Kapitel 5 - So wie früher, so wie du

Kristina

Ben schlägt rhythmisch Akkorde, während Freddys Finger in atemberaubenden Tempo über den Hals seiner E-Gitarre fliegen. Ich werfe Martin neben mir einen raschen Blick zu. Unser Produzent zieht imponiert die Augenbrauen nach oben und die Mundwinkel nach unten und nickt.

„Ziemlich geil“, sagt er, als die beiden schließlich enden.

Ben und Freddy grinsen sich an und machen ein High-Five, Freddy deutet eine kleine Verbeugung an.

„Für das Album würde ich das Solo allerdings kürzen“, sage ich. 

Da die Jungs mich enttäuscht ansehen, fühle ich mich allerdings bewogen, sie zu besänftigen.

 

„Nur für das Album“, wiederhole ich daher. „Live können wir daraus gern eine Fünfzehnminutennummer machen.“

 

Martin nickt. „Kris hat recht. Das Solo ist verdammt gut. Mark Knopfler könnte neidisch werden, Freddy. Aber live kommt das besser als im Stream.“

 

Freddy stellt die Gitarre neben dem Verstärker ab. „Stimmt schon“, sagt er und lächelt.

 

Meine Finger, die ich im Schoß zu Fäusten geballt habe, entspannen sich. Wieso war ich so verkrampft? Freddy war mir noch nie böse, wenn ich meine musikalische Meinung gesagt habe. Wir waren uns immer schnell einig. Da habe ich mit Ben mehr diskutiert. Aber auch der sagt nichts gegen meinen und Martins Einwand.

 

„Kannst du mal eine Basslinie dazu spielen?“, fragt er stattdessen.

 

Ich drehe mich zum E-Piano um. „Klar, direkt das Solo?“

 

Ben nickt, Freddy schnappt sich wieder seine Gitarre und wir fangen noch einmal an. Ich lasse den Rhythmus von Bens Gitarre auf mich wirken, höre die Tonart heraus, E-Dur, und improvisiere mit der linken Hand eine Basslinie, wie Johnny sie spielen würde. Mit der rechten Hand streue ich hin und wieder einen Lauf als Echo von Freddys Solo ein.

 

Die Musik breitet sich im Studio aus, legt sich um uns, und schon nach ein paar Takten sind wir mit der Musik zu einer Einheit verschmolzen. Ich merke, wie meine Mundwinkel nach oben wandern, während meine Finger über die Klaviatur gleiten. Es ist wie früher im Proberaum vom Fleet21, wenn wir einfach nur gejammt haben. So viel Spaß es auch macht, auf der Bühne zu stehen und unsere Musik mit den Leuten zu teilen – diese Momente, in denen wir ungezwungen spielen, sind unersetzlich. Ich fange Freddys Blick am Ende des Solos, Ben nickt und wir spielen den Song gleich noch einmal. Auch auf seinem Gesicht liegt ein versonnenes Lächeln.

 

„Wow, ich könnte euch ja stundenlang zuhören“, sagt Martin und reibt dabei mit den Händen über seine Unterarme, als ob er eine Gänsehaut vertreiben wollte. „So viel Leidenschaft und Perfektion zugleich …“

 

„Krieg dich mal wieder ein“, erwidert Ben kopfschüttelnd. „Man könnte meinen, du redest von argentinischem Tango.“

 

Martin winkt ab und verzieht sich hinters Mischpult. Das ist Statement genug. Es wird höchste Zeit, dass wir nicht nur spielen, sondern unsere Demoaufnahmen machen.

 

Gerade habe ich meine Klavierstimmen für zwei Songs eingespielt, als Ben den Regieraum betritt und sich mit grimmiger Miene hinter Martin aufs Sofa fallen lässt.

 

Verwundert nehme ich die Kopfhörer ab und gehe zu ihnen rüber, Freddy kommt kurz nach mir dazu und sieht nur bedingt weniger grimmig aus.

