Kapitel 16 - Positiv denken

Noah

Im Hotelzimmer ist es still. Kein Kühlschrank brummt, der Fernseher summt nicht und weder von der Straße noch vom Gang vor der Tür dringt irgendein Laut herein. Dafür ist es in meinem Kopf umso lauter, und egal, was ich versuche, der Lärm verschwindet nicht. Tief atmen, Luft anhalten, langsam ausatmen, mich nur auf meinen Körper konzentrieren, es klappt nicht. Ich bin hundemüde, muss in fünf Stunden wieder aufstehen und kann nicht einschlafen. 

Vielleicht liegt es daran, dass ich noch immer von Simons Ansage nach dem Konzert genervt bin. Irgendeinen Schritt, an den ich mich nicht einmal mehr erinnere, habe ich falsch gemacht. Ich habe es nicht abgestritten, sondern einfach Simons Tirade über mich ergehen lassen, in der Worte wie Kartoffelsack und hopsen fielen. Meine Gedanken waren ganz unprofessionell nicht bei der Show.

 

Schon zum Frühstück hatte ich eine Mail von Dad mit Dispo und Drehbuch für das Midsummer-Special in meinen Mails. Der Inhalt reicht, um meine Laune bis zum Drehtag zu verhageln.

 

Positiv denken, hat Marble mir geschrieben.

 

Die hat gut reden. Mit ihrem Part dürfte sie mehr als happy sein. Meine Rolle hingegen …

Obwohl ich mir wenig Hoffnung mache, öffne ich das Drehbuch trotzdem noch einmal und lese die Seiten auf der Suche nach wenigstens einer Kleinigkeit, der ich etwas Gutes abgewinnen kann.

 

Es wird ein Dinner in unserer Villa in Chelsea geben. Pavillons und Laternen im Garten, ein paar Musiker, die Laute, Harfe und Flöte spielen, Shakespeare-Kostüme und natürlich illustre Gäste.

 

Kurz bin ich davor, mein Smartphone quer durch den Raum an die Wand zu schmeißen, als ich zum wiederholten Mal die Gästeliste lese. Mike und Melanie Sanders, okay. Mike hat früher mit Dad Musik gemacht, bisschen anstrengend der Typ, aber so lang er nicht zu viel der süßen Midsummer-Bowle meiner Mutter zuspricht, wird es schon passen.

Womöglich sollte ich mich eher an die Bowle halten, um die anderen Gäste auszuhalten. Alle vier McNeils werden bei dem Special dabei sein. Der Rugby-Coach Bill mit seiner Frau Jane, und die beiden Töchter Allison und Fiona. Ausgerechnet!

 

Ob Dad weiß oder ahnt, was zwischen Allison und mir mal war, und er die Familie deshalb eingeladen hat? Nein, das kann eigentlich nicht sein. Das mit Allison und mir war so kurz, dass ich mich selbst kaum daran erinnere. Ein paar flirtende Blicke auf einer Party ihrer Eltern vor zwei Jahren und eine anschließende Nacht mit eher wenig Schlaf in ihrem Zimmer. Nur ein paar Tage später kam sie mit dem Schauspieler Steven Thomas zusammen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich traurig oder eifersüchtig deswegen war. Allison und ich hätten eh keine Zukunft gehabt, wir sind viel zu verschieden. Unsere gemeinsame Nacht ist kein Thema mehr zwischen uns. Trotzdem bin ich froh, dass Steven nicht mit auf der Gästeliste steht. Vermutlich hat er gerade irgendeinen Dreh in Hollywood oder so.  

Ich scrolle weiter zur nächsten Seite.

 

Puck lockt Noah und Fiona in den magischen Pavillon.

