Kristina
Das Whiteboard in Piets Büro erleuchtet den Raum und offenbart eine Deutschlandkarte, auf der überall rote Pins stecken, die die Standorte unserer anstehenden Clubtour markieren.
„Krass, doch so viele Gigs“, entfährt es mir.
„Zwölf Konzerte. Dazu kommen dann im Sommer die Festivals.“ Piet tippt auf sein Tablet und auf der Landkarte tauchen fünf weitere Pins auf, diesmal in blau.
Ich schließe die Hände um meine Tasse, aus der mir der Dampf von grünem Tee heiß in die Nase steigt. Das beruhigt. Denn obwohl Konzerte inzwischen zu unserem Leben dazugehören und ich es liebe, vor Publikum zu spielen, flattern bei der Ankündigung der neuen Tour nervöse Schmetterlinge in mir auf. Dabei weiß ich seit Monaten, dass vor der eigentlichen Tour im Herbst, die Clubkonzerte anstehen. Zumindest theoretisch.
Praktisch habe ich die Live-Auftritte über die Studioarbeit erfolgreich verdrängt.
Bamberg, Dessau, Heidenheim, Gießen, Stralsund, Wilhelmshaven, Paderborn, Wismar, Neubrandenburg, Eisenach, Kempten, Husum.
Gedanklich ziehe ich Linien zwischen den Städten, bis sich ein bizarres Netz vor meinem inneren Auge ausbreitet und ich nicht mehr sicher bin, welche Orte ich schon angepeilt hatte, und welche nicht.
„Die Clubs haben Kapazitäten zwischen 800 und 1200 Plätzen, also schön intim, bevor es dann auf den Festivals und im Herbst bei den Hallenkonzerten richtig groß wird“, referiert Piet weiter.
Joshie trommelt neben mir mit den Zeigefingern auf die Tischkante. „Das wird so geil!“
Auch in Bens und Freddys Augen leuchtet es, untermalt von einem breiten Grinsen. Ich ahne, sie können es kaum erwarten, wieder auf der Bühne zu stehen, und suche in mir nach der gleichen Sehnsucht. Diese große Erwartung, das Kribbeln unter der Haut, weil im Saal ein Publikum nach uns ruft, rhythmisch klatscht, und wir alle wissen: Gleich geht es los.
Ich fühle nichts davon. Stattdessen kriecht ein kalter Schauer meinen Nacken herauf. Es ist nicht nur die Clubtour, die Piet uns zusammen mit Johnny in den schönsten Farben ausmalt. Zwischen den Gigs liegen noch das Covershooting für das neue Album, Pressetermine, Auftritte in Fernsehsendungen und Onlineformaten … ach ja, und die Postproduktion unseres neuen Albums. Die Konzerte in Wilhelmshaven und Paderborn fallen genau in die Woche, die Martin für das Mastering angesetzt hat. Ob ich es zwischendurch wohl nach Hamburg schaffe? Wenigstens für einen Tag?
„Wir müssen die neuen Songs nochmal proben, in den letzten Wochen haben wir immer nur unsere Parts eingespielt“, sagt Ben.
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Bei ihm steckt die Perfektion vor der Freude. Nicht so für Freddy. „Ey, wer übt, ist feige“, sagt er und stößt Ben lachend in die Seite.
„Sagt ausgerechnet Mr Ich bin besser als du.“
Joshie sinkt auf ihrem Platz seufzend ein Stück in sich zusammen. „Jetzt geht das schon wieder los.“
„Ihr habt die nächsten paar Tage genug Zeit dafür“, versichert Piet und unterbindet damit die kindische Diskussion zwischen unseren Sängern und Gitarristen. Sollte er allerdings gehofft haben, nun nach seinem Plan weitermachen zu können, hat er sich getäuscht.
Meine beste Freundin sieht Johnny prüfend an. „Hast du den Clubs den angepassten Stage Rider geschickt? Ich hab keine Lust, wieder ohne Podest spielen zu müssen.“
Johnny beißt sich auf die Lippen und rückt sein Basecap von links nach rechts. „Ach so, das haben wir uns für diese Tour anders gedacht. Du spielst von unter der Bühne.“
„Was? Du …“
Johnny stöhnt und grinst dann breit. „Natürlich haben die Clubs den Rider, Joshie. Ich mach das nicht zum ersten Mal.“
„Ich will nur nicht, dass es so wird wie in Flensburg.“ Joshie zieht eine Schnute.
„Wird es nicht, und auch da war es nicht meine Schuld.“
„Alternativ bekommst du einen höheren Hocker“, schlägt Ben vor.
