern gehabt …

„Escape spielen im Frühjahr noch hier in Berlin, in Düsseldorf, Bremen, Regensburg und Halle. Danke, dass ihr heute hier bei uns wart!“

 

Joshie sieht mich entgeistert an, als wir das Studio wieder verlassen. „Kris, was ist los mit dir? So unkonzentriert kenne ich dich gar nicht.“

 

„Sorry, bin ein bisschen müde. Hab nicht so gut geschlafen.“

 

„War gestern irgendwas? Du warst so plötzlich verschwunden und dann ewig weg.“

 

Na prima, war ja klar, dass die Frage irgendwann kommen musste.

 

Aber ich kann ihr unmöglich die Wahrheit sagen. Wie würde das auch klingen? Ich habe heimlich mit Noah Hammond rumgeknutscht. Wobei, wir haben nicht geknutscht. Dieser Kuss, der war …

 

„Ich brauchte ein bisschen Zeit für mich und hab in einem Lagerraum Klavier gespielt.“

Das ist immerhin die halbe Wahrheit.

 

Joshie lacht auf. „Ernsthaft? Du bist ja bekloppt!“

 

Ich zucke nur mit den Schultern und steige in den Van, wo ich mich diesmal ans Fenster setze und die Beine anziehe. Die Jungs machen es sich wieder auf der Rückbank bequem. Piet telefoniert wieder, kaum dass wir losgefahren sind, Ben tippt auf seinem Tablet herum und Joshie übt auf der Mittelkonsole ein paar abgedrehte Schlagzeugpattern.

 

Ich setze meine noisecancelling Kopfhörer auf und ziehe mein Smartphone aus der Tasche. Gerade will ich für die Rückfahrt nach Hamburg ein Hörbuch starten, als die Streamingplattform eine Werbeanzeige von Five2Seven ausspielt. Mein Herz macht einen Satz, und als ob ich etwas Verbotenes tun würde, schaue ich mich um, ob die anderen beschäftigt sind. Niemand nimmt von mir Notiz, trotzdem mache ich mich noch ein wenig kleiner, als ich auf das Bandprofil klicke. Kurz darauf dringen Gitarrenklänge in mein Ohr, und nach nur vier Takten beginnt jemand zu singen.

 

Babe, it’s been ages

since we last met.

You held my hand and took my heart

Now it feels like I’m torn apart.

 

Ist das Noah, der singt? Die Stimme klingt angenehm warm, aber nicht so tief wie Noahs Stimme gestern. Aber das muss ja nichts heißen, Sprech- und Gesangsstimme unterscheiden sich oft. Und so viel geredet haben wir gestern auch nicht.

 

Ich tippe den Song in die Suchmaschine ein und finde heraus, dass nicht Noah, sondern sein Bandkollege Liam bei diesem Song die Leadstimme singt. Trotzdem höre ich das Lied bis zum Schluss, nur um dann zu einem Song zu wechseln, bei dem Noah ein Solo hat. Als der Gesang nach dem Intro einsetzt, frage ich mich, wie ich vorher nicht sofort den Unterschied habe hören können. Das hier ist eindeutig Noah. Das raue Timbre, das in den wenigen Sätzen gestern Abend mitschwang, ein eigentlich kräftiger Bariton, der aber einen Teil seiner Power zurückhält. Wieso?

 

Don’t leave, cause I’d miss you …

 

Ich vergrabe das Smartphone in meinem Schoß, lehne den Kopf gegen die Scheibe und schließe die Augen. Und dort, in meinen Erinnerungen kann ich Noah wieder sehen, und seine Nähe spüren. Den ganzen Weg bis Hamburg. 

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