Kapitel 20 - Mittsommernachtsalptraum

Noah

Kaum hat Dads Fahrer Vincent das Auto vor unserer Villa geparkt, fliegt die Haustür auf und Marble stürmt heraus. Sie fällt mir um den Hals, drückt mich lang und fest und presst dabei ihren Kopf gegen meine Brust.

„Enlich bis du da.“

Ja, endlich bin ich da. Zumindest für diesen Moment kann ich meiner Zwillingsschwester nur zustimmen. Was sie angeht, unterschreibe ich das endlich zu hundert Prozent, auch wenn mit jeder Flugmeile der Unwillen gegen mein Ziel gewachsen ist. Ich habe nicht die geringste Lust auf die Dreharbeiten von Dads bescheuerter Reality-Soap.

Aber Marbles innige Begrüßung versöhnt mich mit meinem Schicksal. Bei ihr bin ich zu Hause. 

Beide Arme eng um sie geschlungen, ziehe ich sie ebenfalls fest an mich. „Ich hab dich so vermisst.“

 

„Un ich ers.“ Marble hebt den Kopf und sieht grinsend zu mir auf. Dann zieht sie mich mit sich zur Villa.

 

„Komm, ich hab ne Überraschung.“

 

Es ist schon kurz vor Mitternacht, weshalb es mich nicht überrascht, dass der Großteil des Hauses schon im Dunkeln liegt. Dan und Lizzy sind vermutlich schon im Bett, oder kommen sie womöglich erst morgen früh an? Ich weiß es nicht, ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal persönlich von einem der beiden etwas gehört habe. Nicht, dass ich mich bei ihnen gemeldet hätte …

 

„Noah, da bist du ja.“ Dad tritt aus dem Halbdunkel des Salons und klopft mir zweimal auf den Oberarm. Es fühlt sich so anders an als Marbles Begrüßung. Kein Hinweis darauf, ob er sich freut, mehr ein Zeichen dafür, dass er meine Anwesenheit registriert hat.

 

Natürlich bin ich hier, du hast mich ja einbestellt, denke ich bitter. „Hi, Dad“, sage ich und zwinge mich zu einem höflichen Tonfall. Ich spiele meine Rolle des charmanten Sohnes, sie ist gar nicht so weit weg von der des Mädchenschwarms, der alle um den Finger wickelt. Lächeln, nicken, hin und wieder witzig sein, und das tun, was von mir erwartet wird.

 

„Macht nicht so lang, wir fangen morgen früh an.“  

 

Wenn mich der Business-Tonfall meines Vaters nicht so ärgern würde, könnte ich darüber lachen, dass er uns ins Bett schicken will, obwohl wir zweiundzwanzig Jahre alt sind. Selbst als wir noch klein waren, war es höchstens Mum, die uns ins Bett gebracht hat, meistens jedoch unsere Nanny.

 

„Ja ja“, sagt Marble gedehnt und ich wende mich rasch ab, um das Grinsen zu verbergen, das über mein Gesicht huscht und Dad garantiert nicht gefallen würde.

 

Die ganze Zeit über hält Marble meine Hand, erst als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnet, lässt sie los.

 

„Tadaa“, ruft sie und reckt die Arme in präsentierender Geste in die Luft.

 

Ein vertrauter und absolut großartiger Geruch kriecht in meine Nase. Bratfett, Fisch und eine leichte Säure.

„Sag bloß, du hast Fish‘n Chips besorgt.“

 

Marble grinst. „Klar.“ Sie geht zu der kleinen Sitzecke auf der rechten Seite ihres Zimmer und zieht zwei weiße Styroporboxen aus einer Plastiktüte. Eine Box in den Händen haltend lässt sie sich auf die kleine Couch fallen und schlägt ein Bein elegant über das andere.

 

„Jetz‘ komm schon. Kalt schmeckt’s scheiße.“

 

Wo sie recht hat, hat sie recht. Mit zwei großen Schritten bin ich bei ihr, stürze mich förmlich auf die zweite Styroporbox und sauge gierig den Duft meines Lieblingsessens ein. Mum und Lizzy würden die Krise bekommen, wenn sie wüssten, dass Marble und ich um diese Uhrzeit noch Fastfood in uns reinstopfen. Dass wir überhaupt Fastfood anrühren. Aber Marble wäre nicht Marble, wenn sie das jucken würde. Und hier neben meiner Schwester juckt es mich auch nicht.

 

Mir entfährt ein genüssliches Stöhnen, als ich mir eine in Malzessig getauchte Kartoffelspalte in den Mund schiebe. „Du bist die Beste.“

 

„Ich weiß“, erwidert Marble, lehnt sich an meine Schulter und wedelt lässig mit dem Löffel, auf dem noch ein Rest Erbsenpüree klebt.

