Kapitel 4 - Business as usual

Noah

Es klopft von links. Falsche Richtung. Irritiert öffne ich die Augen und sehe mich um. Sitzecke, Fernseher, Schreibtisch, halboffene Tür zu einem Bad. Irgendein Hotelzimmer, kennt man eins, kennt man alle. Aber in welcher Stadt befinde ich mich?

Es klopft erneut.

„Ja?“, rufe ich, rapple mich auf und sehe mich nach meinem Handy um, in der naiven Hoffnung, dass das mir einen heißen Tipp geben kann, wo ich gerade bin. Leider kann ich das Gerät nicht finden. Verdammt.

Es klopft zum dritten Mal. „Noah?“

 

Stöhnend stolpere ich aus dem Bett und haste zur Tür, vor der mit breitem Grinsen Scott steht. Doch als er mich sieht, geraten seine Mundwinkel etwas in Schieflage.

„Bist du etwa gerade erst aufgestanden?“ Er schüttelt fassungslos den Kopf und schiebt sich an mir vorbei ins Zimmer.

 

„Hey, was soll das? Wie spät ist überhaupt?“

 

„Zu spät am Tag, um noch nicht geduscht und angezogen zu sein.“ Mit einem Ruck zieht Scott die Vorhänge zurück, öffnet das Fenster und wirft mir die Klamotten zu, die ich gestern auf dem Sofa abgelegt habe.

„Beeil dich. In einer dreiviertel Stunde ist das erste Interview.“

 

Großartig. Manchmal frage ich mich echt, ob Scott als Manager oder als Sklaventreiber angestellt ist.

 

„Was ist mir Frühstück?“, frage ich, und stehe schon mit einem Bein in der Dusche.

 

„Wärst du rechtzeitig aufgestanden, hättest du das längst erledigen können.“

 

„Sorry, mein Wecker hat nicht geklingelt“, rufe ich gegen den einsetzenden heißen Wasserstrahl an. Dabei bin ich mir keinesfalls sicher, ob das der Wahrheit entspricht. Möglicherweise habe ich den Alarm auch einfach abgestellt und dabei das Handy irgendwohin befördert, wo ich es eben auf die Schnelle nicht finden konnte.

 

Als ich aus dem Bad komme, stehen hinter Scott auf dem Tisch der Sitzecke eine dampfende Tasse und ein Teller mit einem Brötchen und etwas Obst. Okay, ich revidiere das mit dem Sklaventreiber. Scott hat seine guten Seiten.

 

„Wo sind die anderen?“, frage ich und greife nach der Kaffeetasse.

 

„Drüben in der Suite. Den Gang links runter, Nummer 705.“ Scott wendet sich zum Gehen um. „Sieh zu, dass du auch gleich da bist.“

 

„Okay, okay.“

 

Scott tippt auf seine Uhr. „10 Minuten“, sagt er und will wohl schon aus dem Zimmer verschwinden, doch ich halte ihn noch zurück.

 

„Letzte Frage. Wo sind wir heute?“

 

„Warschau.“

 

Und damit fällt die Tür hinter ihm ins Schloss.

 

Ich tauche das Brötchen in den Kaffee und klemme es mir zwischen die Zähne und begebe mich auf die Suche nach meinem Handy. Gestern noch Berlin, heute also Warschau. Und es geht mit dem gleichen Programm weiter. Andere Journalisten, gleiche Fragen. Aber ob ich noch einmal so etwas erleben werde wie vorgestern mit Kristina? Die Art, wie sie Klavier gespielt hat, und dann ihre Nähe. Warum musste Andy draußen auf dem Flur nur so ein Spektakel veranstalten? Wobei, eigentlich gut, dass er gerufen hat und nicht einfach in den Lagerraum geplatzt ist. Nicht auszudenken, was passiert wäre …

 

Ich entdecke mein Handy unter dem zweiten Kopfkissen.

 

9:36 Uhr. Mann, ist das früh!