„Leute, ich kann euch auch ein paar Gigs auf Kindergartenfesten organisieren. Da ist alles ebenerdig“, ruft Piet dazwischen.
„Aber …“
Ich schiebe Joshie ein Stück Schokolade in den Mund, sodass sie nicht weitersprechen kann. „Wir haben deinen Punkt verstanden.“
Kurz sieht Johnny so aus, als wollte er noch einen Spruch nachschieben wollen, um unsere Drummerin zu triezen, lässt es dann aber nach einem weiteren strengen Blick von Piet bleiben. Er ist Profi genug, um alles dafür zu tun, dass sich Joshies Flensburg-Trauma, wie wir es bandintern liebevoll nennen, nicht wiederholt. Dabei war es damals kein schlechtes Konzert, auch wenn Joshies Drums auf gleicher Ebene wie wir aufgebaut werden mussten, weil nicht genug Bühnenelemente vorhanden waren.
Piet geht mit uns noch die anstehenden Auftritte und Interviews durch, erklärt uns, was wie wichtig ist, wobei er vor uns auf und ab läuft und mit den Händen die Bedeutung der jeweiligen Hosts oder Magazine unterstreicht. Schließlich bleibt er stehen und schlägt die Hände vor dem Bauch zusammen.
„Das wird richtig gut. Ich freu mich.“
In seinem Hoodie, den blonden Locken, die schon etwas aus ihrer Frisur herausgewachsen sind und der eckigen schwarzen Brille sieht Piet in diesem Moment eher aus, wie ein Student, der im Co-Working-Space gerade seine Firma für irgendein nerdiges Produkt gegründet hat und es nun begeistert potentiellen Förderern präsentiert. Den zielstrebigen, und im Ernstfall knallharten Manager würde jemand Außenstehendes nicht in ihm vermuten. Aber wir wissen es besser, und lieben Piet genau dafür. Ich fange Joshies und Freddys Blicke, erwidere ihr Grinsen. Die Schmetterlinge flattern schneller als noch vor einer halben Stunde.
„Wir freuen uns auch“, sagt Freddy. „Danke, Piet.“
Unser Manager senkt bescheiden die Lider. „Klar. Bleibt nur noch eins.“ Seine Miene wechselt innerhalb eines Wimpernschlags von locker zu streng. „Keine wilden Techno-Partys oder Knochenbrüche vor Tourbeginn. Bleibt gesund und ruht euch noch etwas aus.“
Er bückt sich und wirft jedem von uns blitzschnell je einen Apfel zu, die wir perplex auffangen.
„Die werden aufgegessen. Ihr braucht Vitamine.“
„Geht klar.“ Johnny geht gleich mit gutem Beispiel voran und nimmt einen Bissen von seinem Apfel, wobei ich den starken Verdacht hege, dass es ihm weniger darum geht, Piets Befehl auszuführen. Viel eher weiß er wohl nicht, wohin sonst mit dem Obst.
Ich stecke den Apfel in meinen Rucksack. Später im Studio kann ich ihn mir aufschneiden.
Als ob Piet meine Gedanken gelesen hätte, sieht er mich plötzlich durchdringend an.
„Kris, das gilt auch für dich. Regelmäßige gescheite Mahlzeiten, ausreichend schlafen, entspannen.“
„Ja, ich wollte nur …“
„… noch mal schnell ins Studio, ich weiß. Deshalb sag ich dir das. Du gehst jetzt direkt nach Hause. Martin kommt auch ohne dich zurecht.“
Mir liegt eine Erwiderung auf der Zunge. Ich weiß, dass Martin mich nicht unbedingt braucht, er hat nicht einmal angedeutet, dass es schön wäre, wenn ich ihn unterstützen würde. Aber die Band hat mich zur musikalischen Leiterin gewählt, ich habe all unsere Songs von den ersten groben Entwürfen an begleitet. Ist es nicht legitim, wenn ich auch im Studio bis zum Schluss dabei sein will?
Piet kennt jedoch kein Pardon. Er mustert mich aus schmalen Augen, bis ich mich wortlos geschlagen gebe. Eine Diskussion würde nur dazu führen, dass er mich persönlich zu Hause abliefert. So steige ich wieder zu Ben ins Auto, sobald wir mit den anderen den Probenbeginn für morgen auf 10 Uhr festgesetzt haben.