 

Wärme durchflutet mich, die ich schon lang nicht mehr verspürt habe, und die nichts mit dem warmen Fisch zu tun hat, der nun langsam meine Speiseröhre hinabwandert. Es ist schon okay, im Tourbus oder im Privatjet durch die Welt zu reisen, und seit sich die Wogen zwischen Liam und mir geglättet haben, fühle ich mich mit den Jungs auch wieder wohler. Aber hier auf dem Sofa zu lümmeln, neben Marble, die aus Freude über unser Wiedersehen mein Lieblingsessen besorgt hat, ist durch nichts zu schlagen.

 

„Erzähl, wie is es auf Tour?“

 

Die letzte Kartoffelspalte rutscht mir nur schwer hinunter und der Essig daran stößt mir sauer auf. Ich wünschte, Marble würde dieses Thema aussparen, dabei weiß ich genau, wie sehr es sie interessiert. Beinahe täglich löchert sie mich mit Fragen. Doch im Gegensatz zu ihren Nachrichten kann ich ihr hier nicht ausweichen.

 

„Anstrengend. Jeden Tag Interviews, Konzerte, zwischendurch Tanztraining …“

 

„Sex mit Groupies.“

 

Ich verschlucke mich an meinem eigenen Atem und huste heftig. Marble schlägt mir auf den Rücken.

„Wie kommst du darauf?“, frage ich, sobald ich wieder Luft bekomme.

 

Marbles große, mandelförmige Augen blitzen, ihr Grinsen zieht sich fast über das ganze Gesicht. „Hab ich nich recht?“

 

Kristina. Ich zucke zusammen. Verdammt, wieso fällt ausgerechnet sie mir jetzt ein? Sie ist kein Groupie. Und außerdem hatten wir keinen Sex. Bleibt nur noch die Sache mit Angela in Italien vor ein paar Wochen. Aber auch das war kein richtiger Sex.

 

„Nein“, widerspreche ich Marble. „Das ist nur ein Klischee aus Filmen. Glaub nicht so einen Bullshit.“

 

„Du nimms mich ja nich mit und zeigs mir, wie’s wirklich is“, erwidert sie. Das Grinsen ist verschwunden, stattdessen schiebt sie schmollend die Unterlippe vor.

 

„Ach, Marble.“ Ich will meinen Arm um sie legen, aber sie dreht sich weg, was mehr schmerzt als Dads unpersönliche Begrüßung vorhin. Ich hasse es, dass dieses leidige Thema zwischen uns steht. Für Marble sind Bühne und Showbusiness eine einzige wunderbar glitzernde Zauberwelt. Sie liebt es, sich zu schminken, zu verkleiden und in die verrücktesten Rollen zu schlüpfen, und nur ein Ignorant könnte ihr unfassbares Talent leugnen. Wenn Mum und Dad sie lassen würden, könnte sie schon längst ihre ersten Filmrollen gespielt oder Modekollektionen präsentiert haben.

 

„Ich bin nich blöd. Ich kann das“, murmelt sie, die Arme vor der Brust verschränkt.

 

„Ich weiß“, sage ich leise. Schließlich schickt sie mir regelmäßig Fotos und Videos.

 

„Gar nich“, behauptet sie. „Guck.“

 

Sie steht auf, löst die Klammer aus ihrem hochgesteckten Haar und lässt es in einer schwungvollen Bewegung um ihren Kopf fliegen. Ihre Augen blitzen verführerisch, das angedeutete Lächeln ist fast schon lasziv, besser als in jeder Shampoo-Werbung, und in ihrer Miene ist nichts davon zu sehen, wie beleidigt sie eigentlich ist.

 

Marble stellt sich vor den Ganzkörperspiegel neben ihrem Bett, den Rücken mir zugewandt, greift nach einem Lippenstift auf ihrem Nachttisch und zieht sich die Lippen nach. Als sie sich umdreht, und auf ihren dünnen Absätzen über den Teppich stolziert, ohne auch nur im Mindesten zu wanken, stockt mir der Atem. Sie hat recht, ich hatte keine Ahnung, wie gut sie ist. Die Körperhaltung aufrecht, der Blick geradeaus, der Hüftschwung bei der Wendung perfekt.

 

Obwohl ihre Figur leicht gedrungen und ihr Schritt etwas stampfender ist als Lizzys, steht sie unserer großen Schwester in nichts nach. Nichts, was Mums und Dads Entscheidung, ihr keine Karriere zu erlauben, rechtfertigen würde. Nur diese zufällige Chromosomenanomalie, die Marble unfreiwillig zum Sonderling macht. Zumindest für andere. Für mich ist sie einfach nur Marble. Meine perfekte kleine große Schwester.

