Kristina
„Cut!“ Die Stimme des Regisseurs hallt von der nassen Backsteinmauer wider.
Ich schüttle mich. Seit dem frühen Morgen sind wir hier an der alten Lagerhalle am Hafen und drehen unser nächstes Musikvideo, und mittlerweile kann ich mir nicht mehr erklären, wieso ich mich jemals für das Drehbuch habe begeistern können. Ein Dreh im Regen. Wer ist auf diese bescheuerte Idee gekommen?
Meine Klamotten kleben auf meiner Haut
und obwohl es ausnahmsweise einmal nicht besonders windig ist, ist mir inzwischen kalt. Doch obwohl wir die Szene schon zweimal gedreht haben, möchte Jürgen, der Regisseur, noch einen weiteren Take aufnehmen. Ich werfe einen Blick zu dem Zelt am Rand des betonierten Vorplatzes der Lagerhalle. Dort drin stehen ein Tisch mit heißen Getränken und vor allem Heizstrahler. Hoffentlich geht es schnell mit dem nächsten Take, sonst frieren meine Finger noch ab. Vermutlich sind sie nicht wesentlich kälter als meine Zehen, aber die brauche ich nicht zwingend zum Klavierspielen.
„Alle auf Position“, ruft Jürgen.
Die Hände in meinen Jackentaschen zu Fäusten ballend sehe ich in den grauverhangenen Himmel. Der Regen platscht mir in die Augen, auf die Nase und perlt aus meinem Haar kalt in meine Ohren.
Es kann nicht mehr lang dauern, denke ich, während das Playback erneut startet und unsere neue Single über den Platz hallt. Wir stehen mit gut anderthalb Metern Abstand im Halbkreis um Ben, der in einer Pfütze kniet und die geöffneten Hände auf Höhe seiner Brust in die kalte Luft hält.
„Should I’ve known? Should I’ve seen?”
Ich kann nicht sehen, ob er seine Lippen bewegt, und wegen des Regenwassers in meinen Ohren kann ich auch nicht mehr als das Playback hören. Aber die Verzweiflung, die er spielt, erkenne ich auch so. Seine Schultern beben und sein Kopf hängt so weit nach unten, dass sein Kinn bestimmt schon auf seiner Brust ruht.
Ich könnte mich auch neben ihn knien.
Es würde mich nicht einmal große Anstrengung kosten, die Verzweiflung zu spielen. Seit einer Woche lässt mich dieses nagende Gefühl in der Brust nicht los, dass mich von innen zusammenzieht und mir die Luft zum Atmen nimmt, wenn ich ihm zu viel Aufmerksamkeit schenke. Weshalb ich mich krampfhaft beschäftigt halte und mehr Zeit im Studio verbringe als sonst.
Johnny macht einen Schritt auf Ben zu und macht eine ausholende Bewegung mit dem Arm, als ob er eine Peitsche schwingen würde, aber seine Hand ist leer. Im Video soll später ein Schatten aus seiner Hand gleiten und Ben einhüllen. Einer nach dem anderen ahmen wir Johnnys Bewegung nach und kreisen Ben ein, bis wir ihn vollständig in unsere Mitte genommen haben.
„Cut“, ruft Jürgen wieder. „Das war Klasse!“
Wir entlassen Ben aus seiner Gefangenschaft und er richtet sich auf. Wie uns allen, tropft im das Wasser aus allen Poren.
„Schnell rein mit euch ins Warme“, sagt Alena, eine der Set-Runner, und legt uns Decken um die Schultern. So schnell wir mit unseren kalten und nassen Gliedern können, gehen wir in das Zelt rüber und drängen uns an die Heizstrahler.
Die Haut an meinen Händen spannt und zieht, während ich meine Finger ganz dicht an den Strahler halte und langsam wieder Gefühl in sie zurückkehrt – auch wenn das erst einmal wehtut. Dem Rest meines Körpers reicht der Heizstrahler allerdings nicht. Zu dicht liegt die nasse Kälte auf meinen Knochen, sodass ich unwillkürlich die Muskeln anspanne und verkrampfe. Trotzdem kann ich mich nicht von dem langen silbernen Pfosten mit der orange leuchtenden Röhre in der Mitte losreißen. Solang meine Finger warm sind, ist alles gut.
Jemand packt mich energisch bei der Schulter und ich wende mich um. Einer aus dem Filmteam, ich glaube, sein Name ist Timo, reicht mir ein Handtuch und deutet damit auf meinen Kopf.
„Komm, du musst aus den nassen Sachen raus. Gleich geht’s weiter.“
Widerwillig folge ich ihm in ein benachbartes Zelt, in dem ein Bereich für Joshie und mich als Garderobe abgetrennt ist. Meine beste Freundin hat ihre Decke schon hinter sich fallen lassen und schält sich umständlich aus ihrer nassen Hose.
