Noah
Ein salzig-herber Geruch kriecht mir in die Nase, noch bevor ich den Vorhang vor meiner Schlafkoje zur Seite schiebe. Ich drücke mein Gesicht ins Kissen, um dem Geruch zu entfliehen. Wovon habe ich gerade geträumt? Gab es da nicht irgendetwas Schönes, an das ich mich erinnern kann?
Jemand kommt den Gang zwischen den Betten entlang und schafft es, trotz Teppichboden, laut zu trampeln.
„Guten Morgen, aufwachen, es gibt Porridge!“
Andy, dieser Penner! Also, nicht wörtlich, immerhin bin ich es, der noch im Bett liegt. Wie kann mein Bandkollege zu dieser frühen Zeit schon so unfassbar gut gelaunt sein?
Etwa nur, weil es Porridge gibt?
Ich könnte mir kaum etwas Schlimmeres als erste Mahlzeit des Tages vorstellen, allein der Geruch provoziert den Würgreiz. Doch Andy, charmant und völlig unaufdringlich (nicht) wie eh und je, lugt durch den Vorhang meiner Koje und grinst mich an.
„Ey, ich hätte nackt sein können.“
Andy hebt skeptisch eine Augenbrau und lacht spöttisch. „Ja, klar. Jetzt steh schon auf. Liam macht den besten Porridge der Welt.“
Und wenn es der beste Porridge des Universums wäre, er könnte mich nicht weniger locken. Allerdings kann ich das sanfte Grummeln in meinem Magen nicht ignorieren. Ich brauche Frühstück. Also stehe ich auf und schiebe mich an dem immer noch grinsenden Andy vorbei in das kleine Bad unseres Nightliners.
Immerhin ist mein Handy, dessen Akku gestern Abend gestorben ist, wieder aufgeladen, was mich ein wenig versöhnlich stimmt, während der Geruch von salzigem Porridge noch immer durch den Bus wabert. Ich schalte das Smartphone an und gehe nach vorn in die Küche, wo Scott, Andy und Suma schon am Tisch sitzen und frühstücken, und Liam am Herd steht und voller Hingabe in einem Topf rührt. Meine Güte, will er unsere gesamte Crew mit Porridge versorgen?
Andy und Scott löffeln mit beinahe seligem Lächeln Porridge mit Obst aus ihren Schälchen und sehen aus, als hätten sie ein exklusives Sternemenü vor sich.
„Oh Mann, Liam, das Zeug ist so gut. Wo lernt man, so guten Porridge zu machen?“, fragt Scott, den gefüllten Löffel vor dem Gesicht balancierend.
„Bei meiner Granny“, sagt Liam und füllt Andy noch eine Portion in das Schälchen, das er ihm entgegenhält. Dabei fällt sein Blick auf mich und er lächelt verhalten. „Hi, Noah. Magst du auch eine Portion?“
Ich bemühe mich, meine Abneigung gegenüber der beigen Pampe in dem Topf nicht allzu deutlich zu zeigen. Die Stimmung zwischen Liam und mir ist seit unserer Auseinandersetzung vor ein paar Tagen angespannt genug, und es wäre unklug, den Bandfrieden noch weiter zu gefährden. Aber Porridge …
„Ich …“
„Wenn du noch länger zögerst, ess ich noch eine Portion“, meint Scott. „Probier’s, ich schwöre dir, du wirst es nicht bereuen.“
Liam hat inzwischen eine Portion für mich in eine Schale gefüllt und mit gerösteten Nüssen und ein paar frischen Beeren garniert. Damit hat er mich, auch wenn ich es ungern zugebe. Frische Erdbeeren, Himbeeren und dazwischen Blaubeeren als Farbklecks sind das Größte.
Liam reicht mir die Schale mit einem viel freundlicheren Lächeln als noch vorhin. „Gib noch ein bisschen Joghurt dazu, dann ist es perfekt.“
„Okay, danke.“ Ich setze mich mit meiner Portion neben Suma, gieße Joghurt in die Schale und muss einen Augenblick später den anderen recht geben. Es schmeckt großartig. Zumindest die Beeren und Nüsse mit dem Joghurt. Von der Konsistenz der Haferflocken bin ich zwar nach wie vor nicht überzeugt, aber in Kombination mit dem Rest sind sie auch nicht so schlimm wie ich befürchtet habe. Mein Handy ist inzwischen auch zum Leben erwacht und flüchtig gebe ich den Freigabecode ein. Prompt blitzen unzählige Benachrichtigungen auf. Das meiste davon ist wahrscheinlich Mist, ich sollte die Funktion endlich ausstellen. Trotzdem öffne ich nacheinander die Apps und gehe die Mitteilungen wie jeden Morgen durch. Es gehört zu meiner Aufwach-Routine. Tragisch, ich weiß, aber … nein, kein aber.
„So, wie lautet die Einschätzung?“
Nur widerwillig wende ich mich Andy zu, der mich schon wieder so herausfordernd angrinst. Er sollte es besser wissen.
„Kaffee“, murmle ich. Warum habe ich mir den nicht schon längst besorgt?
Liam, der noch immer am Herd steht und heute offenbar im Kümmermodus ist, stellt einen Becher unter den Vollautomaten und reicht mir eine halbe Minute später eine dampfende Tasse. Überrascht nehme ich sie an. Man könnte fast meinen, Liam hätte ein schlechtes Gewissen. Dabei war ich es, der ihn angeschnauzt hat. Vermutlich sollte ich …
Hi Noah, wir sind am 30. Mai in Bamberg, das ist nicht weit von Nürnberg. Wann kommt ihr an? Vielleicht schaffen wir eine Unterrichtsstunde? Liebe Grüße, Kristina.
