Kapitel 11 - Was du fühlst

Kristina

In meiner Seite sticht es und mein Hals brennt wie Hölle. Trotzdem ziehe ich das Tempo auf den letzten Metern noch einmal an. Vorbei an der Bushaltestelle, links um die Ecke und schon kommt unser Haus in Sicht. Das Blut rauscht in meinen Ohren, mir ist schlecht und die Hände auf die Knie stützend beuge ich mich vor und ringe nach Luft. Das war neuer Rekord. Genau messen kann ich es nicht, weil ich meine Laufuhr im Bad habe liegen lassen, aber ein kurzer Blick auf mein Handy verrät mir, dass erst knappe vierzig Minuten vergangen sind, seit ich zu meiner 10-Kilometer-Runde aufgebrochen bin. Also bleiben immer noch drei Stunden bis zu meiner Verabredung mit Noah. Großartig!

Ich wünschte, ich hätte länger schlafen können.

 

Wie soll ich jetzt die Zeit bis zum Klavierunterricht totschlagen? Duschen und Frühstücken werden mich nicht ewig beschäftigen. Vielleicht könnte ich …

Mein Handy zeigt vibrierend den Eingang einer neuen Nachricht an.

 

Bin im Flieger. Bis gleich.

 

Dass mein Herz schneller schlägt, hat nun definitiv nichts mehr mit dem Seitenstechen zu tun. Noah ist unterwegs. Holy …

 

„Reg dich ab, es geht nur um Klavierunterricht“, ermahne ich mich selbst und steige die Stufen zur Haustür hoch.

 

Eine Viertelstunde später gieße ich mir eine Thermoskanne Tee auf und blättere dann durch die Notensammlung neben dem Flügel. Ein kläglicher Ablenkungsversuch, schließlich habe ich gestern längst das Material herausgesucht, das ich heute brauchen werde. Wahrscheinlich werden Noah und ich nicht einmal die Hälfte davon spielen können. Es ist also völliger Quatsch, dass ich …

 

Autsch! Ruckartig ziehe ich meine Hand zurück, aber es ist zu spät. Eine der Seiten hat mir bereits in den Finger geschnitten. Ausgerechnet das Klavierkonzert von Debussy … Mit zusammengekniffenen Lippen sauge ich am rechten Zeigefinger und hoffe, dass die Blutung rasch nachlässt. Mit Pflaster zu spielen, ist möglich, aber unbequem. Außerdem habe ich keinen Bock auf Fragen von Noah …

 

Ach, als ob dem das auffallen würde, denke ich spöttisch und nehme den Finger wieder aus dem Mund. Nur ein dünner, hellroter schimmernder Streifen ist zu sehen, trotzdem hole ich aus dem Erste-Hilfe-Kasten ein Pflaster und stecke es für den Notfall ein.

Dann schnappe ich mir die Thermoskanne und mache mich auf den Weg ins Studio. Dort kann ich mich wenigstens ablenken, ohne unnötige Unglücke zu provozieren.

 

Ich schalte nur das notwendigste Licht an und lasse meine Hände blind auf die Tastatur des E-Pianos fallen.

 

Tonleitern folgen eine Sonate von Chopin, ein Rondo von Mozart und schließlich eine Improvisation über Freddys neuesten Song, den er uns gestern vorgespielt hat

 

„Kristina? Was machst du denn so früh hier?“

 

Ich fahre herum und sehe in Martins überraschtes Gesicht. Er hat mir gestern den Zweitschlüssel fürs Studio überlassen und ich hätte nicht damit gerechnet, dass er heute überhaupt hier auftaucht. Noch mehr, ich habe darauf gehofft …

 

„Hi, ich … wollte noch was ausprobieren. Und du? Wolltest du nicht nach Berlin fahren?“

 

Martin lacht auf. „Ja. Ich habe nur gestern meinen Laptop hier liegenlassen.“ Er hebt leicht den Arm, unter den er sein Notebook geklemmt hat. „Wollte im Zug noch was arbeiten. Muss mich ablenken vordem Treffen mit dem Label.“

 

„Oh. Na dann, viel Erfolg.“

 

„Danke. Dir auch.“ Martin deutet ein Winken an, dreht sich um, und schon bin ich wieder allein im Studio.

