Noah
Regentropfen fließen in bizarren Mustern an der Fensterscheibe des Taxis hinunter, das mich zum Flughafen bringt. Typisches Londoner Wetter, ich werde es in den nächsten Tagen kaum vermissen. Genauso wenig wie alles andere, das ich hier zurücklasse. Okay, Marble ist die goldene Ausnahme. Mit ihr hätte ich gern noch mehr Zeit gehabt. Ich habe meine Zwillingsschwester das letzte Jahr über viel zu wenig gesehen.
Auf den Rest meiner Familie hätte ich allerdings spätestens seit gestern Abend schon wieder verzichten können. Aber wie üblich hatte Dad das Osterfest professionell durchgeplant und ein Skript für seine Social Media Aktivitäten, die beinahe sämtliche Familienmitglieder mit einschließen, geschrieben.
Dan und Lizzy haben sich begeistert über die Osterüberraschungen gezeigt, und sogar Marble war mit Feuereifer dabei, weil sie, im rosa Hasenkostüm, durch den Garten hüpfen und Schokoladeneier verteilen durfte. Schokoeier, die Mum wieder zum Großteil einkassiert hat, sobald die Aufnahmen im Kasten waren. Wozu der ganze Hype mit der Schokolade, wenn wir hinterher doch nur einen Bruchteil davon bekommen? Da könnten wir genauso mit Eiertomaten Ostern feiern.
Mein Smartphone vibriert kurz und ich schaue aufs Display, aber es ist nur eine weitere Mail von Scott, der uns die aktualisierte Dispo für Südafrika schickt. Die nächsten paar Tage werden wir in Kapstadt im Studio verbringen und mit unserem Team an neuen Songs arbeiten. Ich kann gerade so ein Seufzen unterdrücken. Eigentlich hatte ich mich auf Südafrika gefreut. Aber jetzt klingt mir noch der Satz im Ohr, den mein Vater mir zum Abschied mit auf den Weg gegeben hat.
Gib dich nicht mit der zweiten Reihe zufrieden, du kannst mehr.
Ich schließe meine Hand fester um das Handy. Es war so typisch, dass Dad mir unterschwellig wieder sagen musste, dass ich nicht genug liefere, mehr tun muss. Ein normaler Vater hätte vermutlich gesagt: „Schade, dass du schon losmusst. Gute Reise und hab eine gute Zeit in Südafrika.“
Aber nicht Ryan Hammond. Mein Dad sagt: Gib dich nicht mit der zweiten Reihe zufrieden, und meint damit: Sei in allen Formaten präsent, sorg dafür, dass die Leute dich sehen. Mein Dad sagt: Du kannst mehr, und ohne es auszusprechen schwingt darin der Vorwurf mit, dass Dan und Lizzy schließlich auch ganz vorn mitspielen. Meine älteste Schwester modelt schon seit ihrer Kindheit und hat im letzten Sommer einen Millionenvertrag bei einer großen Agentur unterschrieben. Jetzt präsentiert sie, so wie Mum früher, die Haute Couture auf den Laufstegen dieser Welt. Dan produziert Musicals und ist inzwischen sowohl in Europa als auch in Übersee gefragt.
Tja, und ich bin nur einer von vieren. Einer von Five2Seven, zwar immerhin Mädchenschwarm, aber im Ranking nicht ganz so beliebt wie Liam.
Das Taxi hält an einer Ampel und ich starre in den regenverhangenen Verkehr. Weit ist es nicht mehr bis zum Flughafen. Laut Sumas Nachricht im Gruppenchat ist er schon vor Ort, Liam und Andy sind noch unterwegs. Ich freue mich, die drei gleich wiederzusehen. Südafrika wird bestimmt cool, auch wenn wir nicht zum Urlaub da sind. Aber der Satz meines Vaters lässt mich nicht los und die damit verbundene Wahrheit stößt mir bitter auf.
Liam, Andy, Suma und ich sind zusammen Five2Seven, wir können uns gut leiden und geben nach außen die guten Freunde. Aber Kollegen sind wir nur auf dem Papier. In Wahrheit sind wir Konkurrenten. Unser Vertrag gilt erstmal für drei Jahre, wenn gut läuft, wird es Five2Seven länger geben. Wenn wir nicht genug Gewinn abwerfen, werden wir sehr schnell von der Bildfläche verschwinden. Die Boygroup ist unser Sprungbrett – wenn ich nur wüsste, wohin ich springen soll.