Ich verschlucke mich beinahe an meinem Kaffee und mein Herz schlägt plötzlich so schnell, als hätte ich nicht erst einen Schluck, sondern einen ganzen Liter Koffein intus. Schlagartig bin ich wacher und auch der Geruch der nächsten Portion Porridge, die Liam zusammenrührt, stört mich nicht mehr. Es sollte mich beunruhigen, dass eine Nachricht von Kristina diese Wirkung auf mich hat, aber das Glücksgefühl ist zu betörend, um mir Sorgen zu machen.
Ich wechsle in meinen Kalender und wische, bis ich zum 31. Mai gelange, leider steht nicht mehr drin als unsere Show in Nürnberg. Natürlich, sonst hätte Kristina nicht gefragt. Verdammt, ich muss wissen, wann wir da sind.
„Noch eine gute Stunde“, sagt Scott.
Verwirrt blicke ich auf. „In Nürnberg?“
„Wie kommst du auf Nürnberg? Heute steht Valencia auf dem Programm.“
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich das Missverständnis zwischen unserem Manager und mir verstehe und ich präzisiere meine Frage. Scott greift nach seinem Tablet, das nie weiter als einen Meter von ihm entfernt ist.
„Wir kommen aus Wien. Abfahrt ist für 9:30 Uhr angesetzt, Ankunft also vermutlich gegen 16 Uhr“, referiert er, und mir sinkt der Mut. Wenn wir erst nachmittags in Deutschland sind, bleibt nicht genug Zeit für Klavierunterricht, ehe wir uns fürs Konzert bereitmachen müssen. Vor allem, wenn Kristina selbst am Abend in Dessau sein muss. Wieso kenne ich eigentlich ihren Tourplan? Meiner ist doch voll genug?
„Können wir irgendwie früher losfahren?“
Nun ist es Scott, der sich am Kaffee verschluckt und Andy fällt beinahe der Porridge aus dem Mund, so fassungslos starrt er mich an.
„Was?“, keucht Scott. „Ausgerechnet du willst früher aufstehen?“
„Meine Klavierlehrerin ist am Tag vorher in Bamberg, aber sie muss am 31. abends in Dessau sein“, erkläre ich und merke, wie merkwürdig das klingt. Meine Klavierlehrerin. Da denkt doch jeder an eine mittelalte Frau mit Bleistiftrock, Bluse und strengem grauen Haarknoten. Dabei ist Kristina das krasse Gegenteil. Zum Glück weiß das außer Scott niemand hier in dieser Runde, sonst würden zumindest Andys und Sumas Blicke ganz anders ausfallen. Nicht so desinteressiert. Aber das ist mir nur recht. Ich würde das mit Kristina gern für mich behalten.
Das mit Kristina, mischt sich eine innere Stimme spöttisch in meine Gedanken ein. Was ist denn das, bitte?
Wenn ich das nur wüsste. Außer einem Kuss und einer etwas verkrampften Klavierstunde ist bislang nichts passiert.
Und es wäre sinnvoll, wenn das so bliebe, sagt die Stimme der Vernunft.
Wäre es. Aber ich will es anders. Ich will wenigstens herausfinden, ob Kristina unseren Kuss genauso wenig vergessen kann, wie ich.
Und dann?
Weitersehen.
„Du könntest morgens fliegen, dann hättest du ein paar Stunden bis zum Meet and Greet vor dem Konzert“, sagt Scott.
„Gibt es im Hotel ein Klavier?“ Dass wir uns in Hamburg im Studio treffen konnten, war Glück. In Nürnberg wird diese Möglichkeit nicht bestehen, da bin ich leider sicher.
„Ich kümmere mich drum“, verspricht Scott und hat beinahe im gleichen Augenblick sein Handy in der Hand. Erst als er damit in den zweiten Stock unseres Nightliners verschwindet, fällt mir ein, dass ich einen Punkt nicht bedacht habe. Jayden. Wenn ich ohne die anderen von Wien nach Nürnberg fliege, wird Jayden mich begleiten müssen, wie schon nach Hamburg. Aber so gern ich ihn habe, wenn ich herausfinden will, ob zwischen Kristina und mir mehr ist, kann ich es nicht gebrauchen, dass er jeden Moment ins Zimmer platzen könnte.
„Du nimmst das echt ernst mit dem Klavierunterricht, oder?“ Liam hat sich endlich zu uns gesetzt und lehnt sich, die Schale mit dem Porridge auf den übergeschlagenen Knien, in die Polster der Couch.
„Klar. Du hast doch selbst gesagt, ich soll mehr Einsatz zeigen.“ Ich grinse ihn an und hoffe, dass wirklich keine Spur von Vorwurf in meiner Stimme liegt. Trotzdem senkt Liam den Kopf, wobei seine Locken ihm in die Stirn fallen.
„Sorry, ich hab das nicht so gemeint.“
Doch, hast du, denke ich. Und vielleicht hatte er sogar recht. Aber es ist unnötig, diese Diskussion wieder aufzuwärmen. Es ist ein Job, und wenn ich besser darin werden kann, werde ich es tun. Das ist es doch, was alle von mir verlangen. Dad, Scott, Liam. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich begonnen habe, Rollen zu spielen. Die des niedlichen jüngsten Sohns, die des charmanten, etwas draufgängerischen Sohns, die des Mädchenschwarms. Vielleicht bin ich eigentlich Schauspieler und gar kein Sänger. Aber sei es drum. Ich kann die Rollen bedienen, und wenn ich eine oder jeder dieser Rollen spielen muss, um Kristina wiedersehen zu können, ist es mir das wert.
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