 

„Wow“, bringe ich heiser hervor, als sie vor mir posiert, mal mit ernster Miene, mal sanft lächelnd, und jedes Mal wunderschön. Wenn sie nicht meine Schwester wäre, würde ich voll auf sie abfahren. „Du hast es echt drauf.“

 

„Sag ich ja.“ Die gute Laune kehrt in ihre Stimme zurück. Ich will, dass sie bleibt, aber ich weiß nicht, wie ich Marble bestärken soll, ohne zu lügen. Unsere Eltern haben sie stets aus den Medien ferngehalten. Dass sie dieses Jahr den Osterhasen spielen durfte und morgen den Puck geben darf, grenzt an ein Wunder. Aber vielleicht kann daraus doch mehr werden? Ich würde Marble den Druck, der hinter all dem schönen Schein steht, gern ersparen, will sie vor blöden Kommentaren schützen. Nur scheint meine Schwester viel mehr Bock auf diesen ganzen Zirkus zu haben als ich, und sie performt ohne Zweifel besser.

 

„Ich rede mit Dad, okay?“

 

Zum zweiten Mal in dieser Nacht fliegt Marble mir um den Hals. „Danke, Noah.“

 

Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange und legt ihren Kopf wieder auf meiner Schulter ab. In ihrer Stimme liegt mehr Hoffnung als ich mir selbst mache, aber sie muss reichen. Für Marble werde ich morgen mein Bestes geben, um Dad milde zu stimmen. Vielleicht hört er mir dann tatsächlich zu.

 

Es kostet mich sämtliche Überwindung und Konzentration, am nächsten Tag mein Bestes zu geben.

 

Bereits um sieben Uhr sitzen wir auf der Terrasse am Frühstückstisch und plaudern drehbuchgetreu über belanglosen Mist, während das Kamerateam um uns herumsteht.

 

Wehe, es landet auch nur ein Take, wie ich mir meinen Buttertoast in den Mund schiebe, im finalen Cut!

 

Lizzy und Dan tun so, als wären die Kameras gar nicht da, obendrein sehen beide auch noch aus wie das blühende Leben. Ein privates Wort habe ich mit den beiden noch nicht gewechselt. Nur ein von den Kameras festgehaltenes Guten Morgen, Reichst du mir den Toast und Milch?

 

Marble steckt im Gegensatz zu uns schon im Kostüm, einem enganliegenden grünen Anzug mit petrol- und goldfarbenem Blattmuster, das sich in ihrem geschminkten Gesicht und in einer aufwändigen Krone fortsetzt. Sie huscht immer wieder hinter uns her, mal stibitzt ihre Hand ein Stück Obst vom Tisch, mal wedelt sie hinter Dans Rücken mit einer orangeroten Stoffblume.

 

„Ach Kinder, heute ist Mittsommer“, ruft Mum plötzlich, als sei es ihr tatsächlich erst eben eingefallen.

 

„Der längste Tag“, sagt Lizzy.

 

„Und eine kurze, dafür umso magischere Nacht“, fügt Dad geheimnisvoll lächelnd hinzu und gibt Mum einen Kuss, der bei den Zuschauern später genug Kopfkino auslösen kann, um sich die magische Nacht in den schönsten Farben ausmalen zu können.

 

Ich schiebe mir das letzte Stück Toast in den Mund, um mich nicht mit diesem Kopfkino beschäftigen zu müssen.

 

„Lasst uns diesen Tag und die Nacht feiern“, sagt Mum.

 

„Jaaa“, rufen wir im Chor und springen von unseren Plätzen auf.

 

Die Kameras folgen unseren Schritten nach drinnen, doch Dad ruft uns zurück, um die Szene noch einmal zu drehen. Geübt lächelnd, das Augenrollen verkneifend, setze ich mich wieder und greife nach einer neuen Scheibe Toast.

 

Sobald die Frühstücksszene abgedreht ist, geht der Wahnsinn erst richtig los. Mum rührt in der Küche ihre beliebte Bowle zusammen und verrät ihr Geheimrezept in die laufende Kamera. Dad macht ein paar Fake-Telefonate, um ein paar Überraschungen für den Abend zu organisieren, während Lizzy, Dan und ich uns im Garten um den Aufbau für eine magische Mittsommernachtsparty kümmern. Marble springt, nach wie vor als Puck verkleidet, immer wieder ins Bild und versprüht etwas magischen Glitzer aus ihrer Stoffblume, jedenfalls wird es später so aussehen.

