Kapitel 10 - Eine simple Frage

Noah

„Yes!“ Ich balle die Hand zur Faust und ziehe sie in triumphierender Geste ruckartig nach unten, während meine Mundwinkel gen Ohren wandern und ich den Blick nicht vom Display meines Smartphones abwenden kann.

In der Halle ist es halbdunkel, noch drei Minuten bis zum Konzert. Unsere Crew checkt ein letztes Mal, ob wir richtig verkabelt sind, doch ich blende die Geräusche und das Gewusel um mich herum aus. 

Ich sollte mich auf die nächsten anderthalb Stunden konzentrieren,

 

oder wenigstens schon einmal auf den ersten Song. Aber ich konnte der Versuchung nicht verstehen, noch einmal aufs Handy zu schauen – wie so ungefähr in jeder freien (und nicht ganz so freien) Minute in den letzten Tagen. Diesmal hat es sich gelohnt.

 

Hi Noah, Kristina hier. Du hast nach meiner Nummer gefragt. Well, hier ist sie.

 

Strahlend weiß leuchtet mir Kristinas Nachricht entgegen. Und obwohl der Text nüchtern ist und tatsächlich nicht mehr verrät als die Urheberin der unbekannten Nummer, ist da so viel mehr. Plötzlich habe ich den Geschmack von Kamille auf der Zunge, spüre weiche Haarspitzen zwischen meinen Fingern und ein Ziehen in meiner Brust, das rasch tiefer rutscht. Fuck, das muss ich jetzt ganz schnell in den Griff bekommen! Nicht an den Kuss denken. Es geht nur um ihre Klavierkünste. Ärgerlich nur, dass auch die Art, wie Kristina an dem Abend vor ein paar Wochen Klavier gespielt hat, meinen Körper noch immer in Wallung bringt.

 

„Noch zwei Minuten“, ruft Scott.

 

Hektisch wippe ich auf und ab, in der Hoffnung, das Blut möge großzügig in meine Waden fließen.

 

Suma sieht mich mit überraschtem Gesicht an. „Alles klar? Du bist doch nicht etwa nervös?“

 

„Nö, alles gut“, erwidere ich hastig und lege das Handy neben dem Bühnenaufgang auf eine der Transportboxen, wenn auch widerwillig. Aber um Kristina zurückzuschreiben, bleibt keine Zeit.

 

In diesem Moment geht das Licht in der Halle aus und ein ohrenbetäubendes Kreischen und Jubeln setzt ein, das das Intro zum ersten Song noch übertönt. Liam, der auf der zweiten Treppenstufe steht, nimmt von einem Crewmitglied sein Mikro entgegen, und sieht sich zu uns um. Ich nicke, genauso wie Andy und Suma, empfange ebenfalls ein Mikro und stürme, begleitet vom anhaltenden Jubel der Fans, die Bühne.

 

„Was ist denn mit dir los, Bro? Du grinst, als ob du einen durchgezogen hättest.“

 

Andy haut mir auf den Rücken und sieht mich dann durchdringend an, als ob er nach einem Hinweis auf seine Vermutung suchen würde. Zugegeben, es wäre nicht das erste Mal, dass Andy und ich der guten Laune etwas nachgeholfen hätten, aber heute geht es ganz ohne. Außerdem waren Andy und ich die letzten drei Stunden zusammen. Er weiß also, dass ich nichts genommen habe.

 

Ich bin allerdings selbst überrascht, dass mich die Nachricht von Kristina noch immer grinsen lässt. Vielleicht ist es auch das, was dieser kurze Text mit mir gemacht hat. Ich habe getanzt wie noch nie, keinen einzigen Fehler bei den Choreos gemacht, und die Fans zu einem Singwettstreit animiert. Seit langem hatte ich wieder richtig Spaß während eines Konzerts.

 

„Sag schon“, fordert Andy.

 

Ich grinse ihn an und umschließe das Handy in meiner Hosentasche. „Ich freu mich einfach über das geile Konzert.“

 

„Als ob.“ Andy schnaubt und wendet sich kopfschüttelnd ab.