 

Wenn es nicht zu ironisch wäre, könnte ich darüber lachen. Fiona ist zwei Jahre jünger als ich und passt noch weniger zu mir als ihre ältere Schwester. Abgesehen davon, weiß mein Vater genau, dass ich laut meinem Vertrag bei Five2Seven in den ersten zwei Jahren keine öffentliche Beziehung haben darf. Aber wenn er sich bei meinen Fans unbedingt unbeliebt machen will, indem er mich vor laufender Kamera verkuppelt, soll es mir recht sein. Aber wieso ausgerechnet Fiona McNeil?

 

Ob Allison das Drehbuch schon gelesen hat?

 

Kopfschüttelnd lasse ich das Handy sinken und lege es auf meinem Bauch ab, bis nur noch ein schmaler leuchtender Rand auf der Bettdecke zurückbleibt. Sollte ich mich nicht viel eher fragen, was Fiona über die Szene denkt? Wenn ich schon nicht gefragt wurde, ist wenigstens sie einverstanden?

 

Das Drehbuch sieht keinen Kuss vor, aber die Anspielung ist deutlich genug. Ich will nichts tun, was ihr unangenehm ist. Aber ich habe keine Nummer von ihr, nicht einmal mehr von Allison. Bleibt nur Instagram.

 

Ich halte mir das Smartphone wieder vors Gesicht, suche Fionas Profil und klicke mich durch ein paar Bilder. Hauptsächlich zeigen sie Selfies von Fiona in verschiedenen Outfits, oder Fotos von Fiona mit ihrem Pferd. Wenn sie einen Freund hat, tritt er zumindest nicht öffentlich in Erscheinung, vermutlich gibt es also keinen. Und selbst wenn, es geht mich auch nichts an. Ich will nur ihr gegenüber fair bleiben.

 

Ich schreibe ihr eine Nachricht und lese schließlich noch die letzten Seiten des Drehbuchs, ehe die Uhr am rechten Bildschirmrand zwei Uhr anzeigt und ich das Handy frustriert auf die andere Seite des Bettes lege.

 

„Sorry, Marble. Da ist nichts Positives.“

 

Der Kaffee schimmert durch die dünnen Wände des Pappbechers.

 

Ich sollte ihn trinken, bevor die Pappe sich auflöst und die Brühe sich über den Tisch verteilt. Den Becher zwischen zwei Fingern balancierend, setze ich ihn an die Lippen und schüttle mich.

 

„Bäh, ist das eklig!“

 

Andy grinst. „Die Idee von Kaffee ist, ihn heiß zu trinken.“

 

„War zu müde“, gebe ich schmallippig zurück.

 

Andy schüttelt den Kopf, sagt aber nichts mehr. Ist vermutlich besser so. Meine Laune ist immer noch im Keller. Zu dem bescheuerten Drehbuch kommt jetzt noch der Schlafmangel hinzu, und diese Warterei im Fernsehstudio. Wozu mussten wir um halb sieben hier antanzen, wenn wir jetzt schon seit einer Stunde hier rumsitzen und auf Drehbeginn warten?

 

„Wenn wir nicht gleich anfangen, geh ich wieder nach Hause“, sage ich und werfe den leeren Kaffeebecher in den Papierkorb der Garderobe.

 

Immerhin sieht Scott so aus, als würde er meinen Vorschlag unterstützen. Kommt auch selten genug vor. Allein Liam und Suma scheinen trotz Uhrzeit und Warterei guter Laune zu sein. Suma schafft es irgendwie auch im Sitzen ein paar Tanzbewegungen zu machen und dabei grazil und nicht lächerlich auszusehen.

 

„Kann doch mal passieren, dass es länger dauert. Vielleicht steht der Moderator im Stau? Oder sein Kind will sich im Kindergarten nicht von ihm verabschieden“, mutmaßt Liam.

 

Scott schnaubt. „Möglich, aber wir können hier auch nicht ewig warten.“ Er steht auf und geht zur Tür. „Ich suche noch mal den Aufnahmeleiter.“

 

Schon ist er aus dem Raum.