„Da wären wir, Sir.“ Der Taxifahrer hält am vereinbarten Treffpunkt, kommt um das Taxi herum und öffnet mir die Tür. Jayden, mein Bodyguard, steht schon bereit, um mich zu den anderen zu eskortieren.
Andy streckt mir die Faust zur Begrüßung entgegen. „Yo, was geht?“
„Capetown, here we come“, erwidere ich und hoffe, dass mein Lächeln so aussieht, wie eins, das man Freunden schenkt.
C-Dur, a-Moll, F-Dur.
Mit der linken Hand spiele ich die Akkorde, während meine rechte ein paar Töne dazu klimpert. Vor mir auf dem Notenablage lehnt der Zettel mit dem Hotellogo, auf den ich heute Morgen ein paar Liedzeilen gekritzelt habe.
They shout
They scream
Is it all fake?
Don’t listen, don’t listen
Hm, C-Dur passt nicht zu dem Text. Mehr als diese vier Zeilen habe ich zwar noch nicht zustande gebracht, aber C-Dur klingt definitiv zu unbeschwert. Aber egal, über welchen Tasten ich meine Hand auch fallen lasse, nach drei Takten bin ich doch wieder dort, wo ich angefangen habe. Verdammt, so wird kein Hit daraus. Aber es muss. Ich muss wenigstens einen Song zum neuen Album beisteuern, muss die Hauptrolle in einem Video spielen, um aus Liams Schatten zu treten. Um eines Tages erfolgreich abspringen zu können.
Die Tür zum Salon, in dem das Klavier steht, öffnet sich und Liam kommt herein. Ausgerechnet. Er sieht mich überrascht an, als er mich vor dem Klavier sieht.
„Oh, sorry, ich wusste nicht, dass du gerade komponierst. Lass dich nicht stören.“
Kopfschüttelnd stehe ich auf. „Kein Ding, bin gerade eh nicht im Flow. Muss wohl noch mal an den Text.“
Ehe ich meine Notizen eingesammelt habe, hat Liam schon danach gegriffen und überfliegt das Papier.
„Na ja, für drei Minuten reicht es noch nicht, aber der Anfang ist doch gar nicht schlecht“, sagt er.
„Findest du?“ Die Zeilen waren die ersten, die mir heute Früh einfielen. Vermutlich ein Überbleibsel aus meinem Traum, in dem mir mein Vater seine Abschiedsworte mit Megafon entgegenbrüllte.
Liam nickt. „Ja, da kann man etwas daraus machen. Fake-News ist doch voll ein Thema.“
Okay, daran hatte ich zwar nicht gedacht, aber vielleicht hat Liam recht. Ich nehme ihm den Zettel aus der Hand und stecke ihn in die Bauchtasche meines Hoodies.
„Danke. Ich bin dann mal texten“, sage ich und hebe kurz die Hand, während Liam sich bereits auf dem Klavierhocker niederlässt.
Ich ziehe mich auf den großzügigen Balkon meines Zimmers zurück,
mache es mir in einem der geflochtenen Korbstühle bequem und schaue auf den Atlantik, der nicht weit von der Poolanlage des Hotels seine Wellen auf die Küste spült. Das helle Türkisblau des Pools, der helle Holzsteg, der sich elegant darum windet, und dahinter das Blau des Ozeans und die weißen Segel aus dem naheliegenden Yachthafen. Eigentlich die perfekte Urlaubskulisse. Wenn da nicht die Stimme in meinem Kopf wäre, die verdächtig nach meinem Vater klingt, und die ganze Zeit ruft: „Streng dich an, Liam schreibt wahrscheinlich schon den nächsten Hit.“
Ich zwinge mich dazu, den Blick von der Traumkulisse abzuwenden und mich auf eine Notizen zu konzentrieren. Was hat Liam eben noch gesagt? Fake-News wären ein Thema? Ich lasse meine Gedanken wandern, kritzle eine Mindmap auf das Hotelpapier und setze schließlich ein paar der Begriffe in neuen Gruppen zusammen.
Listen up, the king came by
To paint Westminster royal blue
And Germany will raise the wall again
I’ve seen it on the socials
Come on, do you believe it’s true?