 

Zu blöd, dass Scott uns, nachdem ich wieder da war, direkt von der Aftershow-Party ins Hotel verfrachtet hat. So konnte ich mich nicht mehr von Kristina verabschieden, geschweige denn, sie nach ihrer Nummer fragen.

 

Ich weiß nicht mehr, wie viele Frauen ich in den letzten zwei Jahren geküsst habe. Aber kein Kuss war wie der in dem dunklen Lagerraum vor dem Flügel. Es ist verrückt. Ich kenne Kristina überhaupt nicht, und dennoch war da zwischen uns mehr als in mancher Beziehung, die ich in den vergangenen Jahren geführt habe.

 

Die Uhr auf dem Smartphone springt auf 9:43. Ich schiebe mir den Rest des Brötchens in den Mund und exe den Kaffee. Dann eile ich aus dem Zimmer und den Hotelflur hinunter.

 

 

Obwohl mir mein Magen fast bis in die Kniekehlen hängt, bleibt uns nach den Interviews nur wenig Zeit für einen Imbiss. Zwar habe ich mir zwischendurch einen zweiten Kaffee bestellt und ordentlich Milch und Zucker untergemischt, aber gegen das Loch in meinem Buch hilft das nun nicht mehr. Sogar Andy, der mehr gefrühstückt hat als ich, verzieht missmutig das Gesicht.

 

„Imbiss? Ich hab jetzt drei Stunden am Stück geredet, ich brauche etwas Ordentliches.“

 

Dankbar, dass diesmal nicht ich die Beschwerde vortrage, nicke ich zustimmend. Scott hat trotzdem nicht mehr als ein mitleidiges Lächeln für uns übrig.

„Schlagt euch den Bauch besser nicht zu voll. Simon will mit euch noch ein paar Choreos durchgehen.“

 

Wie auf sein Stichwort kommt Simon, unser Choreograph und Tanzlehrer, in den Raum und klatscht in die Hände. „Seid ihr soweit?“

 

Auf Sumas Gesicht breitet sich ein Grinsen aus. „Klar! Immer!“

 

Logisch, wenn’s ums Tanzen geht, ist Suma immer sofort am Start, dann braucht er kein Essen, keinen Schlaf … Für mich gilt das leider nicht.

 

„Gib uns wenigstens eine halbe Stunde“, bitte ich und habe schon die Menükarte des Hotelrestaurants in der Hand.

 

Simon verdreht theatralisch die Augen und tippt auf sein uhrenloses Handgelenk. „Eine halbe Stunde? So viel Zeit haben wir nicht. Und wenn ihr vollgefuttert seid, tanzt ihr noch weniger synchron als ohnehin schon.“

 

Missmutig lasse ich mich nach Simons vernichtendem Urteil im Sessel zurückfallen. Mit Sicherheit haben zumindest Andy, Liam und ich Nachholbedarf, was das Tanzen angeht. Allerdings weiß ich jetzt schon, dass Simon sowieso nicht zufrieden sein wird. Alles, was ungenauer tanzt als ein Uhrwerk, tanzt seiner Meinung nach schlecht.

 

„Bitte, Si. Wir müssen ein bisschen was essen.“ Liam legt unserem Choreographen eine Hand auf die Schulter und sieht ihn flehend an. Seine Art der Diplomatie.

 

Simon zögert, dann lenkt er mit ausladender Kopfbewegung ein. „Okay. Halbe Stunde. Keine Sekunde länger.“

 

„Danke, du hast was gut bei mir“, sage ich zu Liam.

 

„Schon okay, war ja nicht ganz uneigennützig“, erwidert er. „Aber fürs Übrige bin ich dankbar, wenn du mir gleich nicht auf die Füße trittst.“

 

„Haha.“ Als ob wir Walzer tanzen würden! Wir stehen weit voneinander genug weg, sodass ich schon einen richtig großen Schritt machen müsste, um überhaupt in die Nähe von Liams Füßen zu kommen.

 

Aber natürlich findet Simon bei unserem Tanztraining noch genug zum Kritisieren.

„Das linke Bein hinter das rechte“, ruft er, während wir die Choreo zu Shadow durchgehen.