 

Okay, dann ist er halt beleidigt, aber ich werde ihm trotzdem nichts verraten. Es reicht, wenn die anderen etwas erfahren, wenn alles in trockenen Tüchern ist. Darum sollte ich mich jetzt schnellstmöglich kümmern. Kristina muss schon viel zu lang auf meine Antwort warten. Doch noch bevor ich mein Handy hervorziehen und mich damit in eine ruhige Ecke verziehen kann, kommt auch Liam auf mich zu und legt seinen Arm um meine Schulter.

 

„Hey, Noah, das war richtig cool. Du hast es ja doch drauf!“

 

Skeptisch hebe ich eine Augenbraue, kann mir ein leicht überhebliches Grinsen aber trotzdem nicht verkneifen. „Hast du daran gezweifelt?“

 

„Ehrlich gesagt, manchmal schon. Aber das eben war einfach nur … wow! Hast du gesehen, wie die Mädels in den ersten Reihen ausgerastet sind, als du im Graben getanzt hast?“ Liam schüttelt lachend seine dunklen Locken.

 

„Klar.“ Kurz hatte ich Sorge, dass die eine oder andere vor dem Absperrgitter kollabieren würde, so sehr haben sich die Mädels daran gedrückt und ihre Hände nach mir ausgestreckt. „Komm beim nächsten Mal auch mit runter.“

 

Liams Augen machen den Spots in der Halle Konkurrenz. „Okay. Gute Idee. Machen wir morgen.“ Er hält mir eine Hand zum High-Five entgegen. Ich schlage ein. Da tritt Andy wieder zu uns und sieht uns verschwörerisch grinsend an.

 

„Wie sieht’s aus? Kleine Tour durch das nächtliche Paris?“

 

Auf Liams Gesicht spiegelt sich überdeutlich der Kampf, den sein Gewissen bei dieser Frage ausficht. Einerseits will er seinen guten Ruf als Musterknabe unserer Band nicht aufs Spiel setzen, aber andererseits hat er offensichtlich richtig Bock auf Party. Seine Stirn kräuselt sich und in seinen Mundwinkeln zuckt es, bis sich seine Züge endlich entspannen und er nickt.

 

„Jo, bin dabei.“

 

Andy scheint für einen Augenblick überrascht, dann schlägt er Liam lachend auf den Rücken, so wie mir eben. „Nice. Und was ist mit dir?“

 

Ich hebe abwehrend die Hände und schüttle den Kopf. „Sorry, heute nicht.“

 

„Du willst dir ernsthaft das Pariser Nachtleben entgehen lassen? Was ist denn mit dir kaputt?“

 

„Hab halt keine Lust“, murmle ich und weiß, was für eine lahme Ausrede das ist, und dass Andy sie mir nicht abkauft. Zu meinem Glück kann er offenbar den Ausflug kaum erwarten und bohrt daher nicht weiter nach.

 

Noch während ich im Aufzug des Hotels auf dem Weg in mein Zimmer bin, lese ich wieder und wieder Kristinas Nachricht.

 

Hoffentlich ist sie noch wach.

 

Spielt sie mit ihrer Band vielleicht heute auch ein Konzert? Ich öffne Instagram und suche auf dem Account von Escape nach Hinweisen auf einen Gig. Doch das letzte Foto ist schon ein paar Tage alt und zeigt die Band inmitten von bunten Tüten mit Ostereiern und Schokohasen. Auch in den Storys ist nichts, was auf ein Konzert hindeutet. Aber sie kann natürlich was anderes zu tun haben. Oder sie schläft schon. Wobei, es ist erst kurz vor elf.

 

Mein Herz schlägt schneller als es sollte und meine linke Hand bebt, als ich die Schlüsselkarte vor meine Zimmertür halte, die sich mit leisem Klicken öffnet. Ich lasse mich auf das Kingsize-Bett fallen und atme tief durch. Endlich. Jetzt kann ich Kristina schreiben.

 

Doch die Hand, in der ich mein Smartphone halte, zittert, und ganz plötzlich fehlen mir die Worte. Dabei sollte es denkbar einfach sein. Ich möchte, dass Kristina mir Klavierunterricht gibt. Aber so kann ich meine Antwort nicht beginnen.

 

Hi Kristina, tippe ich.

 

Ein Anfang – und jetzt?