 

Erneut lasse ich die Hände auf die Tasten fallen, aber meine Konzentration von eben ist dahin. Ob Noah wirklich nur Klavierunterricht haben will? Oder war das nur ein Vorwand? Es flattert in der Magengegend, sobald ich mir vorstelle, Noah und ich könnten gleich dort weitermachen, wo wir vor ein paar Wochen aufgehört haben. Wenn ich meine Hände in seinem Haar vergraben, über die blonden Barthaare an seinen Wangen streichen dürfte …

 

Ich stehe so schnell auf, dass der Klavierhocker mit lautem Krachen auf dem Studioboden aufschlägt. Diese Gedanken sollte ich mir aus dem Kopf schlagen. Noah hat seine Band, ich habe meine. Er ist ein Weltstar, zumindest auf dem besten Weg dahin, und ich … Was auch immer das mit dem Kuss neulich war, es war eine einmalige Sache.

 

„Eine einmalige Sache“, sage ich laut, um mir das Ganze noch einmal klarzumachen.

Mit einer Tasse Tee in der Hand setze ich mich auf den Boden, breite die Noten mit Fingerübungen und Variationen aus, die ich mitgebracht habe und spiele sie schließlich nacheinander durch, bis …

 

… mein Handy aufblinkt und eine neue Nachricht anzeigt.

 

Bin gleich da. Laut Navi noch 4 Minuten.

 

Hastig schließe ich das Notenheft vor mir, trinke den letzten Schluck des inzwischen kalten Tees und flitze noch einmal zum Klo. Als ich beim Händewaschen in den Spiegel schaue, fällt mir auf, dass mein Haar mir noch offen über den Rücken fällt. Sollte ich es noch rasch hochstecken? Kristina von Escape trägt ihre Haare niemals offen. Aber wer bin ich heute? Ich unterrichte Noah schließlich nicht als Bandmitglied. Aber wenn ich die Haare offen trage, erinnert das vielleicht zu sehr an den Abend im Lager.

 

„Ach, egal“, murmle ich, ziehe ein Zopfgummi aus der Hosentasche und binde mir rasch einen Pferdeschwanz, während ich zur Tür eile. Das sollte ein guter Kompromiss sein.

Ich öffne die Tür nach draußen genau in dem Moment, als ein dunkelblauer Kombi auf dem Parkplatz vor dem Studio hält. Ein Mann steigt auf der Fahrerseite aus und lässt seinen Blick rasch über den Platz schweifen, bleibt an mir hängen und nickt mir zu. Mein Herz rutscht mir in die Hose. Aber nicht etwa, weil der Typ mit seinem von oben bis unten durchtrainierten Körper aussieht, als könnte er mich in Sekundenschnelle auf Briefmarkengröße zusammenstauchen, sondern weil er nicht Noah ist.

 

Der Mann geht um das Auto herum, öffnet die hintere rechte Tür und Noah steigt aus, wobei der Muskeltyp eng an seiner Seite bleibt. Bittere Enttäuschung steigt in mir auf, als mir klar wird, wer das sein muss.

 

Noah hat seinen Bodyguard mitgebracht? Ernsthaft?

 

Nur mit Mühe kann ich mein Lächeln aufrechthalten, als die beiden auf mich zukommen. Noah grinst etwas schief, was ihn leider nicht nur cool, sondern auch unverschämt gut aussehen lässt.

 

Reiß dich zusammen, ermahne ich mich. Dann stehen die beiden vor mir.

 

„Hi!“

 

„Hi.“ Ja, und jetzt? Umarmen? Oder lieber nicht? Noah macht keine Anstalten in diese Richtung, wirft nur einen raschen Seitenblick auf seinen Bodyguard. Ich strecke ihm meine Hand entgegen. „Hi, ich bin Kristina.“

 

„Jayden, hi“, sagt er, drückt meine Hand kräftig, aber nicht zu fest. Dabei behält er die ganze Zeit die Umgebung im Auge. Erwartet er einen Menschenauflauf oder Scharfschützen? Ich trete zur Seite und öffne die Tür ein Stück weiter.

 

„Kommt rein.“

 

Mein Eindruck, ich hätte nicht Noah, sondern den britischen Kronprinzen vor mir, verstärkt sich, als Jayden, sobald er das Studio betreten hat, in Windeseile durch die Räume huscht und sie auf irgendwas überprüft. Attentäter? Sprengstoff? Kameras?

 

Ich bleibe stumm neben Noah im Flur stehen, balle meine Hände zu Fäusten und versuche, die aufsteigende Beklemmung wegzuatmen. Noah anzusehen, wage ich nicht.

 

Es war eine bescheuerte Idee, diesem Klavierunterricht zuzustimmen.

 

Wie hatte ich so naiv sein können, Noah würde allein hier aufkreuzen? Ich muss irgendwie die nächsten Stunden überstehen, und dann hat sich das hoffentlich erledigt.

