Noah
„Follow me to a new tomorrow! Uuhhh.”
Wir verharren mit den Mikros vor unseren Mündern, während das Licht ausgeht und die Menge in der Halle ausrastet. Vereinzelt kann ich unsere Namen aus dem Rauschen des Applaus und dem hysterischen Jubel heraushören, orten kann ich sie jedoch nicht. Ich spüre, wie Suma neben mir sich bückt, und ich tu es ihm gleich, um mein Mikro auf den Bühnenboden zu legen. Schon im nächsten Augenblick geht das Licht in der Halle wieder an, aus den Boxen dringt die Studioversion von Heartbroken, und die Rufe der Fans werden noch um einige Dezibel lauter, als wir von der Bühne kommen und uns an der ersten Absperrung entlang auf den Backstage zu bewegen.
Unzählige Hände strecken sich mir entgegen
Ich greife sie, lächle, nehme aber kaum wahr, was ich sehe. All die Gesichter, an denen ich, gesichert durch Gitter und Security, vorbeigehe, verschwimmen zu einer Masse aus Augen und Mündern.
„Das war mega“, lobt Scott uns, sobald wir den Backstage betreten haben und die dicke Stahltür den Lärm aus der Halle abdämpft. „Scheint, als hättet ihr euch jetzt richtig warmgelaufen.“ Er klopft mir auf die Schulter und zieht mich kurz an sich, ganz so, als sei er auf mich besonders stolz. Vielleicht ist es aber auch der Tatsache geschuldet, dass ich gerade neben ihm stehe, denn eigentlich habe ich nichts anders gemacht als sonst. Trotzdem erwidere ich sein Lob mit einem dankbaren Lächeln. Man muss nehmen, was man kriegen kann.
„Dann machen wir das morgen einfach noch mal genau so?“, fragt Andy grinsend.
„Ich bitte darum.“ Scott sieht Andy streng an, aber das Zucken in seinen Mundwinkeln verrät, dass er Andys Scherz verstanden hat.
Jemand reicht uns Handtücher und legt uns Bademäntel um die Schultern, jemand anderes drückt uns Wasserflaschen in die Hände. Ich lege den Kopf in den Nacken und lasse das Wasser in meine Kehle stürzen, während ich mich bereits langsam auf meine Garderobe zubewege. Als ich mich dort in den Sessel fallen lasse, ist der Inhalt der Literflasche bereits Geschichte.
„In einer Viertelstunde ist Abfahrt“, ruft Scott durch die Tür.
„Okay.“
Ich bin mir sicher, dass er meine Antwort schon nicht mehr mitbekommen hat, aber etwas anderes als Zustimmung hätte er ohnehin nicht gelten lassen. Allerdings habe ich heute auch gar keine Einwände. Das Management hat einen der angesagtesten Clubs in Barcelona exklusiv für uns gemietet, wer könnte da schon widerstehen?
Doch bevor ich unter die Dusche springe und mich für die Party in Schale schmeiße, checke ich mein Handy noch auf neue Nachrichten. Genauer gesagt, auf die eine neue Nachricht. Ein Lebenszeichen von Kristina, eine Info, wann wir uns wiedersehen werden. Aber außer den üblichen Benachrichtigungen über neue Follower und Kommentare zu meinen Fotos und Videos, hat sich während unseres Konzerts nicht geändert.
Ich kann mich nicht gegen den Stein wehren, der sich wie aus dem Nichts in meinem Magen breitmacht. Der Klavierunterricht liegt zwei Wochen zurück, unser letzter kurzer Kontakt immerhin fünf Tage.
Wow, ganz schön viel zu tun. Ich schau mal. Das war ihre Reaktion darauf, dass ich meinen Kalender mit ihr geteilt habe. Seitdem, nichts mehr. Nicht, dass ich während der letzten Tage besonders viel Zeit zum Klavierüben oder für sonst irgendetwas gehabt hätte, und Kristina hat schließlich gesagt, dass auch sie viel zu tun hat. Auch in ihren Instagramstories passiert nichts. Aber wie es scheint, ist ihr privater Account ohnehin eher still. Der letzte Post ist vom letzten Jahr. Ein Bild von ihr an irgendeinem Fluss. Sie trägt ihr Haar offen, so wie an dem Abend, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Mir gefällt es, wenn sie ihr Haar so trägt, sie wirkt nahbarer, auch ein Stück weit verletzlicher als mit dieser Frisur, mit der sie sich in der Öffentlichkeit zeigt. Und ich habe weiß Gott viele Bilder von Kristina angesehen in den letzten Tagen. Vermutlich mehr als gut für mich war. Denn während der Stein mir schwer im Magen liegt, zieht irgendetwas an meinem Herz. Etwas, das danach schreit, sie wiederzusehen, neben ihr am Klavier zu sitzen und mit den Fingern durch ihr Haar …
„Acht Minuten noch“, erklingt Scotts Stimme von draußen und vertreibt mein Kopfkino.
