Kristina
„Nein, nein, nein!“ Stöhnend stütze ich die Ellbogen aufs Mischpult und vergrabe den Kopf in den Händen, sehe aber sofort wieder auf und gebe Ben durch die Scheibe ein Zeichen, dass er aufhören soll zu spielen. Nicht nur er zieht die Stirn in Falten, auch Martin sieht mich irritiert an.
„Was ist denn los? Das war doch gut.“
Ich schüttle den Kopf und ziehe mir die Kopfhörer von den Ohren. „Das klang schief.“
„Was? Ich habe extra noch einmal nachgestimmt“, ruft Ben empört und kommt zu uns in den Regieraum.
„Aber offenbar nicht auf 440 Hertz“, erwidere ich.
Ben klemmt das Stimmgerät erneut an seine Gitarre und korrigiert die Stimmung der Saiten, dann pfeffert er das Gerät Richtung Sofa, wo Freddy es geistesgegenwärtig auffängt.
„Das hätte man auch hinterher noch mal anpassen können“, murmelt Ben, während er sich umdreht und den Regieraum wieder verlässt.
„Wie war das?“
Martin legt mir eine Hand auf den Arm. „Komm, lass gut sein.“
Er wirft Ben im Nebenraum einen Blick zu und startet eine weitere Aufnahme. Ich ziehe mir ebenfalls die Kopfhörer wieder auf und nehme erleichtert zur Kenntnis, dass die Tonhöhe jetzt zu den übrigen Aufnahmen passt. Trotzdem sehe ich Ben nicht an, sondern starre Richtung Tür.
Johnny, der wohl gerade vom Klo oder so kommt, fängt meinen Blick, macht ein erschrockenes Gesicht und verschwindet sofort wieder. Mist, hoffentlich hat er das nicht persönlich genommen. Vermutlich geht Bens falsch gestimmte Gitarre nicht auf sein Konto. Und auch, dass ich schon wieder seit zehn Stunden im Studio bin, ist nicht Johnnys Schuld.
Freddy schiebt sich an mir vorbei und folgt Johnny, in meinen Ohren musikalisch begleitet von Bens einwandfreien Akkorden.
„Das war gut“, ruft Martin Ben zu und hebt zusätzlich den Daumen. „Willst du noch eine Aufnahme machen?“
Aus den Augenwinkeln sehe ich Ben nicken und ich drehe mich um, schenke ihm ein versöhnliches Lächeln, bin mir allerdings nicht sicher, ob es mir gelingt. Er sieht an mir vorbei.
Als Ben fertig ist, nickt Martin zufrieden. Ich erwidere nichts, gebe unserem Produzenten im Stillen aber recht. Ben war gut.
„Kannst du Freddy Bescheid geben? Wenn er will, können wir noch die zweite Gitarre aufnehmen, was meinst du?“
Ohne ein Wort stehe ich auf und mache mich in den übrigen Studioräumen auf die Suche nach Freddy. Nach vergeblichen Versuchen in der Küche oder im Nebenraum werde ich schließlich draußen fündig. Freddy, Johnny und Joshie sitzen im Innenhof und quatschen.
„Hi Kris, willkommen im Licht! Alles klar?“ Joshie sieht grinsend zu mir hoch und hält mir eine geöffnete Tüte Chips entgegen.
Kopfschüttelnd lehne ich ab und übergehe auch ihren Witz. Seit dem Vorfall im Hotel vor vier Tagen begegnet sie mir mit übertrieben guter Laune, von der ich weiß, dass sie nur aufgesetzt ist. Aber selbst, wenn sie es nicht wäre, könnte sie meine Stimmung nicht heben. Dazu ist das alles zu verkorkst.