 

Ich presse Daumen und Zeigefinger um meine Ohrläppchen und massiere sie kräftig. Tatsächlich werde ich etwas wacher. Gerade rechtzeitig, denn Scott kommt zurück und klatscht zweimal energisch in die Hände.

 

„Okay, Jungs. In fünf Minuten geht’s los. Der Moderator ist da.“

 

Lieb, dass du fragst. Alles okay. Wir machen das schon. LG, F.

 

Ich weiß nicht, was ich von Fionas Nachricht halten soll, geschweige denn, was ich antworten soll. Vielleicht sollte ich es einfach dabei belassen, denn Fiona scheint kein Problem zu haben. Ich bekomme auch keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, denn auch hier in Portugal warten Fans vor dem Hotel auf uns und fordern unsere Aufmerksamkeit, sobald wir aus dem Auto steigen.

 

„Liiiaaaam!“ Der Name ist deutlich aus den Rufen herauszuhören, da Liam hier offenbar die meisten Fans hat. Was aber nicht heißt, dass Suma, Andy oder ich uninteressant werden.

 

„Hi, schön, dass ihr hier seid“, sage ich und lächle in die Gruppe. Danke, dass ihr mich ablenkt, denke ich.

 

„Ich liebe eure Musik, ich höre nichts anderes“, erzählt ein Mädchen, dem ich ein Autogramm auf ihr T-Shirt schreibe.

 

„Danke, das ist cool. Nerven dich die Lieder noch nicht?“

 

Sie sieht mich an, als ob ich ihr erzählt hätte, dass ich nicht wüsste, was Weihnachten ist. „Niemals.“

 

„Dann kannst du ja heute Abend beim Konzert laut mitsingen“, erwidere ich grinsend.

 

Augenblicklich verschwindet das Leuchten aus ihren Augen und ihre Mundwinkel rutschen nach unten. „Ich habe leider kein Ticket mehr bekommen.“

 

„Oh, das ist schade.“ Obwohl ich weiß, dass sie vermutlich nicht die Einzige ist, tut sie mir in diesem Moment wirklich leid. Schnell lasse ich meinen Blick nach links und rechts huschen. Liam und Suma stehen an meinen Seiten und sind mit den anderen Fans ins Gespräch vertieft. Ich sehe das Mädchen vor mir an und schenke ihr mein schönstes Lächeln.

„Wie heißt du denn?“

 

„Paola.“

 

„Schöner Name. Paola, sollen wir noch ein Selfie machen?“

 

Paolas Mundwinkel wandern wieder ein Stück nach oben und sie nickt. „Gerne“, sagt sie und zückt ihr Handy.

 

Als ich mich noch ein Stück enger neben sie stelle und den Arm um ihre Schulter lege, lehne ich meine Kopf nah an ihren. „Sei um sieben an der Halle, am Nebeneingang. Ich setz deinen Namen auf die Gästeliste“, flüstere ich ihr zu.

 

Urplötzlich tanzt das Smartphone in ihrer Hand, und ich fürchte schon, sie könnte es jeden Moment fallen lassen. Doch sie hält es fest und sieht mich fassungslos an.

„Dein Ernst?“, haucht sie.

 

Ich nicke, immer noch lächelnd. „Du und eine Freundin.“

 

„Wow.“ Paolas Augen leuchten wieder wie zuvor, schauen aber noch ungläubig, als würde sie darauf warten, gleich aus einem Traum zu erwachen. „Danke.“

 

„Schon okay. Aber erzähl es den anderen nicht weiter“, füge ich flüsternd hinzu.

 

Sie nickt. „Klar. Höchstens meiner Mutter. Sie war im Studium in England und voll der Fan von deinem Vater.“

 

Bämm! Mit herzlichem Gruß aus dem Universum.