Hastig springe ich unter die Dusche und stelle mir vor, wie das Duschgel nicht nur meinen Konzertschweiß, sondern auch die unerreichbare Sehnsucht in den Abguss spült. Ich sollte mich über das freuen, was ich habe, und das ist in den nächsten Stunden auf jeden Fall eine geile Party. Es gibt echt Schlimmeres.
Unser Promotionmarathon am nächsten Morgen nimmt keine Rücksicht auf mögliche Partynachwehen.
Aber Scott hat natürlich vorgesorgt. Extrastarker Kaffee, Ingwershot und Aspirin – und schon laufen wir wieder auf Hochtouren. Ich mag die offene Art der Spanier, die zu jeder Zeit gute Laune zu versprühen scheint. Die Moderatorin einer Sendung präsentiert uns den Songtext von I’ll hold you auf Spanisch, und wir performen die Version spontan, die mit viel Gemurmel beginnt und in Gelächter endet. Zwar habe ich in der Schule Spanisch gelernt, das meiste davon aber wieder vergessen, sodass ich keine Ahnung habe, wie gut die Übersetzung tatsächlich ist. Aber immerhin komme ich mit der Aussprache besser zurecht als die anderen.
„Muy bien“, lobt Felicia mich und lacht. „Deine Aussprache ist gut.“
„Gracias. Ich coache die Jungs, dann können wir diese Version mit ins Programm aufnehmen.“ Richtig ernst meine ich das eigentlich nicht, aber Liam und Suma signalisieren Felicia und mir, dass sie die Idee gar nicht schlecht finden.
Vor dem Sender erwartet uns eine Traube Fans, die uns frenetisch begrüßt, als wir aus dem Gebäude treten. Jayden hält sich dicht an meiner Seite, aber die Mädels und wenigen Jungs, die mit uns Fotos machen wollen, sind bei aller Begeisterung rücksichtsvoll genug, sodass unsere Bodyguards auf den vollen Einsatz ihrer Fähigkeiten verzichten können.
Beladen mit Geschenken und begleitet vom Winken und Rufen der Fans klettern wir nach einer halben Stunde ins Auto, das uns zurück ins Hotel bringt. Kaum sitze ich, kippt mein Kopf gegen die Scheibe und die Augen fallen mir zu.
Ein plötzlicher Schmerz an meiner Wange lässt mich aufschrecken. Andy lungert mit breitem Grinsen neben mir, die Hand noch erhoben, mit der er mir gerade gegen die Haut geschnippt hat.
„Alter, was soll der Scheiß?“, murmle ich und richte mich auf.
Andy steht inzwischen halb aufrecht im Van. „Aufwachen. Wir sind da. Ehrlich, dass du auch überall pennen kannst …“
„Wieso auch nicht“, erwidere ich, löse den Gurt und klettere hinter Andy aus dem Auto.
„Das ist optimale Zeitausnutzung“, schiebe ich erklärend hinterher.
„Das ist mein Sohn!“
Augenblicklich bin ich wieder hellwach.
Ich bleibe auf der Stelle stehen, die Tatsache ignorierend, dass ich Liam so den Weg aus dem Van versperre, und starre auf meinen Vater, der mit strahlendem Lachen von einer Stretchlimousine zu mir rüberkommt. Ich würde gern an eine optische Täuschung glauben, aber als er mich in eine überschwängliche Umarmung schließt und mir zweimal kräftig auf den Rücken klopft, muss ich erkennen, dass er real ist.
„Hi, Dad, was machst du denn hier?“
Dad trägt noch immer sein breites Lächeln im Gesicht, das er immer aufsetzt, wenn auch nur der Hauch einer Chance auf Publicity besteht, und das jede Zahnpastawerbung in den Schatten stellen könnte. Er legt seinen Arm um meine Schulter und geht gemächlich, aber entschieden auf den Eingang des Hotels zu, was mich dazu zwingt, meine Füße mechanisch ebenfalls in Bewegung zu setzen.
„Ich hatte in der Nähe zu tun, ein neues Projekt, ist aber noch geheim, und ich dachte, ich überrasche dich.“
„Hat geklappt“, murmle ich und trete neben ihm in das gut klimatisierte Foyer. Ich weiß nicht, was ich von seinem unangekündigten Auftauchen halten soll. Er sieht gut gelaunt aus, sein Spruch eben zeugte von Anerkennung, aber das muss nichts heißen. Auch wenn sich niemand für uns näher zu interessieren scheint, sind wir hier immer noch auf dem Präsentierteller, und nach außen hin werden wir immer die perfekte Vater-Sohn-Beziehung mimen.
