NOah
Fuck. Fuck. Fuck. Kaum, dass ich hinter Jayden im Auto sitze und wieder auf dem Weg zum Flughafen bin, vergrabe ich mein Gesicht in den Händen und presse die Lippen aufeinander. Das war ja mal eine einzige Katastrophe.
Neben mir auf der Rückbank liegen die Noten, die Kristina mir mitgegeben hat, und die mich daran erinnern, was der eigentliche Sinn unseres Treffens war. Aber sonderlich erfolgreich war zumindest ich nicht. Kristina hat sich alle Mühe gegeben, glaube ich, nur vermutlich nicht mit meiner Unfähigkeit gerechnet.
Wie sollte ich auch anständig Klavier spielen, wenn sie neben mir steht und ich all meine Konzentration dafür brauche, sie nicht an mich zu ziehen und zu küssen?
Ich weiß nicht, ob oder was sie mir erklärt hat. Ich habe sie nur ansehen können und mich in ihrem Blick verloren.
Meine Finger knacken laut, als ich die Hände vor meiner Stirn zu Fäusten balle.
Ich sollte aufhören, mir vorzumachen, dass ich wirklich nur Klavierunterricht von Kristina wollte.
„Alles okay?“
Ich richte mich auf und sehe Jayden mir durch den Rückspiegel einen fragenden Blick zuwerfen.
Nichts ist okay. Wenn Scott nicht darauf bestanden hätte, dass Jayden mich begleitet, wäre das Treffen eben mit Sicherheit anders verlaufen. Aber mit Bodyguard vor der Tür und dem damit verbundenen Risiko, dass er jeden Moment hätte reinkommen können …
„Ach, als ob …“, ruft eine spöttische Stimme in meinem Kopf. Es ist unfair, Jayden für den verkorksten Klavierunterricht verantwortlich zu machen. Weder war es seine Entscheidung, mich zu begleiten, noch hat er vor dem Klavier gesessen und nichts auf die Reihe bekommen. Außerdem ist Jayden echt in Ordnung.
„Bin nur müde“, antworte ich endlich und muss dafür nicht einmal lügen. Langsam rächt es sich, dass ich heute schon um sechs aufgestanden bin. „Wie weit ist es noch bis zum Flughafen?“
„Noch ungefähr fünfundzwanzig Minuten“, sagt Jayden nach einem raschen Blick aufs Handy.
„Dann schlaf ich schon mal eine Runde.“
„Untersteh dich. Ich werde dich nicht aus dem Auto und ins Flugzeug tragen“, erwidert Jayden lachend.
„Schade“, sage ich und ziehe einen übertriebenen Schmollmund, sodass Jayden meine Ironie nicht entgehen kann. Der Warnung meines Bodyguards zum Trotz schließe ich die Augen und lehne den Kopf ans Fenster. Doch noch bevor ich wegdämmere, durchfährt mich ein Gedanke: Ich habe vergessen, mit Kristina über ihren Lohn zu sprechen.
Nach Tanztraining, ein paar Interviews und anderen Promoterminen, bleiben uns noch zwei Stunden, bis wir uns auf den Weg in die Arena machen müssen. Andy streckt die Schultern durch und lässt den Kopf kreisen, als wir auf den Flur des Hotels zurückkehren, auf dem unsere Zimmer liegen.
„Ich glaube, ich gönn mir noch eine Massage vorm Konzert“, sagt er.
Suma kichert albern. „Sag bloß, du bist erschöpft vom Training.“
„Wie kommst du denn darauf“, erwidert Andy knurrend. „Man kann sich doch mal etwas Gutes tun, oder nicht?“
„Hey, ich sag ja gar nichts. Vielleicht komme ich sogar mit in den Wellness-Bereich.“
„Cool, Mann.“ Andy klopft Suma so heftig auf den Rücken, dass dieser überrascht einen Schritt nach vorn stolpert. „Noah, bist du auch dabei?“
Ich habe die Hand schon fast nach der Türklinke ausgestreckt, halte nun jedoch inne. Nachdem ich gestern den ganzen Off-Day unterwegs war und auch bei der Tour durch Paris nicht dabei war, wäre es wohl an der Zeit, dass ich den Jungs mal wieder bei etwas anderem als der Arbeit Gesellschaft leisten würde. Eine Massage klingt außerdem überaus verlockend. Nach dem, was Simon uns heute Vormittag wieder abverlangt hat, wäre das eine Wohltat für meine angestrengten Muskeln.
Du kannst mehr als das.
Die Stimme meines Vaters schießt mir unwillkürlich durch den Kopf und erinnert mich schmerzlich daran, wieso ich vor gestern in Hamburg war. Kopfschüttelnd halte ich meine Schlüsselkarte an die Tür und schenke Andy und Suma einen bedauernden Blick.