„So ein Dreck“, schimpft sie. „Warum genau wollten wir noch mal Bens Deprisong als Video inszenieren? Hab ich dafür gestimmt?“
„Hast du“, murmle ich leise, weil sich bei ihren Worten schon wieder diese Beklemmung in meiner Brust breitmacht.
„Warn mich nächstes Mal, sollte ich nochmal so einem Vorschlag zustimmen wollen“, erwidert Joshie grummelnd und zieht sich ein trockenes gestreiftes Shirt über den Kopf.
„Okay.“ Langsam mache auch ich mich an meinem Hosenknopf zu schaffen und schiebe den nassen Stoff zentimeterweise meine Beine hinunter. Gänsehaut breitet sich auf meinen nackten Oberschenkeln aus. Ich sollte Joshie bitten, mich zukünftig ebenfalls vor solch dusseligen Ideen wie Regen-Drehs abzuhalten.
„Ist eigentlich alles okay?“
Beinahe stolpere ich über meine nassen Hosenbeine, als Joshies Frage mich unvermittelt trifft. „Ich bin klatschnass und es ist kalt. Was sollte nicht okay sein?“
Joshie rubbelt mit einem Handtuch über ihren Kopf und seufzt. „Hiervon“, sie beschreibt mit dem Kinn den Raum, „mal abgesehen. Du bist so schweigsam in letzter Zeit. Ist was passiert?“
Ich beiße mir auf die Lippen und rubble heftiger mit dem Handtuch über meine Haut als nötig wäre. Es ist eine Menge passiert in den letzten Wochen. Angefangen bei dem Kuss mit Noah – aber der hatte nichts zu bedeuten, rufe ich mir auch jetzt wieder in Erinnerung. Es war ein Abenteuer, nichts weiter, genauso plötzlich und unbedeutend wie die Umarmungen und Tänze mit den Mädels in Italien, deren Bilder Noah in seinen Storys geteilt hat. Längst nicht so tief wie das, was ich jetzt an Ostern zwischen Papa und seiner neuen Freundin gesehen habe.
In einem Anflug von Trotz wollte ich Doro hassen. Aber sie ist viel zu nett und ich konnte jede Sekunde sehen, wie glücklich sie meinen Vater macht. Gemeinerweise schmerzt diese Tatsache beinahe am meisten.
„Kris?“ Joshie sieht mich prüfend an.
„Papa hat eine Freundin.“
Joshies Augen weiten sich. „Was?“
„Seine Fitnesstrainerin“, füge ich langsam nickend hinzu.
„Krass. Das ist schon irgendwie ein bisschen Klischee, oder?“, fragt sie mit gequältem Grinsen.
„Ja, schon.“ Ich zucke mit den Schultern. Allerdings wüsste ich nicht, wo Papa sonst jemanden hätte kennenlernen sollen. Entweder ist er beim Sport oder auf der Arbeit. Mit Doro wird er hoffentlich auch über andere Dinge als über Geschäftszahlen und Firmenkontakte sprechen können. Und Doro will mich mit einbeziehen, wie sie mir zum Abschied an Ostern versichert hat.
„Ich will mich nicht zwischen dich und deinen Vater drängen. Vielleicht können wir demnächst mal zu dritt wegfahren, für ein langes Wochenende oder so?“
Sie hat aufrichtig gelächelt, wobei ihre Augen hinter ihrer Nickelbrille geleuchtet haben, und ich habe nur kurz genickt und gesagt, wie schön es gewesen sei, sie kennenzulernen. Ich konnte ihr nicht sagen, dass das, was zwischen Papa und mir steht, nicht ihre Schuld ist. Die Vorstellung, mit ihr und meinem Vater zusammen wegzufahren, habe ich sofort verbannt, auch wenn es nett gemeint ist – das pack ich nicht.
Plötzlich liegt Joshies Hand auf meinem Oberarm und sie sieht mich aus ihren dunklen Augen fest an. „Kris, du weißt, du kannst …“
„Joshie, Kristina, seid ihr soweit?“
Chantelle, die Visagistin, lugt um die Ecke und winkt uns hektisch zu sich. Ich weiß, dass Joshie nicht erwartet, dass ich irgendetwas erzähle, während wir geschminkt werden, und erleichtert, auf diese Weise einer Antwort entgehen zu können, eile ich auf Chantelle zu. Joshies leises resigniertes Seufzen entgeht mir allerdings nicht.
Der zweite Teil des Drehs findet in der Lagerhalle statt, in der unsere Instrumente auf dem rauen Betonboden zwischen Metallsäulen aufgebaut sind.