Mein Vater steuert zielstrebig auf die Aufzüge zu, und mir bleibt nichts anderes übrig als ihm zu folgen, wenngleich sich mit jedem Schritt das ungute Gefühl in meinem Bauch mehr verfestigt. Kurz bevor sich die Aufzugtüren hinter uns schließen, huscht Andy mit in die Kabine. Dads Miene bleibt ungerührt, zumindest für einen Außenstehenden wie Andy. Nur mir fällt das leichte Zucken in seinem rechten Augenwinkel auf, was mich in meiner unguten Vorahnung bestätigt. Umso dankbarer bin ich für Andys Gesellschaft und den Aufschub, den er mir damit verschafft.
„Guten Tag, Mr Hammond, schön Sie zu sehen.“ Andy streckt meinem Vater die Hand entgegen und Dad ergreift sie.
Wow, ich wusste gar nicht, dass Andy so höflich sein kann.
Dad lächelt weiterhin. „Hi Andy, sag Ryan.“
„Gern. Bleiben Sie zum Konzert heute Abend?“
Dad sieht auf seine Smartwatch, als ob er die Antwort auf Andys Frage darauf ablesen könnte, dann schüttelt er den Kopf. „Nein, leider muss ich in zwei Stunden wieder zurück nach London. Ich schau mir eine eurer nächsten Shows in England an.“
„Cool, herzlich willkommen“, sagt Andy und klingt ehrlich begeistert.
Ich presse die Zunge an den Gaumen und zwinge mich, meine aufgesetzte lockere Miene beizubehalten.
Der Aufzug erreicht unser Stockwerk und ich springe auf den Flur noch ehe sich die Türen ganz geöffnet haben. Andy wirft mir einen kurzen irritierten Blick zu, doch mit einem ebenso kurzen, aber bestimmten, Kopfschütteln bedeute ich ihm, nichts zu fragen. Prompt legt sich wieder ein Grinsen auf das Gesicht meines Bandkollegen.
„Kannst du uns nachher noch einmal ein Aussprache-Coaching geben? Liam meinte, wir könnten die spanische Version von I’ll hold you heute Abend noch einmal singen.“
Überrascht sehe ich ihn an. Das müssen sie eben im Auto besprochen haben, als ich gepennt habe. „Klar, mach ich.“
„Cool, danke. Bis später dann. Bye, Mr Hammond … äh, Ryan.“ Andy winkt und geht rechts den Flur runter. Ich gehe nach links, Dad dicht hinter mir.
„Ihr singt auf Spanisch?“, fragt er, während ich die Tür zu meiner Suite öffne.
„Ach, das war gerade eine spontane Aktion bei einem Interview. Die Moderatorin hatte den Text auf Spanisch übersetzt.“ Erstaunlich, dass meine Stimme locker klingt, als würde ich über das Wetter reden. Der Rest meines Körpers ist in Lauerstellung, wie eine aufmerksame Antilope, die bereit ist, beim kleinsten Geräusch die Flucht zu ergreifen. Mit dem einzigen fatalen Unterschied, dass ich keine Fluchtmöglichkeit habe, weil Dad nahe der Tür stehen bleibt. Er hat mich nie geschlagen oder so, selbst laut geworden ist er nur selten. Dad hat andere Methoden, um seinen Willen durchzusetzen.
„Wie läuft’s mit den Vorbereitungen für das neue Album?“
Wusste ich es doch, dass er nicht nur hier ist, um seinen Sohn zu besuchen. Sonst hätte er wenigstens einmal gefragt, wie es mir geht.
„Ganz gut“, erwidere ich, ziehe eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank und halte sie Dad fragend hin. Er schüttelt den Kopf. „Lieber Kaffee?“
Zur Antwort geht mein Vater selbst auf den Kaffeevollautomaten zu, der auf einem Sideboard steht, stellt eine Tasse mit Hotellogo unter den Ausguss und drückt auf einen der Knöpfe.
„Habt ihr schon eine Songauswahl getroffen?“
„Nur ein, zwei Songs. Der Rest ist noch offen, aber es gibt schon gute Ideen.“
„Ja, Dom hat mir davon erzählt“, sagt Dad fast beiläufig und trinkt einen Schluck Kaffee.
Nur mit Mühe kann ich mir ein Augenrollen verkneifen. Wenn er doch sowieso von Dom alles weiß, wieso ist er dann hier?
„Allerdings hast du noch nichts beigetragen.“
Ich verschließe die Lippen vor dem Flaschenhals und atme zischend ein, wohlwissend, dass Dad das bemerkt.