„Sorry, Leute. Ich muss noch Klavier üben.“
Andy klappt der Mund auf, während Suma anerkennend nickt, und bevor Andy einen Kommentar machen kann, der mich doch noch von meinem Vorhaben abbringen könnte, öffne ich schnell die Zimmertür, um Kristinas Noten zu holen.
Eine halbe Stunde später wünschte ich jedoch, ich wäre auf Andys Idee eingegangen, als ich, das Notenheft aufgeschlagen, am Klavier im Salon sitze und zum gefühlt tausendsten Mal über einen Sechzehntel-Lauf stolpere. Bei Kristina hat es so einfach geklungen und ausgesehen.
"Ja, und wenn du nicht nur Augen für ihre Hüften und ihre Lippen gehabt hättest, wüsstest du jetzt auch, wie du es selbst spielen sollst", flüstert eine Stimme in meinem Kopf verächtlich.
Ich lege die Finger wieder auf die Tasten und starte einen neuen, langsameren Versuch. Es klappt besser, aber sobald ich das Tempo beim nächsten Mal anziehe, verknoten sich meine Finger erneut, und egal, wie oft ich es versuche, es wird nicht besser.
Frustriert ziehe ich mein Smartphone hervor, stelle es an den Rand des Klaviers und nehme ein kleines Video von meinen Fingerübungen auf, das ich in meiner Instagram-Story teile.
Übung macht den Meister – hoffe ich, schreibe ich dazu.
„Dann üb auch“, ermahne ich mich selbst, schließe die App und lege das Handy zur Seite.
Eine Viertelstunde mühe ich mich noch an den Läufen ab, ohne nennenswert weiterzukommen, weshalb ich mich einem langsameren Stück aus Kristinas Notensammlung zuwende. Das Tempo sagt mir eher zu, vor allem aber ist das Stück frei von Sechzehnteln.
„Krass, du übst ja tatsächlich!“ Andy steht in der Tür und sieht mich mit großen Augen an.
„Was machst du denn hier? Schon fertig mit Massage?“
Andy kommt auf mich zu. „Was heißt schon? Es ist gleich sechs.“
Überrascht schaue ich auf mein Handy und muss feststellen, dass Andy recht hat. Aber die Uhrzeit wird unwichtig, als ich die neue Nachricht entdecke, deren ersten beiden Zeilen mir angezeigt werden. Augenblicklich schlägt mein Herz schneller. Kristina hat mir geschrieben. Mit beinahe fliegendem Daumen entsperre ich das Display.
Schon fleißig, wie ich sehe 😉 Versuch es mal mit 1, 2, 3, 4, 1, 2, 3, 4, 5.
Einen Moment starre ich auf ihre Nachricht, dann lege ich meine rechte Hand auf die Tasten und spiele den Sechzehntellauf mit dem Fingersatz, den Kristina mir hier geschickt hat. Meine Mundwinkel wandern weit in Richtung meiner Ohren, als mir der Lauf ohne Stolpern gelingt. Es ist so einfach, wieso bin ich nicht selbst auf diesen Fingersatz gekommen?
„Äh, Noah, wir müssen gleich los“, dringt Andys Stimme wie aus Ferne an mein Ohr.
„Was? Ja, ja“, murmle ich, blättere im Notenheft zurück und spiele noch einmal das ganze Stück, inklusive des schnellen Laufs. Es klappt und ich kann nicht aufhören zu grinsen.
Andy packt mich an der Schulter. „Mann, Noah, jetzt komm endlich. Scott erlaubt dir den Klavierunterricht bestimmt nicht, damit du darüber die Konzerte vergisst.“
Augenblicklich höre ich auf zu spielen und springe auf. Die implizite Warnung, Scott könnte mir nicht mehr erlauben, weitere Klavierstunden zu nehmen, reißt mich schlagartig aus meiner Begeisterung und katapultiert mich ins Hier und Jetzt de Salons zurück. Doch während ich Andy nach draußen folge, wende ich den Blick nicht von meinem Handy ab, sondern antworte Kristina.
Danke für den Tipp. Hätte ich selbst drauf kommen müssen.
Ehe ich noch einen kurzen Abstecher ins Bad mache, schicke ich eine zweite Nachricht.
Danke auch für deine Zeit gestern. Mir ist eingefallen, dass wir noch nicht über deine Bezahlung gesprochen haben.
Als ich kurz darauf meine Zimmertür hinter mir schließe und zum Auto gehe, das Liam, Suma, Andy und mich zur Konzertarena bringen wird, hat Kristina bereits wieder geantwortet. Worüber die anderen während der Fahrt reden, geht völlig an mir vorbei.
Stimmt, haben wir nicht. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.
Überleg es dir. Verkauf dich nur nicht unter Wert, du machst das großartig.
Auch, wenn ich gestern nicht allzu viel von den Erklärungen mitbekommen habe. Aber das schreibe ich nicht.
Danke.
Ich halte die Luft an, als nach diesem kurzen Wort Ruhe in unserem Chat einkehrt. Nein, so darf das jetzt nicht aufhören. Kristina muss noch mehr schreiben.