 

Ich kaue auf meiner Unterlippe und bohre meine Zehen in die weißen Laken. Vielleicht hätte ich doch lieber mit den Jungs mitgehen sollen, was sie gerade wohl machen? Aber nein. Ich will hier sein, von Kristina hören, am liebsten mit ihr reden, über … egal worüber. Von mir aus kann sie mir ihre Einkaufsliste vorlesen, oder noch besser vorspielen …

 

Hi Kristina, schön, von dir zu hören. Wie geht’s?

 

Ich schicke die Nachricht ab, ehe ich es mir anders überlegen kann, bereue meine Wortwahl aber noch im gleichen Moment. Wenn sie das liest, muss sie mich für komplett durchgeknallt halten. Sollte ich die Nachricht besser wieder löschen? Für ein paar Sekunden lasse ich meinen Daumen über dem Papierkorb-Symbol schweben, entscheide mich dann aber doch dagegen. Mir fällt sowieso kein besserer Text ein.

Frustriert stehe ich auf, gehe zur Minibar rüber und ziehe eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Kein IPA, aber immerhin schön kalt.

 

Gerade habe ich die Flasche an die Lippen gesetzt und einen großen Schluck meine Kehle herunterrinnen lassen, da leuchtet das Handy auf dem Bett auf. Mein Herz macht einen Satz, ich setze die Flasche etwas zu hastig ab und ein Schwall Bier ergießt sich über mein Hemd. Egal. Ich stürze zurück zum Bett, greife nach dem Smartphone – und lasse es eine Sekunde später enttäuscht sinken.

 

Du verpasst echt was, Bro.

 

Andy hat mir ein Bild von sich, Liam und Suma geschickt. Sie sind offenbar in irgendeiner Bar und haben Spaß. Schön für sie. Es ist mir nur leider herzlich egal. Ich trinke einen weiteren Schluck und wieder blinkt das Handy auf.

 

„Andy, du Penner, lass mich doch in Ruhe“, murmle ich augenrollend.

 

Aber diesmal ist es kein Bild. Und die Nachricht ist auch nicht von Andy.

 

Hi. Ganz gut. Und dir?

 

Ich schlucke und der Geschmack des Bieres mischt sich mit irgendetwas anderem Bitterem und legt sich pelzig auf meine Zunge. Kristina schreibt, als wäre da im Lagerraum nichts gewesen. Vielleicht hat es ihr nichts bedeutet? Küsse passieren halt hin und wieder. Das habe ich auch gedacht. Aber verdammt, dieser Kuss war anders. Ich weiß nicht, warum. Aber ich will es wissen, auch wenn es tausend gute Gründe gibt, es besser nicht herauszufinden. Die gleichen tausend Gründe, die dagegensprechen, dass ich überhaupt hier sitze und mit Kristina schreibe. Mein Blut sammelt sich schon wieder an Stellen, wo es nicht sein sollte – nicht in der Masse. Immerhin sieht mich hier niemand. Deshalb lasse ich es zu und tippe meine Antwort.

 

Alles super. Ich hoffe, es war okay, dass ich um deine Nummer gebeten habe.

 

Noch so ein Schwachsinnstext.

 

Weder ist alles super, noch ergibt der zweite Satz irgendeinen Sinn.

 

Alles gut. Aber wieso jetzt? Was gibt’s?

 

Ich starre auf ihre erste Frage. Sie klingt, als ob sie eher mit einer Nachricht von mir gerechnet hätte. Ein versteckter Vorwurf? Wieso jetzt?

 

Weil ich den Abend im Lagerraum nicht vergessen kann. Weil ich deine Lippen immer noch auf meinen schmecke. Weil ich noch nie so viel gefühlt habe wie während unseres Kusses. Weil ich schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden einen Ständer habe, nur weil ich an dich denke.

 

Kannst du dir vorstellen, mir Klavierunterricht zu geben?

 

Kurz und schmerzlos. Kein Wort von dem, was mir eigentlich durch den Kopf geht. Ist auch besser, wenn ich das für mich behalte. Es ist doch nur Wunschdenken, dass aus diesem Kuss mehr werden könnte. Ich schließe die Augen und zwinge mich, an das Konzert heute Abend zu denken, um die Bilder von Kristina loszuwerden. Doch schon nehme ich durch die geschlossenen Lider das Blinken des Handys wahr und öffne die Augen wieder.