 

Zwischendurch werden wir nacheinander in unterschiedlichen Ecken unsere Villa zu Einzelinterviews gebeten, um kurze Statements über uns und die Besonderheit dieses Festes abzugeben.

 

„Ich liebe es, zu dekorieren“, zwitschert meine Schwester, die auf der Holzbank unter der großen Linde sitzt, wobei faktisch Dan und ich es sind, die die Kette mit Lampions aufhängen. Die Kamera schwenkt zu uns rüber und mein Bruder und ich winken übertrieben lächelnd.

 

Ich mach das nur für Marble, sage ich mir immer und immer wieder, während Lizzy Einrichtungstipps in die Kamera spricht.

 

Die Girlande hängt, Marble kommt vorbeigehopst und vollzieht eine Drehung mit der Blume. Bevor sie davoneilt, lächelt sie mir zu. Ich bin mir nicht sicher, ob das im Drehbuch steht, aber so oder so, es hebt meine Stimmung.

 

So sehr, dass ich eine halbe Stunde später in meinem Einzelinterview, ohne mit der Wimper zu zucken, behaupten kann, wie schön es ist, durch so besondere Events wie heute meine Familie wiederzusehen. Dabei sind wir während des Drehs selten alle am gleichen Ort. Aber Dad und das Produktionsteam sind Profis, am Ende wird alles so aussehen, als würde hier alles in schönster Harmonie ablaufen.

 

Als ich am Nachmittag mein Kostüm für den Abend erhalte, kann ich mein professionell unbeschwertes Lächeln jedoch nur mit Mühe aufrechthalten.

 

Wieso müssen wir elisabethianische Mode tragen?

 

Wenn ich mich recht erinnere, spielt Shakespeares Sommernachtstraum im alten Athen. Ob eine Tunika mich besser kleiden würde, weiß ich nicht. Das Hemd mit den weiten Puffärmeln, die Halskrause mit Rüschen und die engen Strumpfhosen unter der Samtpluderhose werden mich allerdings garantiert zum Gespött meiner Bandkollegen und der sozialen Medien machen. Selbst Marble kann sich ein Kichern nicht verkneifen, als sie meine Verwandlung mit einem Wink der orangeroten Stoffblume vollzieht. Ganz toll.

 

Es hilft wenig, dass Dan mindestens genauso bescheuert aussieht, wie ich mich fühle. Über seiner linken Schulter hängt noch ein hüftlanger Umhang. Er streicht sich über seinen nicht vorhandenen Bart und spitzt die Lippen.

 

„Ihr, die ihr nicht nach Aussehn wählt / Wagt und wählt, was wahrhaft zählt“, deklamiert er. Wahrscheinlich ist es irgendein Shakespeare-Zitat, auch wenn ich es keinem Stück zuordnen kann. Dan ist in der Theaterwelt besser bewandert als ich.

 

Trotzdem kontere ich mit dem einzigen Vers, der mir aus meiner Schulzeit aus Hamlet im Gedächtnis geblieben ist. „Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode.“

 

Dan grinst und für einen Moment spüre ich eine seltene Einigkeit zwischen uns. Vielleicht werden meinem großen Bruder Dads Drehpläne mittlerweile auch zu viel? Ehe ich dem auf dem Grund gehen kann, werden wir jedoch nach unten in die inzwischen ebenfalls geschmückte Eingangshalle gerufen.

 

Mum und Lizzy haben es bei der Kostümwahl eindeutig besser getroffen. In den aufwändigen Kleidern mit weiten Röcken und schmalen Taillen und den extravaganten Frisuren würden sie auf einem Familienbild mit Elizabeht I. gar nicht auffallen. Ob diese Klamotten bequem sind, steht hingegen auf einem anderen Blatt. Mum klingt etwas atemlos, als sie über etwas lacht, das Dad ihr ins Ohr flüstert. Er sieht fast aus wie Shakespeare persönlich.

 

„So, als nächstes, Begrüßung der Gäste, kurzer Smalltalk, dann geht’s rüber in den Garten“, erklärt er die nächste Szene.

 

Die Gäste. Unter meiner Halskrause läuft es mir abwechselnd heiß und kalt den Nacken hinunter. Bislang habe ich die bevorstehende Szene mit Fiona ausblenden können, jetzt wird es langsam ernst.

 

Wir müssen die Szene dreimal drehen, da wir beim ersten Mal alle über die Kostüme der anderen lachen müssen, und beim zweiten Mal immer noch amüsiert über die Lachanfälle unsere Texte nicht auf die Reihe bekommen. Überdies hat das Kamerateam Schwierigkeiten, zwischen uns hindurchzukommen. Mit zwölf Personen in ausladenden Kleidern ist selbst der großzügige Eingangsbereich unserer Villa plötzlich recht eng.