Es ist zwar trocken, doch nach einer halben Stunde, in der ich kaum mehr als die Finger über der Tastatur bewegt habe, bin ich trotzdem wieder durchgefroren. Ich versuche, in den Schuhspitzen mit den Zehen zu wackeln, bin mir aber nicht sicher, ob das, was da unten ist und sich eher wie zwei große Eisklumpen anfühlt, sich wirklich bewegt. Der heiße Tee, den wir zwischen zwei Takes trinken, dringt jedenfalls nicht bis dort vor. So gern ich, als wir endlich fertig sind, auch helfen würde, das Keyboard wieder abzubauen und zu verstauen, kann ich es nicht. Meine Finger sind so steif und kalt, dass ich Angst hätte, das Instrument versehentlich fallen zu lassen. Zum Glück erwartet auch niemand meine Hilfe beim Abbau. Hektisch blase ich warmen Atem in meine gewölbten Hände und schließe die Augen. Nach Hause und in heißem Badewasser versinken, das ist alles, was ich an diesem Tag noch will.
„Kristina!“
Müde öffne ich die Augen und unterdrücke ein Seufzen, als ich Piets Stimme dicht neben mir höre. Unser Manager klingt nicht so, als könnte ich meinen Wunsch nach Ruhe und Badewanne sofort umsetzen. Trotzdem bemühe ich mich um ein freundliches Lächeln.
„Was gibt’s?“
Piet hebt sein Smartphone, als ob das allein schon etwas erklären würde. „Ich habe eben eine Nachricht von Scott McGuire erhalten, dem Manager von Five2Seven.“
Ach du … Die Kälte, die meinen Körper bis eben noch gefangen hielt, wird verdrängt von einem plötzlichen Hitzeschub, der besonders in meine Wangen und Ohren schießt. Was will Noahs Manager von Piet? Ist doch herausgekommen, was vor ein paar Wochen abseits der Aftershow-Party passiert ist? Aber wie, wenn …
„Noah Hammon möchte, dass du dich bei ihm meldest.“ Piet schaut auf das Display seines Smartphones und wirkt nicht so, als ob das, was er gerade gesagt hat, eine große Sache wäre. Als ob dauernd irgendwelche internationalen Stars bei ihm anklopfen würden.
Mein Herz schlägt wie wild in meiner Brust. Was will Noah von mir? Es kann nicht mit unserem Kuss zu tun haben, oder? Sonst hätte er doch längst schon Kontakt gesucht. Aber was kann er sonst wollen?
Piet tippt auf dem Smartphone herum und sieht zu mir auf. „Ich habe dir eben seine Nummer geschickt. Ich kann mich darauf verlassen, dass du diskret damit umgehst?“
„Natürlich“, erwidere ich mit der festesten Stimme, die ich aufbringen kann. Ich habe nicht das leistete Interesse, Noahs Nummer in die Öffentlichkeit zu tragen. Zu wissen, dass sie sich auf meinem Handy befindet, jagt mir abwechselnd heiße und kalte Schauer über den Rücken. Er will, dass ich mich melde.
Ich kann mich bei ihm melden.
Bei Noah, dessen Bilder ich seit Wochen viel zu lang anstarre.
Nur weil ich die Finger fest zwischen meine Oberschenkel klemme, gelingt es mir, nicht direkt während der Heimfahrt, Piets Nachricht mit Noahs Nummer aufzurufen. Doch als ich zu Hause bin und das Wasser plätschernd die Badewanne füllt, kann ich mich nicht mehr zurückhalten. In ausreichendem Sicherheitsabstand zum Wasser halte ich mit zitternden Händen das Handy vor dem Bauch und lese die britische Nummer, die sich nach wenigen Sekunden in mein Hirn gebrannt hat.
Trotzdem zögere ich, eine Nachricht zu schreiben.
Wieso jetzt? Wochen nach unserem Kuss im Lagerraum. Nach dem Kuss, der ihm nicht so viel bedeutet haben kann, so wie er mit den Mädels in seinen Storys posiert hat. Vielleicht will er nur sichergehen, dass ich wirklich die Klappe halte? Als ob mir jemand glauben würde, wenn ich irgendjemandem davon erzählen würde. Andererseits haben die Medien schon ganz anderen Blödsinn über unsere Band geschrieben. Das Gerücht über einer Beziehung von Ben und Liz hält sich noch immer hartnäckig. Aber glaubt Noah ernsthaft, ich hätte ein Interesse daran, eine ähnliche Geschichte über mich durchs Netz geistern zu sehen?
Entschieden schalte ich das Display aus und lege das Smartphone ins Regal zwischen die Handtücher. Nein, es ist besser, alles so zu belassen, wie es ist.
Ich streife mir die Kleider vom Leib, gebe noch ein paar Tropfen Badeöl ins Wasser und lege ein Handtuch für später bereit. Der Stoff streift meine Hüfte. Dort, wo Noahs Finger lagen, als wir uns küssten. Wie von selbst tasten meine Finger wieder nach dem Handy. Und während mein Verstand schreit, dass das hier keine gute Idee ist, öffne ich eine neue Nachricht und fange an zu tippen.
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