 

Ich schaue auf meine Füße. Habe ich mich vertan oder meinte Simon Liam oder Andy? Suma mit Sicherheit nicht. Allerdings bin ich schon wieder beim nächsten Schritt und kann mich nicht mehr erinnern, wie ich noch vor zwei Sekunden gestanden habe.

 

„Nochmal.“ Simon startet den Song erneut.

 

Blick nach unten bis zum Einsatz der Drums, Kopf hoch, den rechten Arm angewinkelt heben. Jetzt kommt Liams Einsatz, doch er bewegt nur die Lippen zum Playback.

Arme vor dem Körper kreuzen, dann nach unten, Blick nach rechts, Blick nach links. Was hat das eigentlich mit dem Inhalt des Songs zu tun?

 

There are shadows

Where there should be dreams

Only iron bars

Where I should be free

 

Ich singe den Refrain gedanklich mit, während ich einen Fuß hinter den andere setze und die Arme dazu bewege. Die zweite Strophe kommt, Andys Part, doch auch er überlässt den Gesang für den Moment dem Band. Es folgt die Bridge.

 

Release me

Take my hand and guide me

 

„Aus! Jungs, das kann doch nicht sein!“ Simon wirft die Hände in die Luft und den Kopf in den Nacken, atmet hörbar aus, ehe er uns genervt ansieht. „Jetzt müsst ihr euch schon nicht auf den Gesang konzentrieren und macht es trotzdem noch falsch.“

 

Er kommt auf uns zu, schubst Liam ein Stück zur Seite und stellt sich zwischen ihn und mich.

 

„Release me, Step! Take my hand and guide me, Step! Rechtes Bein hinter das linke.“

 

„Hast du nicht eben gesagt, links hinter rechts?“, fragt Andy.

 

„Ja, am Anfang. Ab der Bridge ist es dann andersherum“, erklärt Simon mit einem Blick, als könne er nicht fassen, dass wir nicht von selbst auf diese Selbstverständlichkeit gekommen sind.

 

„Wer denkt sich denn so etwas aus?“, murmle ich genervt.

 

Simon presst die Fingerspitzen aufeinander und lächelt mich süßsauer an. „Ich. Zweifelst du an meiner Kompetenz?“

Es schwingt ein bedrohlicher Unterton in seiner Stimme mit und ich hebe abwehrend die Hände.

 

„Niemals.“ Ich habe wirklich keine Zweifel, dass Simon weiß, was er tut. Problematisch ist nur, wenn er davon ausgeht, alle anderen würden seine Tanzleidenschaft und sein Talent zu hundert Prozent teilen. Ich gebe mir schon Mühe, auch wenn das nicht immer so scheinen mag.

 

„Kannst du noch einmal mittanzen?“

 

Simon seufzt, nickt dann aber. „Okay.“

 

Die Mädels schnappen nach Luft und hüpfen aufgeregt auf und ab.

 

Ein paar von ihnen schlagen sich die Hände vor den Mund, vermutlich um einen Aufschrei zu unterdrücken. Manchmal war es in der Vergangenheit echt schlimm, dass die Fans sich gar nicht beruhigen konnten, sobald wir in ihre Nähe kamen. Auf den Konzerten können wir nichts dagegen tun. Aber die Meet and Greets sind auch für uns angenehmer worden, seitdem die fast ausschließlich weiblichen Teilnehmerinnen vorher gebeten werden, sich zu beruhigen.

 

Ich habe schon einige Meter vor dem kleinen Raum mein schönstes Lächeln aufgelegt und strecke dem ersten Mädchen nun meine Hand entgegen.

„Hi. Wie heißt du?“

 

„Mania“, antwortet sie heiser, ihre Augen glänzend auf mich gerichtet.

 

„Schön dich kennenzulernen, Mania.“

 

Ich begrüße auch die anderen acht Mädchen, berühre zitternde, warme und schwitzige Hände.  Vielleicht sollte ich auch eher auf Andys Methode mit der Ghettofaust umsteigen. Aber das passt nicht zu meiner Rolle. Die meisten der Mädchen würden vermutlich auch nichts dagegen haben, wenn ich sie umarmen würde. Zur Begrüßung finde ich das allerdings etwas merkwürdig.