 

Dad klatscht in die Hände und breitet die Arme zu einer einladenden Geste aus. „Die Stunde des Mahles hat geschlagen, und köstliche Speisen harren darauf, euren Gaumen zu entzücken. So kommet eilends, lasset nicht träge sein, denn die Tafelfreuden dulden keinen säumigen Gast! Auf, auf, und lasst uns speisen, eh der Tag sich neiget!“

 

„Cut! Perfekt!“

 

„Das war jetzt aber kein Shakespeare-Zitat, oder?“

 

Ich zucke zusammen, als die Stimme leise neben meinem Ohr erklingt. Ausgerechnet Allison macht sich neben mir auf den Weg in den Garten. Der blumige Duft, der sie umhüllt, betört mich mehr als er sollte.

 

„Keine Ahnung. Das musst du Dan fragen“, gebe ich mich so unbekümmert wie möglich und kratze mich unter der Halskrause. Mistding.

 

„Ich fand es übrigens sehr anständig von dir, dass du Fiona gefragt hast, ob sie mit eurer Szene einverstanden ist“, sagt Allison, während sie neben mir her schreitet.

 

Fiona hat ihr davon erzählt? Das überrascht mich nun doch, ihre Nachricht klang so gleichgültig. Aber vielleicht ist sie genauso gut darin, eine Rolle zu spielen, wie ich.

 

„Klar. Ich würde nichts tun, was sie nicht will.“

 

„Ich weiß.“ Allisons grüner Blick ruht länger als notwendig auf mir. Kommt es mir nur so vor, oder liegt tatsächlich ein Schatten darüber? Zum zweiten Mal heute bekomme ich nicht die Gelegenheit, weiter nachzuforschen, denn wir nehmen an der Tafel im Garten unsere Plätze ein, ich direkt gegenüber von Fiona.

 

„Hi.“ Sie lächelt fast schüchtern.

 

„Hi. Alles klar?“

 

Fiona nickt. Ihr braunes Haar ist kunstvoll um ihren Kopf geflochten, das Kleid mit dem aufgestickten Rankenmuster im Dekolleté weit ausgeschnitten, sodass es ihre blasse, makellose Haut entblößt. Sie ist nach objektiven Standards hübsch, vermutlich ist sie sogar nett, auch wenn ich das nicht herausfinden kann, da sie schweigend zu essen beginnt. Trotzdem könnte sie mich nicht weniger interessieren. Was beabsichtigt Dad also mit der geplanten Liebesszene zwischen uns?

 

Auf der kleinen Bühne, die neben der Terrasse aufgebaut wurde, stehen die Musiker und untermahlen unser Abendessen mit Charthits, die auf Laute und Flöte gespielt ziemlich seltsam klingen.  Es wird nicht besser, als Mike Sanders, Dads ehemaliger Musikerkollege, nach dem dritten Glas Bowle einem der Musiker die Laute abnimmt und etwas unbeholfen Dads Hit Falling for you darauf zupft. Mum und Dad, sowie unsere Gäste, sind hingegen begeistert, vermutlich werden auch die Zuschaue es lieben.

 

Ich bediene mich gerade ein weiteres Mal an dem Braten, als eine grüne Hand ein Blütenblatt auf meinen Teller legt. Marble streichelt mir zwar noch sanft über den Rücken, trotzdem verknotet sich mein Magen und mir vergeht augenblicklich der Appetit. Das Blütenblatt ist mein Einsatz. Ab jetzt muss ich Fiona verklärt anlächeln.

Auch auf ihrem Teller liegt ein Blütenblatt und sie sieht zu mir herüber, wenn ihr Blick auch irgendwie weggetreten wirkt.

 

Sie steht auf, schreitet durch den Garten und betritt schließlich den Pavillon, den das Team im hinteren Teil unseres Grundstücks aufgebaut hat. Das kann ich von meinem Platz aus nicht sehen, aber so steht es im Drehbuch. Genauso wie, dass ich mich ebenfalls von meinem Platz erhebe und wie verzaubert nachlaufe.

 

Nur für Marble, rufe ich mir mein Tagesmantra wieder ins Gedächtnis. Die Kamera verfolgt mich auf meinem Weg durch den dämmerigen Garten, entlang der Fackeln, die mystisch den Weg erleuchten. Also, nicht wirklich, es steht genug künstliches Licht hier rum.