„Ich habe einen Song geschrieben“, sage ich beherrscht. Zwei sogar, wenn man es genau nimmt. „Harry hat er gefallen. Aber Dom meinte, dass er nicht zu einer Boygroup passt.“
Dad nippt wieder an seinem Kaffee und macht mit der freien Hand eine Geste, die eindeutig Sag ich doch bedeutet.
„Ist dann halt ein Song für später.“ Five2Seven soll doch eh nur mein Sprungbrett sein, was wirft er mir also vor?
Mein Vater legt Daumen und Zeigefinger um die Nasenwurzel und schüttelt den Kopf. „Später, später. Noah, du kapierst es nicht. Du musst jetzt liefern. Jetzt! Sonst kannst du dir die Solokarriere abschminken.“
„Du bist doch auch direkt allein durchgestartet.“ Ein schwaches Argument, das weiß ich selbst, dummerweise nur das einzige, das mir eingefallen ist.
„Ich habe von Anfang an dafür gekämpft und alles dafür gegeben“, erwidert Dad fest und ich muss all meine Beherrschung aufbringen, um nicht genervt zu seufzen, weil ich weiß, welcher Vortrag jetzt kommt. „Ich habe deinen Geschwistern und dir den Weg geebnet, dir steht die Branche offen. Du musst diese Chance einfach nur nutzen.“
Ich bin mir nicht sicher, ob er mich anfleht. In meinen Ohren klingt es mehr wie ein Befehl: Nutz diese Chance!
Bleierne Schwere legt sich auf meinen Körper.
Es ist nicht nur der Schlafmangel der letzten Nacht, der letzten Monate. Wie oft habe ich diese Diskussion schon mit Dad geführt? Ich weiß es nicht. Man sollte meinen, ich hätte mir inzwischen ein paar gute Argumente zurechtgelegt, wäre alt genug, um mich ihm gegenüber zu behaupten. Trotzdem stehe ich wieder vor ihm, halte mich an der Wand fest, um nicht umzufallen.
„Okay“, murmle ich.
„Wie war das?“ Dad durchbohrt mich mit seinem eisblauen Blick.
„Ich werde mehr Einsatz zeigen.“
Über das Gesicht meines Vaters fliegt ein beinahe herzliches Lächeln. Er kommt auf mich zu und stößt mir kumpelhaft seine Faust gegen die Schulter. „Sehr gut. Wer kämpft, kann gewinnen!“
Ich kann nur nicken. Meine Knie zittern, wenn die Wand nicht wäre, hätte Dads Berührung mich eben umgeworfen. Er sieht auf seine Uhr und klopft mir noch einmal auf die Schulter.
„Okay, Junge, ich muss los. Wir sehen uns am 20.“
Ein kalter Schauer fährt über meinen Körper. Das ist der nächste Off-Day. „Wieso? Was ist am 20.?“
„Wir drehen ein kleines Special. Midsummernight, Magic and More.“ Dads Augen leuchten als ob die Magie sich in seinem Blick schon eingenistet hätte. „Ich habe das mit Scott schon abgeklärt. Ihr seid ja ohnehin in England. Du wirst nach eurem Konzert in Brighton direkt nach Hause gebracht und fliegst am 21. nach Birmingham, sodass du rechtzeitig zum nächsten Gig wieder bei der Band bist.“
Fassungslos starre ich ihn an. 36 Stunden Familiendreh, das klingt alles andere als magisch. Und dass Dad und Scott das über meinen Kopf hinweg geplant haben …
„Okay“, antworte ich matt.
„Das wird super, Noah. Bis dann!“ Dad strahlt wie ein Kind am Weihnachtsmorgen und legt die Hand auf die Türklinke.
„Bye, Dad.“
Sobald mein Vater die Suite verlassen hat, wanke ich auf das Bett zu und lasse mich auf die Matratze fallen. Wenn ich fest die Augen schließe, kann ich mich vielleicht für einen Moment der Vorstellung hingeben, die letzte Stunde wäre einfach nicht passiert.
Doch es klappt nicht. Der Stein in meinem Magen ist urplötzlich wieder da und zusätzlich hat sich irgendetwas Schweres auf meinen Brustkorb gelegt. Mein Handy vibriert und ich ziehe es routiniert hervor und entsperre das Display. Für den Bruchteil einer Sekunde löst sich alles Schwere in mir auf, als ich sehe, von wem die neue Nachricht stammt. Nur, um sich dann mit voller Wucht und erbarmungsloser als zuvor wieder auf mich zu stürzen.
Hi Noah, sorry für die späte Antwort. Was hältst du vom 20.5. Da habe ich auch frei. LG, Kristina.
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