 

Jayden kommt zurück in den Flur und nickt. „Okay.“ Er schiebt Noah in den Aufnahmeraum und ich schleiche hinterher wie eine scheue Katze. Dabei ist das Studio in den letzten Wochen praktisch mein zweites Wohnzimmer geworden. Jetzt fühle ich mich plötzlich fehl am Platz. Immerhin bleibt Noah unschlüssig stehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

 

„Setz dich“, bringe ich hervor und deute auf den Klavierhocker.

 

Noah folgt mechanisch meiner Anweisung, während Jayden mit auf dem Rücken gekreuzten Armen an dem Fenster zum Regieraum lehnt und uns nicht an den Augen lässt. Ich schlucke. So werde ich nicht unterrichten können, und ich bezweifle, dass Noah irgendetwas zustande bringen wird, wenn wir die ganze Zeit unter Beobachtung stehen. Doch obwohl Martin mir für heute das Hausrecht im Studio übertragen hat, habe ich das Gefühl, Jayden schlecht rausschmeißen zu können.

 

Noah sieht sich um. „Du kannst uns ruhig allein lassen, wir kommen schon klar.“

 

„In Ordnung“, erwidert Jayden. „Ich bin draußen am Auto, wenn was ist, bin ich sofort da.“

 

Das bezweifelte ich keinen Augenblick, vermutlich kann sich jemand wie Jayden auch durch Wände beamen. Ich sehe ihm nach, wie er mit kontrollierten Schritten das Studio verlässt.  Wir haben auf unseren Konzerten auch Security, die aber hauptsächlich dafür zuständig ist, dass im Publikum alles geordnet abläuft und niemandem etwas passiert. Persönlichen Geleitschutz hat von uns noch niemand gebraucht und plötzlich kommt Noah mir noch fremder und unerreichbarer vor als zuvor, obwohl er nur zwei Meter von mir entfernt sitzt.

 

Doch jetzt lässt Noah die Schultern sinken und atmet hörbar erleichtert aus. „Endlich.“ Kopfschüttelnd sieht er zu mir und lächelt vorsichtig. „Sorry, das muss total merkwürdig für dich sein.“

 

„Schon ein bisschen. Hattest du Angst, ich könnte dir etwas tun?“

 

Wieder schüttelt Noah den Kopf, weicht meinem Blick aber aus. „Du nicht. Aber wir haben im letzten Jahr schon die verrücktesten Sachen erlebt.“

 

Er führt es nicht weiter aus und ich halte es für besser, nicht nachzufragen. Stattdessen atme ich einmal tief durch und löse meine Finger, die ich bis jetzt immer noch zu Fäusten geballt habe.

„Okay, sollen wir loslegen?“

 

Irgendetwas blitzt in seinen Augen auf, doch es ist zu schnell, als dass ich es deuten könnte. „Klar. Was soll ich tun?“

 

„Ich habe dich noch nie spielen hören. Spiel mir einfach mal einen eurer Songs vor“, bitte ich ihn, den Blick auf seine Hände gerichtet.

 

Noah wendet sich den Tasten zu, überlegt eine Sekunde und beginnt zu spielen. Ich erkenne das Lied sofort, habe es in den letzten Wochen oft genug gestreamt. Allerdings klingt es sonst anders, nicht nur, weil in der Studioversion natürlich mehr Instrumente als nur das Klavier involviert sind. Noah spielt die richtigen Töne im richtigen Rhythmus, aber das ist auch schon alles.

 

Release me, take my hand and guide me. So lautet der Text, den ich in Noahs Klavierspiel jedoch nicht wiedererkenne. Das, was er da spielt, klingt wie ein zwanzig Jahre altes Midi-File und weckt in mir Erinnerungen an den Musikunterricht in der Grundschule, wenn Klassenkameraden zu Weihnachten genötigt wurden, ihr Können vorzuführen. Spielt Noah absichtlich schlechter, um mich zu überzeugen, dass er den Unterricht nötig hat? Oder kann er es tatsächlich nicht besser? Dabei ist seine Technik gar nicht schlecht.

 

„Danke. Kannst du mal etwas improvisieren?“, bitte ich, als Noah den Five2Seven-Song beendet hat.

 

Noah zieht die Stirn in Falten. „Was meinst du? Ein Lied aus dem Kopf nachspielen?“

 

„Nein, kannst du spontan spielen, wie du dich gerade fühlst, zum Beispiel?“

 

Er sieht mich an, als ob ich ihn gebeten hätte, mit den Füßen Klavier zu spielen, aber er setzt die Finger erneut auf die Tasten, ohne jedoch zu spielen. Erst nach geschlagenen fünfzehn Sekunden erklingt ein D-Dur-Akkord, kurz danach G-Dur. Noahs rechte Hand liegt regungslos auf der Kante vor den Tasten.