Beinahe beschwörend behalte ich das Display im Auge, ohne dass sich etwas tut.
Ich überfliege die letzten Nachrichten zwischen uns. Okay, vermutlich lud meine letzte Nachricht nicht zu ausführlichen Antworten ein. Oder nimmt Kristina mich etwa beim Wort und sitzt nun irgendwo und überlegt, welchen Preis sie für den Unterricht verlangen soll? So meinte ich das nicht. Also, doch, natürlich soll sie darüber nachdenken, aber doch nicht jetzt!
Ehrlich. Die Hausaufgaben sind nicht leicht, aber ich will es wirklich lernen. Können wir demnächst eine zweite Unterrichtsstunde machen?
Erleichtert atme ich auf, als die Antwort nach wenigen Sekunden eintrudelt. Sobald ich die Nachricht lese, erhält meine Erleichterung allerdings einen kleinen Dämpfer.
Gerne. In den nächsten drei Wochen wird es allerdings schwierig. Wir haben noch ein paar Konzerte und sind sonst im Studio für das neue Album.
Nur mit Mühe kann ich mir einen Seufzer verkneifen, der die Aufmerksamkeit der anderen wohl unweigerlich auf mich lenken würde. Kristina hat leider recht, mein eigener Terminkalender sieht nicht viel anders aus. Wir stecken mitten in unserer Europatournee, und der nächste Off-Day liegt in weiter Ferne.
Wir auch ☹ Aber wir sind bald auch nochmal in Deutschland, schreibe ich, in der albernen Hoffnung, dass ich vor einem Konzert irgendwo in Süddeutschland vielleicht doch noch einen Abstecher nach Hamburg unternehmen könnte. Kurzentschlossen erteile ich ihr eine Freigabe auf meinen Kalender.
Erschrick nicht, ich weiß, das sieht wild aus. Aber vielleicht findest du die eine Lücke, in der du auch Zeit hast.
Diesmal schickt Kristina nur eine Reihe von Emojis mit aufgerissenen Augen und im gleichen Moment wird die Tür zum Van geöffnet und wildes Geschrei dringt wie ein Sturm ins Wageninnere.
Vor dem Bühneneingang haben sich bestimmt hundert Fans versammelt, die aufgeregt winken, auf und ab hüpfen und sich die Seele aus dem Leib schreien, als wir aus dem Auto aussteigen. Unser Security-Team bleibt dicht an unserer Seite, obwohl die Zäune, die uns von den Fans trennen, ziemlich stabil und sicher aussehen. Gern würde ich Kristina noch antworten, aber Liam schiebt mich unaufhaltsam auf den Zaun und die dahinter wartenden Fans zu. Also versenke ich mein Smartphone in der Hosentasche, setze mein Profilächeln auf und ergreife die Hand des Mädchens, das dem Auto am nächsten steht und seine Hand durch das Gitter streckt.
Erst eine Dreiviertelstunde später in der Garderobe ziehe ich das Handy wieder hervor.
Einige Fans haben mich in Beiträgen und Storys auf Instagram oder TikTok markiert. Vielleicht wäre es sinnvoll, die Benachrichtigungen für diese Apps auszuschalten. Aber plötzlich überkommt mich ein Gedanke. Erschreckend spät, um ehrlich zu sein. Kristina muss meine Story gesehen haben, sonst hätte sie nicht wissen können, dass ich Klavier geübt habe. Es ist mühsam, über hundert Benachrichtigungen darüber anzusehen, wer meine Story angeschaut, gelikt oder kommentiert hat. Trotzdem scrolle ich durch die ganze Liste. Ohne Erfolg jedoch. Mit dem Escape-Account hat sie meine Story nicht gesehen, der blaue offizielle Pfeil wäre mir aufgefallen. Sie muss noch ein privates Konto haben, das nicht ihren vollständigen Namen trägt. Schließlich durchforste ich auch meine Follower-Liste. Allein in den letzten fünf Stunden sind wieder unzählige Leute dazugekommen. Wer soll denn da durchsteigen? NoahHammondFan24, Five2SevenMyLove, FaraSweet_Girl … Nein, hinter keinem dieser Accounts dürfte Kristina stecken. Auf gefühlt jedem dritten Profilbild sehe ich meinem eigenen Gesicht entgegen, und ich will das Smartphone schon genervt weglegen, als eines der kleinen Bilder doch meine Aufmerksamkeit erregt. Eine Nahaufnahme einiger weißer und schwarzer Tasten. Daneben steht KrisThieNa_05. Das muss sie sein.
Es klopft an der Tür, die im nächsten Augenblick aufgerissen wird.
„Noch fünf Minuten. Ab zur Bühne.“
Scott ist so schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht ist, und so klicke ich trotz des Zeitdrucks auf Kristinas Profil.
Dieses Konto ist privat.
Na toll.
Ich zögere keine Sekunde und drücke auf den blauen Button. Auch folgen.
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