 

Sofort sind mein Dad, das bescheuerte Drehbuch, Allison und Fiona wieder omnipräsent in meinem Hirn. Jetzt würde ich meine Einladung gern wieder zurücknehmen, aber das kann ich schlecht bringen. Also halte ich nur krampfhaft mein Lächeln aufrecht und nuschle „Cool. Dann viel Spaß heute Abend.“

 

Das Lächeln fällt mir mit jedem Fan zwischen Paola und dem Hoteleingang schwerer. Am liebsten würde ich auf irgendetwas einschlagen, um die heiße Wut, die in mir tobt, loszuwerden. Stattdessen greife ich nach Kugelschreibern und Filzstiften, kritzle meinen Namen auf alle möglichen Untergründe und grinse in Handykameras.

 

Als wir endlich wieder im Hotel sind, glaube ich, mit meiner angestauten Wut durch die Decke bis in den vierten Stock in mein Zimmer schießen zu können, und auf einmal kann ich verstehen, warum manche Stars Hotelzimmer demolieren. Mir wäre gerade auch danach. Leider ist noch eine leise Stimme der Vernunft übrig, die mir eindringlich zuflüstert, dass ich zusätzlichen Ärger mit Scott und den Hotelmitarbeitern nicht gebrauchen kann.

 

Also flüchte ich in die Suite, wo ein Klavier steht, und setze mich an die Tasten. Geübt habe ich schließlich auch schon länger nicht mehr. Nicht gerade eine Tatsache, die meine Laune hebt. Ganz abgesehen davon, dass die Chance auf ein Wiedersehen mit Kristina durch Dads Drehpläne in weite Ferne gerückt ist.

 

Ein paar ihrer Übungen kann ich inzwischen auswendig, was nicht heißt, dass sie gut klingen. Gespielt mit schlechter Laune schon einmal gar nicht.

 

„Fuck, fuck, fuck!“, brülle ich, als ich zum zehnten Mal an der gleichen Stelle scheitere und knalle den Klavierdeckel zu, dass es dröhnt.

 

„Du gibst auf?“

 

Ich fahre herum. Liam steht an der Wand, die Daumen lässig hinter seinen Hosenträgern verhakt. Verdammt, wie lang steht er schon da und hört mir zu?

 

„Ist heute nicht mein Tag.“

 

Er hebt eine Augenbraue, rührt sich ansonsten aber keinen Millimeter. „Nur heute? Wann war denn das letzte Mal dein Tag?“

 

„Was soll das heißen?“, frage ich und kneife die Augen zusammen.

 

„Dass du schon länger mies drauf bist.“

 

„Ach ja? Wer bist du, der neue Therapeut vom Dienst, oder was?“

 

Liam stößt sich von der Wand ab und macht zwei Schritte auf mich zu, die Hände immer noch hinter den Hosenträgern. „Bestimmt nicht. Aber vielleicht solltest du mal mit einem reden, wenn du Hilfe brauchst.“

 

„Danke, kein Bedarf“, knurre ich.

 

Liam verschränkt die Arme vor der Brust und schiebt das Kinn ein Stück vor. „Wenn du meinst. Aber dann lass deine schlechte Laune nicht an uns aus.“

 

„Mach ich doch gar nicht.“ Außer jetzt gerade, weil mich Liam wirklich extrem nervt.

 

„Doch. Und obendrein verlässt du dich drauf, dass dir schon nichts passiert, weil alle vor deinem Dad kuschen. Aber du bist Teil von Five2Seven. Also mach, verdammt noch mal, deinen Job.“

 

Ich springe so ruckartig auf, dass der Klavierhocker krachend umfällt. Vermutlich ist es Glück, dass Liam noch weit genug von mir entfernt steht, sonst wäre ich ihm jetzt an die Gurgel gegangen. So reicht der Abstand immerhin, um mich zumindest in dieser Hinsicht zur Vernunft kommen zu lassen, und ich remple Liam nur grob an der Schulter an, als ich an ihm vorbei auf die Tür zustürze.

 

„Du kannst mich mal!“

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