 

Als ich den Pavillon betrete, sitzt Fiona dort auf einer Bank und dreht eine Blume zwischen den Fingern. Ihre Haltung ist gebeugt und auf ihren nackten Schultern zeichnet sich eine Gänsehaut ab. Wie automatisch greife ich nach der Decke, die über einem Stuhl liegt. Nein, was für ein Zufall!

 

„Darf ich?“ Mit der Decke in den Händen mache ich einen vorsichtigen Schritt auf Fiona zu, die den Kopf hebt und mich auf einmal so glasig-traurig ansieht, dass ich nicht sicher bin, ob sie tatsächlich nur spielt. Ich lege ihr die Decke um die Schultern und versuche ihr mit meinem Blick zu verstehen zu geben, dass wir das hier nicht tun müssen. Sagen kann ich es nicht, denn das Kamerateam steht direkt neben uns, und ich weiß, dass Dad sich jeden einzelnen Take ansehen wird. Aber entweder versteht Fiona mich nicht, oder sie spielt wirklich nur.

 

„Ich hatte gehofft, in dieser magischen Nacht würden sich die Tore zur Anderswelt öffnen“, sagt sie leise.

 

„Magie und Mythen, Leidenschaft und Liebe gibt es dort im Überfluss, heißt es.“

 

Ich schlucke. Diese Sätze stehen nicht im Drehbuch, und auch, wenn sie ins Setting passen, gefällt mir die Richtung, die das Ganze einschlägt, überhaupt nicht. Fionas Blick ist noch immer glasig. Scheiße, sie hat doch hoffentlich nichts eingeworfen?

 

„Es ist noch zu früh für die Öffnung der Tore“, bringe ich hervor. „Warte bis zur Dunkelheit.“ Oh Mann, ich wusste nicht, dass ich so einen Stuss von mir geben kann.

 

Fiona greift nach meiner Hand. „Wirst du so lang bei mir bleiben?“

 

Nein, ganz bestimmt nicht. „Natürlich.“

 

Ich lächle sie an, so wie ich sonst die Fans ansehe, wenn sie mich um Autogramme und Fotos bitten. Nett sein, lächeln, Foto machen, weitergehen. Hier ist es nicht anders. Ich halte Fionas Hand und warte darauf, dass jemand Cut ruft. Aber es kommt nicht.

 

Stattdessen streckt Fiona plötzlich ihre freie Hand nach meinem Kinn aus, dreht meinen Kopf zu sich, und drückt ihre Lippen auf meine. Nicht kurz und sanft, sondern fest und fordernd. Ihre Zunge drückt gegen meinen Mund. Ich bin so perplex, dass ich ihn dummerweise öffne.

 

„Cut! Das war super, ihr zwei.“

 

Der Ruf des Regieassistenten weckt mich aus meiner Starre und endlich schaffe ich es, mich von Fiona zu lösen.

 

„Was sollte das?“, zische ich.

 

Scheiß drauf, dass der Kameramann gerade erst den Pavillon verlässt und meine Worte vermutlich noch hört, und scheiß drauf, dass ich gute Miene zu bösem Spiel machen soll. Fiona hat vor laufender Kamera eindeutig eine Grenze überschritten. Meine Grenze.

 

Sie lächelt mitleidig. „Komm schon, es war nur ein Filmkuss. Die Zuschauer stehen auf Romantik.“ Mit diesen Worten wendet sie sich ab und schreitet von dannen.

 

Von wegen Filmkuss, Fiona hat mich benutzt, für was auch immer, und Dads verschissenes Drehbuch hat ihr dabei hervorragend in die Hände gespielt. Das Bier vom Abendessen stößt mir sauer auf und ich glaube, mich jeden Moment hier zwischen den Blumen im Pavillon übergeben zu müssen. Da steht Marble plötzlich neben mir.

 

„Noah?“ Ihr Kostüm sitzt noch genauso perfekt wie heute Morgen, ihr geschminktes Gesicht zieren noch immer die goldenen Ranken auf petrolfarbigem Untergrund. Aber ihrem Blick und ihrer Stimme entnehme ich, dass sie in diesem Moment nicht Puck ist. Meine Schwester streicht mir über die Wange, befreit mich von der verdammten Halskrause und schlingt ihre Arme um mich.

 

In meiner Kehle brennt es, ein paar Tränen verlassen meine Augen. Egal, das wird die Maske gleich wieder richten.

 

„Ich hab dich lieb“, flüstert Marble mir zu.