„Lass doch den Scheiß“, sage ich genervt und schiebe die Chipstüte von mir weg. „Freddy, Martin fragt, ob du die zweite Gitarre noch einspielen willst. Ben ist fertig.“
Freddy schiebt sein Handy, auf dem er eben noch herumgetippt hat, in die Hosentasche. „Kann ich machen“, sagt er, zögert dann aber doch und sieht mich zweifelnd an. „Ist es für dich okay?“
„Wieso sollte das für mich nicht okay sein? Ich spiel nicht Gitarre.“
Freddys Gesichtszüge werden weicher.
„Du siehst müde aus, vielleicht täte dir eine Pause gut.“
„Nochmal, ich muss nicht Gitarre spielen“, erwidere ich genervt.
„Ja, aber du sitzt wie ein Zombie hinterm Mischpult“, hält Freddy dagegen.
Ich stampfe mit dem Fuß auf, wobei ich zu viel Energie in die Bewegung lege und Freddys Mateflasche erwische, die er neben seinem Stuhl abgestellt hat. Klirrend fällt sie um und rollt ein Stück über die Steinplatte.
„Willst du die Aufnahme noch machen, ja oder nein?“
Freddy schließt die Augen und atmet mit zusammengepressten Lippen geräuschvoll aus. „Ich glaube, morgen ist besser“, sagt er schließlich. „Mama und Finn freuen sich, wenn ich mal zum Abendessen da bin.“
„Okay.“ Warum hat er das nicht gleich gesagt?
Freddy bückt sich nach seiner Flasche und ich drehe mich um und will zurück ins Studio gehen, doch Joshie springt auf und hält mich an der Schulter zurück. Der Schalk, der ihr vor zwei Minuten noch ins Gesicht geschrieben stand, ist verschwunden. Stattdessen blicken ihre schwarzen Augen mich ernst an, während ihre Hand an meinem Arm hinabrutscht und schließlich sanft, aber bestimmt, meine Finger umschließt.
Freddy geht an uns vorbei ins Studio, Johnny verzieht sich in die andere Ecke des Innenhofs und zieht Zigaretten und Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Offenbar zündet das Feuerzeug nicht direkt, mehrere Male dringt das Klicken an mein Ohr, und mit jedem Mal hektischer.
„Komm schon“, flucht Johnny.
Joshie sieht sich zu unserem Bassisten um, dann wendet sie sich mir wieder zu. „Kris, bist du sicher, dass alles okay ist?“, fragt sie so leise, dass wir sicher sein können, dass Johnny uns nicht hört.
„Klar, wieso nicht?“, sage ich, ihrem Blick ausweichend und mit dem leichten Versuch, meine Hand aus ihrer zu befreien. Sofort greift Joshie fester zu.
„Das weißt du genau. Kris, deine Panikattacke …“
„Schh“, sage ich mit einem Blick Richtung Johnny, der mit dem Rücken zu uns, Rauchwolken in die Abendluft bläst.
Joshie schüttelt den Kopf, senkt ihre Stimme aber noch weiter, als sie fortfährt. „So schlimm ist es schon lang nicht mehr gewesen. Du warst am nächsten Tag immer noch total fertig.“
Als ob ich das nicht selbst wüsste. Statt mit den anderen zu den Promoterminen zu gehen, bin ich mit Judith im Tourbus geblieben und habe, in der Lounge ausgestreckt, versucht, ein paar Stunden Schlaf nachzuholen. Doch auch jetzt steckt mir die Nacht im Hotel noch in den Knochen. Joshie kennt mich zu gut, als dass sie es nicht merken würde.
„Gönn dir doch eine Pause“, bittet sie.
Hitze wallt in mir auf und strebt danach, sich über die Grenzen meines Körpers hinweg auszubreiten. In meinen Fingerspitzen kribbelt es. Ich beiße mir auf die Zungenspitze und unterdrücke so den Drang, mich loszureißen und Joshie einfach stehenzulassen.