Noch auf der Treppe nach oben zur Wohnung ziehe ich die Nadeln aus meinen aufgedrehten Haaren. Keine Ahnung, wieso ich sie heute überhaupt hochgesteckt habe. Normalerweise trage ich diese Frisur nur, wenn öffentliche Termine anstehen. Kann es sein, dass ich gedanklich schon wieder im Tourleben bin, und ich mir die Haare automatisch aufgedreht habe? Aber bis zu dem Termin mit Piet heute Nachmittag habe ich doch noch gar keinen Gedanken an die Tour verschwendet, sondern war mit dem neuen Album beschäftigt. Oder? Ich kann es nicht mehr sagen. Aber wer weiß schon immer, woran er den ganzen Tag über gedacht hat? Das ist doch normal und hat bestimmt nichts mit Stress zu tun. Oder?
Mir entfährt ein Seufzer, als ich meinen Rucksack fallen lasse und ein leises Pöck ertönt. Na prima, jetzt hat Piets Apfel wohl eine Druckstelle. Ich bücke mich, nehme Thermoskanne und Apfel aus dem Rucksack und gehe durch die leere Wohnung in die Küche. Die Uhr über der Spüle zeigt 17:20. So früh war ich wohl das letzte Mal zu Schulzeiten zu Hause. Was sollte ich auch zeitiger hier? Allein. Wenn Papa um sechs kommt, ist das früh. Vielleicht hat er noch einen späten Geschäftstermin, oder er verbringt den Abend mit Doro. Wir haben nicht über unser Pläne gesprochen. Ich schlendere ins Wohnzimmer. Seit Jahren bin ich es gewohnt, dass Papa und ich uns irgendwann Freitagsabends in der Wohnung über den Weg laufen, mal früher, mal später.
Doch das Kneifen in meiner Brust angesichts des menschenleeren Wohnzimmers fühle ich heute zum ersten Mal. Mit den Fingerspitzen streife ich über den Lack des Flügels. Nicht wie sonst durchströmt mich Wärme bei der vertrauten Berührung, sondern Kälte.
Ich halte inne, starre auf den Lichtstreifen, den die Sonne aufs Parkett wirft.
Wollte ich deshalb ins Studio?
Nur um nicht allein zu sein? Bleibt Papa deshalb so oft lang weg?
Nein, das war schon immer so. Außerdem ist er nicht mehr allein. Er hat jetzt Doro.
Als eine Träne heiß auf meinen Handrücken tropft, zucke ich zusammen. Ich hebe die Hand, sehe zu, wie die Träne auf mein Handgelenk zu rinnt und sich schließlich als dunkler Fleck in den Saum meines T-Shirts saugt. Ich warte auf weitere Tränen, doch es kommt nichts. Spöttisch auflachend schüttle ich den Kopf. Sogar diese Träne war einsam.
Langsam gehe ich in mein Zimmer, lasse mich auf mein Bett fallen und tu das, was ich in letzter Zeit so häufig tu, wenn ich allein bin.
Noah hat keine neue Story veröffentlicht. Ungewöhnlich. Sein letztes Update im Feed gab es vor zwei Tagen, als er ein Gruppenbild mit Five2Seven gepostet hat. Vier lachende Gesichter. Ich zoome in das Bild rein, um Noah genauer sehen zu können. Profi-Lächeln, gute Laune. Keine Falte zwischen den Augenbrauen. Vielleicht habe ich mich neulich getäuscht. Er scheint den Jetset und die Zeit mit der Band wirklich zu genießen. Ob er noch immer an eine zweite Klavierstunde denkt? Es ist schon ein paar Tage her, dass er geschrieben hat, er wolle sich etwas überlegen.
Einer Eingebung folgend, öffne ich seinen Kalender. Schon irgendwie absurd, dass ich noch immer darauf zugreifen kann. Ist das gewollt? Oder hat Noah einfach vergessen, mir den Zugriff wieder zu entziehen? Angesichts der tausend Termine, die in Noahs Kalender bunt hinterlegt sind, erscheint mir unsere anstehende Clubtour und die dazugehörigen Termine beinahe wie eine Urlaubsreise. Okay, irgendwie wusste ich schon, dass es viele Fernsehshows, Onlinekanäle und so weiter gibt. Aber Five2Seven scheinen wirklich in jedem aufzutreten. Ich wische mit dem Daumen von Tag zu Tag und komme mir ein bisschen mies dabei vor. Doch dann erhascht mein Auge ein Wort. Nur ganz kurz. Aber es bringt mein Herz zum Hüpfen.
Nürnberg.
31.Mai. steht darüber. In meinen Mundwinkeln zuckt es. Wir spielen am 30. Mai in Bamberg. Das wäre doch die Chance.
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