 

„Ich dich auch.“

 

Marble denkt in diesem Moment nicht an mein Versprechen, das weiß ich, ihre Zuneigung ist echt und ohne jeden Hintergedanken. Nur in mir brennt es lodernd, als mich die Erkenntnis trifft, dass ich für mein Versprechen einen sehr hohen Preis zahle,

 

Obwohl der restliche Dreh mehr als anstrengend ist und ich gestern schon kaum geschlafen habe, mache ich in dieser Nacht kein Auge zu. Immer wieder geht mir die Szene im Pavillon durch den Kopf. Der Kuss, Fionas falsches Lächeln, die Kameras.

 

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Direkt nach dem Frühstück, bei dem ich nur mit Mühe eine Tasse Kaffee runterwürge, gehe ich in Dads Arbeitszimmer. Mir bleibt nicht viel Zeit, in spätestens einer Stunde wird Vincent mich bereits zum Flughafen bringen.

 

„Morgen, Noah.“ Mein Vater sieht nur kurz auf, als ich das Zimmer betrete und mich ihm gegenüber an den Schreibtisch setze. Mit schnellen Fingern tippt er auf der Tastatur.

 

„Kann ich kurz mit dir reden?“

 

Dad hört auf zu tippen. Sein Gesicht spricht Bände. Es passt ihm nicht, dass ich ihn bei der Arbeit störe, aber darauf kann ich nun keine Rücksicht nehmen. „Was gibt’s?“

 

„Der Dreh gestern Abend ist etwas aus dem Ruder gelaufen.“ Ich weiß nicht, ob und was der Regieassistent ihm schon erzählt hat. Wenn ich das überrascht Gesicht meines Vaters richtig deute, nicht viel.

 

„Tatsächlich?“

 

„Ja, die Szene im Pavillon. Fiona hat mich geküsst.“ Wie ich es hasse, das zugeben zu müssen. Es ist, als ob ich mich vor Dad, und vor Fiona, ausziehen müsste.

 

Dad lacht auf. „Ach das meinst du. Tim hat mir davon erzählt. Das stand vielleicht nicht so explizit im Drehbuch, aber ihr habt das großartig gemacht. Die Leute werden es lieben.“

 

Wir! Dass ich nicht lache. Fiona hat im Alleingang entschieden. Ich hatte keine Wahl.

 

„Dad, bitte, das darf auf keinen Fall veröffentlicht werden“, sage ich und ärgere mich über den verzweifelten Ton in meiner Stimme. Es gibt nichts Schlimmeres, als vor ihm als Bittsteller zu stehen. „Du weißt, was in meinem Vertrag steht.“

 

Dad sieht mich unbekümmert an. „Noah, ich bitte dich. Das war doch nur ein Filmkuss. Ich spreche mit Scott, das wird keine negativen Konsequenzen haben. Im Gegenteil, ich glaube, das kann dir nur nützen.“

 

Unfassbar. Ich will widersprechen, doch etwas anderes fängt meine Aufmerksamkeit. Ein kleiner Stapel Papier, auf dessen oberster Seite das Wort Vertrag steht. Aber nicht das ist es, was mich irritiert. Es ist der Text darunter. Arbeitsvertrag zwischen Buckingham Bites und Marble Hammond. Was zur Hölle? Ein Blick auf das Logo oben rechts auf der Seite verrät, dass es sich bei Buckingham Bites um eine Luxus-Cateringfirma handelt. Was hat meine Schwester mit denen zu tun?

 

„Dad? Was ist das?“ Ich tippe mit dem Zeigefinger auf den Arbeitsvertrag.

 

Mein Vater, der sich während meines Schweigens wieder seiner Tastatur zugewandt hat, wirft einen raschen Blick auf das Papier und schaut dann zurück zum Bildschirm. „Marbles neuer Job. Sie kann nächsten Monat bei der Cateringfirma anfangen.“

 

„Wie bitte? Weiß sie davon?“ Wahrscheinlich nicht. Eine solche Neuigkeit hätte Marble mir niemals verschwiegen.

 

„Mum und ich wollten diese Woche mit ihr darüber sprechen.“ Noch immer sieht Dad mich nicht an.

 

„Ihr habt hinter ihrem Rücken einen Vertrag für sie ausgehandelt?“, rufe ich. „Dad, was soll das? Marble interessiert sich nicht für Service und Catering. Sie will Schauspielerin werden, und modeln.“

 

Jetzt habe ich die Aufmerksamkeit meines Vaters, allerdings nicht so, wie ich sie mir wünschen würde. Er sieht mich noch mitleidiger an als Fiona gestern nach ihrem übergriffigen Kuss.

 

„Noah, mach dich nicht lächerlich. Marble hat in dieser Branche keine Chance. Sie wird doch gar nicht ernstgenommen!“

 

So wie du sie nicht ernst nimmst!