„Wie soll das denn gehen?“, sage ich stattdessen. „Das Album produziert sich nicht von allein, und wir müssen in zwei Monaten fertig sein.“
Joshie lässt den Kopf hängen. „Ich weiß, aber Martin ist der Produzent. Er schafft auch einen Tag ohne dich.“
Einen Tag, so fängt es an. Dann wird es ein zweiter, ein dritter. Eine Woche. Bis irgendwann …
„Ich kann nicht“, sage ich leise, aber bestimmt.
Joshie seufzt und lässt meine Hand los. „Liebst du noch, was du tust?“
War es eben noch Hitze, ist es nun ein Kälteschauer, der mich überrollt und in die kleinsten Poren meines Körpers dringt. Hat Joshie diese Frage bewusst so gestellt? War es eine konkrete Anspielung? Ich schnappe nach Luft.
„Natürlich“, antworte ich dann hastig und eile ins Studio.
Obwohl die Stimmung zwischen Ben und mir immer noch etwas unterkühlt ist, fährt er mich nach Hause. Stumm lenkt er sein Auto durch die Hamburger Straßen und trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad, als der Verkehr an einer Baustelle einspurig wird und sich die Autos nur langsam zwischen den Barken einfädeln. Ich habe mein Smartphone auf dem Knie liegen und lese die Nachricht, die bereits vor zwei Stunden zugestellt wurde.
Noah.
Irgendwo zwischen Bauchnabel und Zwerchfell flattern Schmetterlinge sanft mit ihren Flügeln, nur um am Ende der Nachricht urplötzlich in sich zusammenzubrechen und zu Staub zu zerfallen.
Hi Kristina, schön, von dir zu hören. Vor zwanzig Minuten hatte ich am 20. Mai noch Zeit. Jetzt ist gerade leider ein Termin reingekommen, den ich nicht absagen kann.
Ich schiebe die Nachrichten in unserem Chat mit dem Daumen hoch und runter und verkneife mir ein Seufzen. Ich will nicht, dass Ben möglicherweise nachfragt, was los ist. Dort, wo eben noch die Schmetterlinge waren, zieht es jetzt unangenehm, und mir wird klar, dass ein Teil von mir gehofft hat, ich könnte Noah bald wiedersehen. Nicht weil ich glaube, mein Unterricht würde aus Noah in absehbarer Zeit einen begnadeten Pianisten machen. Aber da ist immer noch diese völlig verrückte und naive Idee, dass wir diesen Kuss wiederholen könnten. Nur einmal.
Schade. Da war ich wohl zu spät, schreibe ich zurück.
Ob Noah die Nachricht wohl vor dem Konzert in Barcelona noch liest? Es sind noch gut anderthalb Stunden bis dahin.
Kopfschüttelnd sehe ich aus dem Fenster. Nicht zu fassen, dass ich nicht nur weiß, wo Five2Seven gerade sind, sondern auch, wann die Konzerte beginnen. Es sollte doch reichen, wenn ich unseren Tourplan im Kopf habe. Mein Handy blinkt auf.
Tut mir leid. Ich hätte mich lieber mit dir getroffen. Ehrlich.
Und schon sind die Schmetterlinge wieder am Start. Noah hat nichts von Klavierunterricht geschrieben. Nur, weil es einfacher war, oder geht es ihm eigentlich auch um etwas anderes?
Komm schon, Kristina, mach dir nichts vor. Du hast es doch gespürt.
Ja, habe ich, verdammt. Aber es ist völlig irre.
Was dich nicht davon abhält, dir immer wieder vorzustellen, wie es sein könnte …
Woher kommt diese Stimme in meinem Kopf? Ihre spöttischen Kommentare bringen mich keinen Schritt weiter.
Sicher? Du könntest es auf einen Versuch ankommen lassen.
Ja klar. Ich schließe Noahs Nachricht, öffne Instagram und lande wie automatisch auf seinem Profil. Er hat wieder ein paar Bilder vom offiziellen Five2Seven Account in den Storys geteilt. Die vier Jungs stehen lachend neben einer gut gelaunt schauenden Frau um ein Mikro herum. Über das Bild hat er einen Radio-Sticker gelegt und Having Fun geschrieben. Sein Lachen ist so breit wie auf allen Bildern, die er teilt.