 

Was? Wieso ich?

 

Du spielst besonders. Das würde ich gern lernen, schreibe ich sofort.

 

Offenbar hat Kristina nur auf meine Antwort gewartet, denn ihre nächste Nachricht folgt postwendend.

 

Danke. Aber wie stellst du dir das vor? Wir haben doch beide volle Tourpläne.

 

Ich kneife die Lippen zusammen, in dem Versuch durch den Schmerz das plötzliche Stechen in meiner Brust zu betäuben. Ist das Kristinas Art abzulehnen? Leider kann ich ihr kaum widersprechen, der Tourplan und das ganze Drumherum sind wirklich gut gefüllt. Aber Trotz regt sich in mir. Ich will noch nicht aufgeben.

 

Ich habe Donnerstag einen Off-Day. Könnte nach Deutschland kommen.

 

Ich tippe auf Senden, ehe ich mir zu viel Gedanken darüber machen könnte. Noch habe ich mit Scott nicht über meine genauen Pläne gesprochen, aber wenn Kristina zusagt, bekomme ich das schon gedeichselt.

 

Du willst für ein bisschen Klavierunterricht durch halb Europa jetten? Das ist doch verrückt!

 

Ich kann mich nicht gegen das Grinsen wehren, das an meinen Mundwinkeln zupft. Kristinas Antwort klingt nicht nach Ablehnung, eher nach Fassungslosigkeit. Okay, damit kann ich umgehen. Ich bin schon für weit lächerlichere Dinge durch die Welt geflogen.

 

Vielleicht, aber ich würde es tun. Bist du dabei?

 

Mit angehaltenem Atem schaue ich auf das Display und warte. Fünf Sekunden. Zehn Sekunden. Zwanzig Sekunden. Mein Hals wird trocken und mein Bauch bläht sich auf. Nach siebenundzwanzig Sekunden schnappe ich japsend nach Luft. Kristina hat noch nicht geantwortet. Verdammt, wo ist sie hin? Sie kann mich doch jetzt nicht mit meiner Frage hängenlassen!

 

Ich lege das Handy aufs Kopfkissen, lasse meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Drüben auf dem Schrank mit der Minibar steht die angebrochene Bierflasche. Ich gehe darauf zu, doch als ich die Hand schon an der Flasche habe, überlege ich es mir anders. Ich bekomme jetzt nichts runter. Stattdessen vergrabe ich die Hände in den Hosentaschen, stelle mich an das bodentiefe Fenster und schaue auf die erleuchtete Stadt, suche nach dem Eiffelturm. Sieht man den nicht angeblich von jedem Hotelfenster aus? Nein, von hier aus nicht. Ist wohl irgend so ein Filmklischee.

 

Ich schaue rüber zum Bett, aber das Handy zeigt keine neue Nachricht an. Es war eine bescheuerte Idee, Kristina zu fragen. Es gibt tausend andere Menschen, die gut Klavier spielen und mir Unterricht geben könnten. Ich hätte auch Harry fragen können. Wieso habe ich das nicht gemacht? Wäre doch viel einfacher.

 

Nein, wäre es nicht. Er denkt zu sehr an Five2Seven. Sicher könnte er mir einiges beibringen, aber vermutlich würde er mich schon direkt dahin schulen, dass ich perfekte Lieder für die Band komponiere.

 

„Willst du doch auch“, murmle ich, so wie eine zynische Stimme in meinem Kopf.

Ja, aber nicht für immer …

 

Mein Smartphone blinkt auf, ich springe über das Sofa zum Bett und entsperre mit fliegenden Fingern das Display.

 

Okay. Donnerstag geht.

 

Ungläubig lese ich die drei Worte. Dafür hat sie jetzt so ewig gebraucht? Egal. Sie hat zugesagt. Es rauscht in meinen Ohren, mein Herz schlägt wie verrückt, während ich mich plötzlich unendlich leicht fühle.

Kristina wird mir Klavierunterricht geben.

Ich werde sie wiedersehen.

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