 

Es liegt mir auf der Zunge, aber ich schlucke die Worte in letzter Sekunde hinunter, denn die Wahrheit ist, dass auch ich den Wunsch meiner Schwester bis zu diesem Wochenende nicht so ernst genommen habe, wie sie es verdient hätte.

 

„Hast du ihr gestern überhaupt zugesehen? Hast du gesehen, mit welcher Leidenschaft und Freude sie gespielt hat?“

 

„Das ist was anderes. Hier ist sie in einem geschützten Rahmen. Aber da draußen wird sie über kurz oder lang zerfleischt. Glaub mir, Noah, ich kenne diese Branche über dreißig Jahre.“

 

Diese Antwort überrascht mich und stimmt mich gegen meinen Willen etwas milder. Ist Marble Dad am Ende nicht so egal, wie es mir immer scheint? Will er sie wirklich nur beschützen? Aber wenn er das Showbusinnes so gut kennt, müsste er Wege finden können, um Marble ihren Wunsch zu erfüllen, ohne sie ins offene Messer laufen zu lassen.

 

„Dad, bitte. Es gibt doch inzwischen viele Menschen mit Down-Syndrom, die erfolgreich modeln und schauspielern. Die können nicht alle depressiv sein.“ Zumindest nicht mehr als ihre KollegInnen ohne Behinderung. „Aber wenn du Marble dazu zwingst, Buffets aufzubauen und Essen zu servieren, geht sie ein.“

 

Dads Kiefermuskeln treten deutlich hervor und seine Augenbrauen ziehen sich zu einer Linie zusammen.

 

„Du tust so, als würde ich deine Schwester dem Teufel verkaufen. Ich habe immer alles dafür gegeben, dass eurem Erfolg nichts im Weg steht, und ihr euer Talent beweisen könnt. Marble wird mit ihrer offenherzigen Art und ihrer Freundlichkeit eine Bereicherung für Buckingham Bites sein, das hat die Chefin dort schon bestätigt. Du bist gesund, Noah, und du solltest endlich deinen Arsch hochkriegen und zeigen, was du drauf hast, statt dich dauernd hinter diesem Lockenkopf aus Manchester zu verstecken.“

 

Wenn er mir seine Faust in den Magen gerammt hätte, könnte es nicht schlimmer wehtun. Da war sie wieder. Die Moralpredigt, dass ich nicht tauge, nicht gut genug bin. Doch ausgerechnet damit zu argumentieren, dass ich nicht behindert bin und deshalb mehr leisten müsste, ist eine neue Form der Demütigung. Sie trifft mich so tief, dass ich nicht einmal schaffe zu widersprechen, dass Marble nicht krank ist.

 

Ich muss dreimal schlucken, um das Brennen in meiner Kehle wieder loszuwerden, ehe ich etwas sagen kann.

 

„Es ist okay, dass du mehr von mir erwartest.“ Ist es nicht, aber ich sage es, weil Dad genau das hören will. „Ich werde mich nicht mehr verstecken. Aber bitte gib Marble die Chance, ihr Talent zu zeigen.“

 

Mir ist speiübel, noch nie haben Worte so furchtbar geschmeckt, und ich würde mir am liebsten den Mund mit Seife auswaschen. Doch die Worte sind gesagt, ich kann sie nicht mehr zurücknehmen.

 

Dads Miene ist noch immer starr und undurchdringlich. Aber schließlich zieht er langsam den Arbeitsvertrag zu sich und verstaut ihn in einer Schreibtischunterlage. „Beweis es mir, und ich denke noch einmal darüber nach.“

 

Ohne mich noch einmal anzusehen, widmet er sich wieder Bildschirm und Tastatur. Ich bin entlassen, er hat mir nichts mehr zu sagen. Ich stehe langsam auf, in der irren Hoffnung, es könnte vielleicht doch noch ein freundliches Wort des Abschieds folgen. Aber es bleibt aus, und ich verlasse wortlos den Raum.

 

In der Eingangshalle steht Vincent bereits mit meinem Gepäck bereit. Neben ihm Marble. Ihr hoffnungsvoller Blick bricht mir das Herz. Ich sollte es ihr sagen, was Mum und Dad für sie planen, aber ich will sie nicht verunsichern. Nicht, solang ich dafür sorgen kann, dass ihr Traum doch noch wahr wird. Ich habe es ihr versprochen.

 

Vincent sieht vielsagend auf seine Uhr, ich nicke.

 

„Noah?“ Marble macht einen Schritt auf mich zu, ihre Stimme klingt dünn, beinahe panisch. Es ist mehr als ich ertragen kann. Und zum ersten Mal in meinem Leben, lasse ich meine Zwillingsschwester stehen und folge Vincent wortlos nach draußen zum Auto.

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