 

„Schau mal, das habe ich für dich gemacht.“ Mania überreicht mir ein Lederarmband mit silbriger Gravur. No more shadows, I’ll live my dreams. Die letzte Zeile aus Shadows. Die verschnörkelte Schrift zieht sich gleichmäßig über das schwarze glatte Leder und wird von einem dezenten Federmuster umspielt.

 

„Wow, das sieht sehr professionell aus“, sage ich anerkennend. „Das sollte ich als Glücksbringer tragen, damit ich nicht wieder falsch tanze.“

 

Ich halte ihr mein Handgelenk hin. „Machst du es mir um?“

 

Manias Hände zittern und das Armband tanzt auf und ab, doch nach einer Weile gelingt es ihr, den Verschluss zu öffnen und wieder zu schließen. Unweigerlich zucke ich zusammen, als ihre Finger meine Haut streifen. Es ist nicht fair Mania gegenüber, aber ich sehe Kristina wieder vor mir. Wünschte, sie wäre es, die mich berührt.

 

„Danke“, sage ich. Diesmal kostet es mich mehr Anstrengung als zuvor, das Lächeln in meinem Gesicht aufrecht zu erhalten. „Jetzt geht heute Abend bestimmt nichts mehr schief bei der Choreo.“

 

Mania senkt den Blick. „Bestimmt nicht. Du tanzt richtig gut!“

 

„Nur Noah?“, mischt Andy, der neben mir steht, sich ein.

 

Mania lacht. „Nein, ihr alle natürlich.“

 

„Andy, das nennt man fishing for compliments“, sage ich und gebe ihm einen sanften Ellbogenstoß in die Rippen.

 

„Sorry.“ Andy grinst. „Ich brauche manchmal noch ein bisschen mehr Bestätigung.“

 

Das Mädchen neben Mania, ich glaube, sie heißt Kinga, kichert. „Das ist in Ordnung. Ich kann dir das noch ganz oft sagen, wenn du möchtest.“

 

„Echt?“ Er sieht sich um, als ob er jemanden suchen würde. „Ich sollte Scott fragen, ob wir für dich noch ein zusätzliches Zimmer auf der Tour organisieren können.“

 

Kinga macht große Augen. Um Himmels Willen, sie nimmt Andys Sprüche doch hoffentlich nicht ernst? Ich sehe meinen Bandkollegen prüfend an. Scheiße, meint er das ernst?

 

„Andy“, zische ich.

 

„Ich würde total gern mitkommen, aber meine Mutter würde durchdrehen.“

 

Nicht nur die, schießt es mir durch den Kopf, und ich bedenke Andy mit einem weiteren strengen Blick. Aber wenn ich ehrlich sein soll, muss ich zugeben, dass ich Andy ein bisschen beneide. Er ist der Badboy unserer Gruppe, er darf hemmungslos flirten und Mädels abschleppen. Liam und ich haben den Mädchenschwarm-Stempel, wir müssen nett und zuvorkommend sein. Lächeln und Komplimente machen ist erlaubt, alles darüber hinaus ist verboten. Wir dürfen keine Herzen brechen. Als ob das nicht trotzdem passieren würde. Denn all das, was die Mädels sich in ihren Vorstellungen erträumen, wird niemals wahr werden.

Dabei wäre da ein Mädchen, dem ich gern das gleiche Angebot machen würde wie Andy eben Kinga. Scott müsste für Kristina nicht einmal ein eigenes Zimmer buchen. Sie könnte …

 

„Machen wir noch ein Foto zusammen?“

 

Mania lächelt schüchtern und holt mich in die Realität des Backstages zurück. Diese Gedanken von eben sollte ich mir besser schnell abgewöhnen. Diese Träume werden genauso wenig wahr werden wie die Träume unserer Fans.

Ich verkneife mir ein Seufzen, lege einen Arm um Manias Schultern und lächle in die Handykamera.

 

„Klar.“   

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