It’s fake-news, fake-news
Just existing to mess you up
It’s fake-news, fake-news
Use your mind
It’s not as easy as they make you believe
„Fake-News, fake-news“, singe ich leise vor mich hin. Ich stelle mir einen treibenden Rhythmus vor, einen harten Bass, der das Fake-News unterstützt. Das könnte eine rockige Nummer werden. Zwischen all unseren soften Liebesliedern vielleicht gar keine schlechte Abwechslung. Leider will mir nach dieser ersten Strophe und dem Refrain nichts mehr zu dem Thema einfallen. Die Worte aus meiner Mindmap wollen sich einfach nicht sinnvoll zusammenfügen.
Ich blättere eine Seite auf dem Block zurück, wo ich heute Morgen meine ersten Ideen aufgeschrieben habe.
Sie brüllen, sie schreien … Liam hat meine Worte ganz anders interpretiert. Aber woher sollte er auch wissen, was ich geträumt habe?
Die Bilder der Nacht tauchen wieder vor meinem inneren Auge auf, ziehen an mir vorbei und jagen mir eine Gänsehaut über den Rücken, die mich trotz der angenehmen Temperatur erschauern lässt. Ich drücke die Mine des Kugelschreibers wieder nach unten und fasse die Bilder in Worte.
Look at them, how they succeed
It could be you
If you only worked harder
If you only tried
If you only ...
Stop! Don’t listen, don’t listen!
Meine Hand fliegt nur so über das Papier, füllt Zeile um Zeile, bis der Bogen vollgeschrieben ist. Zwei Strophen, eine Bridge, Pre-Refrain, ein Refrain, inklusiver leichter Abwandlung für die abschließende Wiederholung. Den Kugelschreiber zwischen den Lippen lese ich noch einmal den Songtext. Jede Zeile stimmt. Mal sehen, ob Liam das Klavier schon wieder freigemacht hat, dann kann ich ein paar Akkorde probieren.
Als ich gerade aufstehe, trifft mich etwas Weiches am Kopf und fällt neben mir zu Boden. Ein bunter Anti-Stressball. Mit einem raschen Blick über die Brüstung des Balkons erkenne ich den Urheber dieser Attacke.
„Andy, was soll der Müll?“, rufe ich und schleudere den Ball zu meinem Bandkollegen, der das Ding lässig mit der Hand aus der Luft schnappt.
Andy zuckt mit den Schultern. „Ich dachte, ich muss dich mal aufwecken. Sah aus, als wärst du da auf deinem Balkon eingepennt.“
„Eingepennt? Ich hab‘ einen Songtext geschrieben, während du dich in Einballjonglage geübt hast.“
„Einball? Mit zweien kann ich es noch besser“, erwidert Andy und grinst anzüglich.
Ich wende mich ab. „Bäh, Kopfkino. Hör auf, ich will’s gar nicht so genau wissen.“
„Komm runter, wir haben den Pool ganz für uns.“ Er zeigt auf das Becken hinter sich.
Du kannst mehr. Sieh zu, dass du vorwärtskommst. Dads Stimme geistert noch immer durch meinen Kopf. Sollte ich besser hierbleiben und noch einen Song schreiben? Oder wenigstens an der Melodie von Don’t listen arbeiten?
„Los, komm schon“, ruft Andy von unten und holt schon wieder mit dem Ball aus.
Ich gehe vorsichtshalber in Deckung und bringe meine Lyrics in Sicherheit, bevor Andy mit dem Ball noch die Wasserflasche neben mir trifft und deren Inhalt sich auf meine Notizen ergießt.
„Okay, okay, bin gleich da.“
Ich gehe zurück in mein Zimmer, ziehe mich um und nur drei Minuten später springe ich mit Andy in den Pool, wo wir uns eine Wasserschlacht liefern und der Anti-Stressball seinem Namen alle Ehre macht.
Mein Haar ist immer noch feucht,
als wir eine Stunde später mit dem Produktionsteam im Studio sitzen und Songideen durchsprechen. Ich habe für meinen Song tatsächlich noch ein paar Melodiefolgen gefunden, bin mit der Musik aber nur halb so zufrieden wie mit dem Text. Harry, einer der Komponisten, der auch schon einige der Songs unseres ersten Albums geschrieben hat, präsentiert uns einen seiner neuen Songs und sofort kommt mir meine Musik noch einmal schlechter vor. Das, was er komponiert, klingt eingängig und bietet doch Überraschungen, er spielt nur Klavier und trotzdem kann ich schon erahnen, wie der fertig produzierte Song klingen wird.