 

„Was ist los? Hab ich falsch gespielt?“

 

Freddy schenkt mir einen zweifelnden Blick. „Als ob. Du würdest mit verbunden Augen perfekt spielen.“

 

„Was dann?“

 

Ben wischt auf dem Bildschirm seines Smartphones hin und her und hält es mir schließlich mit zusammengekniffenen Lippen vor die Nase.

 

Ben (Escape) und Liz ganz vertraut. Was läuft da?

 

Ich mache mir nicht die Mühe, die paar Zeilen unter dem Foto der beiden zu lesen. Ben und Liz in lockerer Umarmung. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich den übrigen Text zu der Überschrift zusammenzureimen.

 

„Oh“, sage ich nur, um einen möglichst gleichgültigen Tonfall bemüht, was gar nicht so leicht ist, denn mein Herz schlägt auf einmal schneller als zuvor. Es ist nicht das erste Mal, dass so ein Gerücht durch die Medien geistert. Irgendjemand findet ständig einen Schnappschuss, der sich in Kombination mit einer reißerischen Überschrift medial ausschlachten lässt. Auf die meisten Gerüchte reagieren wir schon gar nicht mehr. Von daher könnte ich auch diesem neuesten Fantasieprodukt irgendeines Journalisten unbeeindruckt gegenüberstehen. Aber mein Herz rast und ein kalter Schauer jagt mir über den Rücken. Zum falschen Zeitpunkt die falsche Person, die zufällig die Tür zu einem Lagerraum geöffnet hätte … Dann wäre die Überschrift nun eine andere.

Hitze steigt mir ins Gesicht. Scham darüber, Erleichterung zu fühlen, dass niemand Noah und mich fotografiert hat.

 

„Ist doch nur heiße Luft. Nächste Woche ist das wieder vergessen“, sagt Martin schulterzuckend.

 

Ben schnaubt genervt. „Schon. Ist trotzdem daneben, wenn die Fans mich darauf ansprechen und ich von nichts weiß.“

 

„Ben! Du kannst unmöglich jeden Scheiß wissen, den irgendwer über uns schreibt“, erwidert Freddy.

 

„Dich nerven diese Artikel doch auch“, gibt Ben zurück und pfeffert das Handy über das Sofa.

 

„Natürlich nerven die mich. Aber ich brauche meine Energie für andere Dinge – und du auch.“ Mit einem Kopfnicken deutet er zum Aufnahmeraum und Ben erhebt sich grummelnd vom Sofa.

 

Ein paar Fans warten noch immer vor der Tür, als wir am Spätnachmittag das Studio verlassen.

 

In Anbetracht des kühlen Nieselwetters finde ich das erstaunlich. Ein paar der Mädels sehen regelrecht verfroren aus. Doch sobald Ben und Freddy auftauchen, beginnen ihre Augen zu leuchten.

 

„Mensch, ihr seid doch wahnsinnig, hier in der Kälte rumzustehen“, sagt Ben. Von dem Frust über den Artikel ist nichts mehr zu hören.

 

Eines der Mädchen, dessen Lippen schon ein wenig bläulich schimmern, lächelt Ben breit an. „Das machen wir gern für euch.“

 

„Können wir noch ein Foto machen?“

 

„Kannst du hier auf meinem T-Shirt unterschreiben?“

 

„Wann kommt das neue Album?“

 

Die Fans tummeln sich um uns herum. Zum Glück wird niemand von ihnen aufdringlich, dennoch lasse ich immer wieder hektisch meinen Blick wandern, um den Parkplatz vor dem Studio im Auge zu behalten. Was, wenn irgendein Paparazzi auftaucht? Oder mehr Fans kommen und die Situation doch außer Kontrolle gerät? Egal wie zusammengereimt dieses Gerücht über Ben und Liz auch sein mag, es kann nicht schaden, auf der Hut zu sein.