Man merkt, das ist ein total professioneller Kontakt, den ihr habt, meldet sich die spöttische Stimme in meinem Kopf wieder.
Ja, ist es, denke ich und will Instagram gerade wieder schließen, als Noah eine neue Story teilt. Dem Hintergrund nach zu urteilen ist er wohl backstage in seiner Garderobe. Er lehnt vor einem kleinen Tisch, in einer Hand eine Tasse Tee, und fotografiert sich selbst im Spiegel. Getting ready fort he show, hat er das Bild kommentiert. Er grinst, wie immer. Aber etwas ist anders. Ich schaue genauer hin und erkenne eine dünne Falte zwischen Noahs Augenbrauen, seine Lider sind halb geschlossen.
Eine Weile mustere ich Noahs Gesicht, fahre seine Konturen nach. Vielleicht ist es Zufall, ein unglücklicher Schnappschuss. Aber es passt nicht zu den sonst so perfekten Bildern. Er hätte ein anderes Selfie machen können. Wenn er also dieses Bild geteilt hat, kann das nur bedeuten, dass die Müdigkeit auf jedem anderen Bild auch zu sehen gewesen wäre. Ihm geht’s wie mir, schießt es mir durch den Kopf.
Plötzlich schmecke ich Blut.
Verdammt, ich habe nicht gemerkt, dass ich auf meiner Unterlippe gekaut habe.
Weil du dich ganz schön viel mit ihm beschäftigst! Dann schreib ihm jetzt wenigstens!
Ich wechsle in den Messenger und rufe Noahs letzte Nachricht auf und beginne, nach einem raschen Seitenblick auf Ben, zu tippen.
Ich könnte ja auch zu dir kommen, wenn das einfacher ist.
Noahs Antwort lässt kaum eine Minute auf sich warten.
Lieb von dir, aber es macht es nicht leichter. Ich überleg mir etwas.
Kurz überlege ich, etwas zu erwidern, ihn zu fragen, ob es nicht doch klappen könnte, aber da hält Ben vor meinem Haus und ich lasse das Handy in die Jackentasche gleiten.
„Danke fürs Fahren. Und sorry, dass ich dich gerade so angepflaumt habe.“
Ben nickt kurz. „Schon okay. Bis morgen.“
Ich steige aus, werfe die Tür zu und eile nach oben in die Wohnung, während die Anstrengung der letzten Tage sich urplötzlich und unbarmherzig an die Oberfläche drängt. In meinem Bauch kribbelt es und in meiner Brust zieht es. Einatmen. Ausatmen. Ich werde keine Panikattacke bekommen. Einatmen. Ausatmen. Alles ist gut. Einatmen. Ausatmen. Ich lasse meine Tasche im Flur fallen, gehe ins Wohnzimmer und setze mich an den Flügel. Die glatten Tasten vertreiben mit jedem Ton das Kribbeln, was an Beklemmung noch übrig ist, wird mit den Tränen und lang vertrauten Akkorden weggeschwemmt.
Als ich aufsehe, steht mein Vater im Türrahmen. Er trägt seine Tasche noch über der Schulter, aber in seinen Augen glänzt es verdächtig. Vermutlich steht er schon eine Weile hier. Er öffnet den Mund, bewegt die Lippen stumm auf und ab.
Dann lächelt er schwach. „Hallo, Kristina. Hast du Hunger?“
„Hi, Papa. Ein bisschen.”
Wir reden in Synonymen. Papas Lippen haben nicht das gesagt, was seine Augen meinten, und meine Antwort hat bestenfalls so geklungen, wie das, was ich eigentlich hätte sagen wollen. Dass er sich keine Sorgen machen muss. Dass ich das schaffe.
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