„Cool, ich find’s super“, sagt Suma, als Harry die Händen von den Tasten nimmt. „Da habe ich gleich eine Idee zu einer passenden Choreo.“
Harry grinst und fährt sich durch sein silbergraues Haar. „Danke. Aber was habt ihr für Ideen mitgebracht?“ Er sieht erwartungsvoll in die Runde.
Jetzt ist meine Chance. Ich ziehe meine Notizen aus der Hosentasche und räuspere mich. „Ich habe ein paar Ideen zu einem etwas rockigeren Song.“
Harry macht mir den Platz am Klavier frei. „Lass hören.“
Nicht nur Liam, Andy und Suma, sondern auch das Produktionsteam, immerhin vier Leute, sehen mich gespannt an. Ich spüre ihre Blick in meinem Rücken und in meinem Magen beginnt es zu kribbeln. So wie früher, wenn ich meiner Klavierlehrerin vorspielen musste, in dem Wissen, dass sie meinem Vater hinterher Bericht erstatten würde.
Es ist Quatsch, denn weder meine alte Lehrerin noch Dad sind hier, trotzdem kann ich nicht verhindern, dass meine Finger zittern. Prompt verhaue ich den Auftakt. Zwar fange ich mich nach zwei Takten wieder und werde sicherer, aber der erste Eindruck ist daneben. Trotzdem nickt Harry schließlich anerkennend.
„Nicht schlecht. An der Musik lässt sich noch ein bisschen was drehen, aber die Lyrics gefallen mir.“
Ich schenke ihm ein dankbares Lächeln. Es tut gut, zu hören, dass ihm der Text gefällt. Harry wird auch die perfekten Akkorde dazu finden.
Dom, unser Produzent, schüttelt den Kopf. „Sorry, Noah, die Lyrics sind nicht schlecht. Aber nicht für Five2Seven.“
Nicht nur ich, auch Suma und Andy sehen Dom mit großen Augen an. „Was spricht dagegen? Stimmt doch, was Noah singt.“
„Das streite ich auch gar nicht ab. Aber ihr seid eine Boygroup. Ihr seid nicht für Gesellschaftskritik zuständig. Die Mädels sollen sich bei euch wohlfühlen, ihr sollt sie umschmeicheln.“ Dom sieht mich bedauernd an, allerdings nur kurz. Dann winkt er Liam zu sich. „Liam, was hast du uns mitgebracht?“
Keine Ahnung, ob Liam mich noch einmal ansieht, ehe er aufsteht und auf das Klavier zu geht. Ich lasse mich mit hängendem Kopf neben Andy auf das Sofa fallen. Dass er mir kumpelhaft auf die Schulter klopft und noch einmal „Sorry, ich fand’s mega“ murmelt, hilft leider gar nicht. So wird das nichts mit dem Karriere-Sprungbrett.
Und während Liam am Klavier irgendetwas von tollen Hüften und strahlenden Augen singt und fragt, wer jemandem die Erlaubnis gegeben hat, so wunderschön auszusehen, zerknülle ich den Songtext in meiner Hand zu einer Papierkugel.
Verdammt, Liam spielt so fucking gefühlsduselig, dass einem schlecht werden könnte. Ich schweige, als alle anderen ihre Begeisterung kundtun. Liams Song ist nicht schlecht. Aber er zeigt mir einmal mehr, dass mein Vater unrecht hat. Ich kann eben nicht mehr. Ich bin eine Niete am Klavier.
Ganz im Gegensatz zu …
Der Gedanke an jene feinen Töne im Lagerraum, an den Kuss der darauf folgte, überfällt mich aus heiterem Himmel. Das ist es! Kristina spielt perfekt Klavier, noch besser als Liam. Vielleicht hatte ich bislang einfach nicht die richtige Lehrerin.
Während Liam, Suma und Andy mit unserem Team schon über Arrangement-Ideen für Liams Song fachsimpeln, ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und suche den Chat mit Scott hervor.
Hi Scott, kannst du mir die Nummer von Kristina von Escape besorgen? Ist wichtig!
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