 

Er hat keine Ahnung, was er tun soll, schießt es mir durch den Kopf, genau in dem Moment, als Noah kopfschüttelnd die Hände hebt und sich wieder zu mir umdreht.

 

„Sorry, ich fürchte, die Aufgabe ist mir zu hoch“, sagt er und sieht mich dabei so zerknirscht an, dass mein verdammtes Herz nur zu bereit ist, ihm zu verzeihen. Ich sehe in seine blauen Augen, in denen sich das Licht der Studiolampen bricht und feine dunkelblaue Linien in einem hellblauen See offenbart. Bei unserer letzten Begegnung war es zu dunkel, um dieses Detail zu erkennen.

 

„Kristina?“

 

Noahs Stimme reißt mich ins Hier und Jetzt zurück.

 

„Sorry, hast du etwas gesagt?“

 

„Kannst du mir vielleicht zeigen, was du meinst?“ Er rückt ein Stück auf dem Hocker zur Seite und klopft mit der rechten Hand sachte auf die freigewordene Stelle.

Augenblicklich schießt mein Puls wieder in ähnliche Höhen wie heute Morgen nach der Laufrunde. Ich ringe nach Luft, zögere. Doch Noahs Blick ist so offen und ohne sichtbaren Hintergedanken, dass ich langsam auf ihn zugehe und mich neben ihn auf den Hocker setze. An meinem rasenden Puls ändert das nichts, und Noahs Lächeln ist auch nicht gerade hilfreich.

 

„Also, wie geht das mit dem Improvisieren?“, fragt er und legt die Hände in den Schoß.

 

Gute Frage. Für einen Moment weiß ich nicht einmal mehr, wie ich nach Noten spielen soll. Spiel, wie du dich fühlst, klingt eine Stimme dumpf in meinem Hinterkopf.

Na, das kann was werden. Wenn ich dieses Gefühlschaos in mir in Töne verpacke …

 

„Sorry, brauchst du mehr Platz?“, reißt Noah mich ein weiteres Mal aus meinen Gedanken, während er Anstalten macht, aufzustehen.

 

„Nein, schon okay“, erwidere ich hastig und fange endlich an zu spielen. Meine linke Hand spielt laute, schnelle Akkorde, die mich an Die Hütte der Baba-Yaga von Mussorgski erinnern. Meine rechte Hand wirft dazwischen jedoch immer wieder eine zarte Melodie ein. Es ist nicht nur die Aufregung, dass Noah hier neben mir sitzt und so viel Unausgesprochenes zwischen uns steht. Ein Teil von mir fühlt sich wohl neben ihm und will nie wieder aufstehen.

 

„Wow“, sagt Noah, als ich die Hände schließlich von den Tasten nehme. „Ich habe gesehen, was du gemacht hast, aber ich verstehe nicht, wie das geht.“

 

Er ist mir so nah, unsere Oberschenkel, Schultern, Arme berühren sich, wenn wir uns nur ein Stück vorbeugen, sind wir wieder da, wo wir vor ein paar Wochen aufgehört haben. Es wäre so leicht.

 

Aber da ist immer noch Jayden, der jeden Moment reinkommen könnte.

 

„Du darfst nicht denken“, sage ich, „lass deine Hände einfach deinem Herzen folgen.“

 

Ein fast amüsiertes Lächeln zupft an Noahs Mundwinkeln und mir geht zu spät auf, dass meine Erklärung wohl mehr als doppeldeutig war. Rasch ziehe ich eines der Notenhefte heran.

 

„Wir können aber auch hiermit anfangen“, sage ich, schlage die erste Seite auf und deute auf die oberen fünf Notenzeilen. „Das ist ein altes Volkslied, und darunter findest du verschiedene Variationen dazu. Vielleicht hilft dir das, zu verstehen, wie ein Lied sich verändern kann.“

 

Das Lächeln auf Noahs Gesicht weicht einer konzentrierten Miene, sobald er sich den Noten zuwendet. Widerwillig stehe ich auf, und während Noah damit kämpft, das litauische Volkslied mal als Marsch, mal als Ballade erklingen zu lassen, frage ich mich, wie ich Noah, und mir, klarmachen soll, dass es so nicht weitergehen kann.

vorheriges Kapitel                                                                                      nächstes Kapitel

Kommentar schreiben

Kommentare: 0