 

„Du spielst so toll Klavier“, sagt ein Mädchen, das maximal fünfzehn sein kann. Unter ihrer Jacke trägt sie eines unserer Band-T-Shirts. „Ich habe jetzt auch mit Unterricht angefangen.“

 

„Echt? Das ist ja toll.“

 

„Es macht total viel Spaß. Aber so gut wie du werde ich wohl nie.“

 

Dieser Ausdruck. Sie erinnert mich an … Ich beiße mir auf die Zunge, als die Erinnerung an meine Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule mich überfällt. Der stechende Blick des Professors. Das Flüstern der Prüfungskommission.

 

Ich schüttle den Kopf und lege dem Mädchen die Hand auf die Schulter. „Wie heißt du?“

 

„Lilly.“ Sie lächelt schüchtern und entblößt dabei den Silberdraht einer Zahnspange.

 

„Du musst nicht so gut werden wie ich, Lilly. Werd so gut wie du!“

 

Lilly legt die Stirn in Falten, ehe schließlich ein weiteres Lächeln über ihr Gesicht huscht. „Ich versuch’s.“

 

Sie bittet mich noch um ein Autogramm auf ihren Klaviernoten. Ein bisschen seltsam kommt es mir vor, auf etwas zu unterschreiben, was nicht von mir ist. Aber wenn es Lilly beim Üben motiviert, soll es mir recht sein.

 

„So, jetzt wird es aber wirklich langsam kalt. Geht nach Hause und wärmt euch auf“, sagt Freddy.

 

„Seid ihr morgen wieder hier?“, fragt jemand aus der Gruppe.

 

„Ja, es ist noch gut zu tun, bevor das Album fertig ist.“ Ben löst die Umarmung mit einem Mädchen, das ein letztes Selfie mit ihm gemacht hat und greift nach seinem Gitarrenkoffer, den er neben sich abgestellt hat.

 

„Könnt ihr uns nicht etwas vorspielen?“

 

Freddy setzt ein Pokerface auf. „Haha, nice try. Aber das, was hinter dieser Tür passiert“, er deutet mit dem Daumen auf den Eingang zum Studio, „bleibt vorerst geheim.“

 

Mein Vater ist noch nicht zu Hause, was mich, ehrlich gesagt, auch gewundert hätte.

 

Er hat früher schon viel gearbeitet. Seit ich dauernd mit der Band unterwegs bin, sind die Zeiten, da wir beide gleichzeitig zu Hause sind, noch weniger geworden. Heute ist mir das ausnahmsweise ganz recht. Obwohl ich seit dem Frühstück nur eine Kleinigkeit im Studio gegessen habe, mache ich mir nur rasch einen Tee. Während das Wasser kocht, gehe ich zum Flügel hinüber, auf dem ich spiele, seit ich zwei Jahre alt war, und streiche mit den Fingern über die weißen Tasten, ohne eine zu drücken.

 

Die wartenden Fans vor dem Studio heute, die Fragen, die Autogrammwünsche – wäre es anders, wenn ich vor zwei Jahren nicht auf das Musikstudium verzichtet hätte?

Ich habe jetzt auch mit Unterricht angefangen. Lillys Worte drängen sich mir wieder auf. Habe ich diesen Einfluss auf sie, und womöglich auch auf andere, gehabt? Wie krass ist das, bitte?

 

Der Wasserkocher piept und ich lasse die Finger von den Tasten gleiten.

 

„Nie so gut wie du“, murmle ich und mache ein paar schnelle Schritte zur Küche, um den Tee aufzugießen. Ich brauche dringend Ablenkung!

 

In meinem Zimmer stelle ich die Teetasse auf den Nachttisch und lasse mich auf mein Bett fallen. Wie so oft in den letzten Tagen greife ich nach meinem Smartphone und öffne Instagram. Auf unserem Band-Account sind wieder einige neue Benachrichtigungen eingegangen. Ein paar der Fans, die heute am Studio waren, haben die Fotos gepostet und uns markiert. Ich verteile ein paar Likes, wechsle dann aber zu meinem privaten Account, der nicht öffentlich ist und auf dem ich schon seit Ewigkeiten nichts mehr gepostet habe. Im Suchverlauf steht das Profil von Five2Seven an oberster Stelle.

 

Wie oft habe ich seit letzter Woche schon auf diesem Account Zeit verdaddelt?

 

Erschreckend viel Zeit, die ich womöglich sinnvoller in Schlaf investiert hätte. Doch auch jetzt tippe ich wieder auf das Bandfoto und sehe mir die Storys an. Ein paar Bilder und Ausschnitte von den Konzerten in Warschau, und erst ein paar Stunden alte Aufnahmen aus dem Backstage in Krakau. Eine der Storys zeigt die Jungs beim Tanztraining.

 

„Am Ende der Tour kann’s sogar Noah“, sagt Suma grinsend in die Kamera, die kurz darauf zu Noah schwenkt, der breit grinst und einen seltsamen Hopser macht.

 

In meinem Bauch hopst auch irgendetwas, während ich mir Noahs Tanzschritte ansehe. Suma, oder vielleicht auch das Bandmanagement, hat Noahs eigenen Kanal in der Story markiert und ich folge dem Link.

 

Noah allein hat schon mehr Follower wie wir mit unserem gemeinsamen Band-Account. Ein blauer Pfeil neben seinem Namen zeigt, dass es sein autorisierter Kanal ist, in der Bio hat er es trotzdem noch dazu geschrieben.

 

Hi, it’s me. Noah Hammond.

 

Er hat das Video aus der Band-Story in seinen eigenen Storys geteilt und mit dem Kommentar Der Support meiner Freunde motiviert mich jeden Tag versehen. In den weiteren Storys gibt es Bilder vom Catering, vom Einsingen mit den anderen Bandmitgliedern und ein paar dunkle Videos, in denen er hinter der Bühne steht.

 

„Gleich geht’s los. Krakau wir freuen uns!“ Er grinst breit in die Kamera und wirft seinen Followern augenzwinkernd eine Kusshand zu.

 

Spinner, schießt es mir durch den Kopf. Aber ein verdammt gutaussehender Spinner.

 

Ich scrolle durch seinen Feed. Professionelle Bilder aus irgendwelchen Shootings, Nahaufnahmen, Ganzkörperaufnahmen, Selfies. Drinnen, draußen, zusammen mit der Band oder allein. Egal, welches Bild ich mir anschaue – Noah lächelt auf jedem einzelnen.

Wie macht er das? Zwischen den wenigsten Beiträgen liegt mehr als ein Tag, auf jedem Bild ist ein anderer Ort markiert. Obwohl auch ich mit Escape dauernd unterwegs bin, kann ich mir nur schwer vorstellen, welchen Stress Noah haben muss. Und trotzdem springt mir auf jedem Post dieses einnehmende Lächeln entgegen. Ein Lächeln, das ihm Grübchen in die Wangen legt und in seinen Augen strahlt – und das meinen Magen und mein Herz in Aufruhr versetzt. Ein Lächeln, das ich gern noch mal in Echt sehen würde, ganz aus der Nähe.

 

Mein Daumen verharrt über dem Folgen-Button. Es ist nichts dabei. Er hat zwei Millionen Follower, ihm wird nicht auffallen, wenn ich dazukomme. Und selbst wenn, wäre das doch keine große Sache.

 

Eine Nachricht von meinem Vater schiebt sich in den oberen Bildschirmrand.

 

Hast du schon gegessen? Ich kann uns was vom Thailänder mitbringen?

 

Hastig schließe ich die App, ohne ein Abo hinterlassen zu haben, und öffne stattdessen den Messenger, um meinem Vater zu antworten.

 

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