Kristina

Noah. Ein Wort, ein Name, ist alles, was ich denken kann. Immer wieder formen meine Zunge und meine Lippen diesen Namen, ohne ihn laut auszusprechen. Noah, Noah, Noah. Ich liege neben ihm, die Augen geschlossen, in enger Umarmung, seine warme Haut an meiner. Seine kurzen Barthaare reiben rau gegen meine Hand, während mein Kopf durch das Auf und Ab seines Brustkorbs sanft angehoben und wieder gesenkt wird. Noah.
Plötzlich dringt der Schlag einer Kirchturmuhr an mein Ohr.
„Wie lang liegen wir hier schon?“
„Noch nicht lang genug“, flüstert Noah, küsst mich und spielt dabei sanft mit meiner rechten Brustwarze, was dazu führt, dass sich mein Inneres schon wieder lustvoll zusammenzieht. Allerdings nicht lang.
Draußen setzt anhaltendes Geläut ein, es muss zwölf Uhr sein. Krass. Ich bin vor weniger als zwei Stunden angekommen und es ist so viel passiert. Mein Zeitgefühl ist völlig außer Kontrolle geraten. Die Küsse, der Sex – es kommt mir gleichzeitig so lang und viel zu kurz vor. Ich könnte noch ewig hier neben Noah liegen. Theoretisch ist auch noch genug Zeit, ehe mein Zug nach Dessau geht. Aber praktisch …
„Vielleicht sollten wir uns anziehen, bevor Jayden zurückkommt.“ Verdammt, ich hasse es, jetzt vernünftig zu sein.
Noah offenbar auch. „Shit. Ich will nicht.“
„Ich auch nicht“, gebe ich zu und küsse ihn auf den Punkt zwischen seinen Rippen. „Aber was sagen wir deinem Bodyguard?“
Noah seufzt und richtet sich auf. „Du hast recht, wir müssen es ihm nicht so plakativ unter die Nase reiben, dass die Klavierstunde etwas eskaliert ist.“
Wir müssen beide lachen, stehen aber schließlich auf und gehen gemeinsam ins Bad, das sich in Größe und Ausstattung vor dem Rest der Suite nicht zu verstecken braucht. Es ist fast so groß wie das Apartment, in dem ich die vergangene Nacht verbracht habe. Unser Plan war, zu duschen, aber als ich die große, freistehende Badewanne erblicke, zögere ich, Noah, der schon mit halbem Fuß in der Dusche steht, zu folgen.
„Ich wollte schon immer in so einer Badewanne liegen.“
Noah grinst. „Tu dir keinen Zwang an. Ist ja Platz genug.“
„Ich meinte baden“, erwidere ich kopfschüttelnd. „Wie wär’s?“
„Das dauert doch eine halbe Stunde, bis die voll ist.“ Als ich einen Schmollmund ziehe, lächelt er jedoch. „Beim nächsten Mal, okay?“
„Ich nehme dich beim Wort, Noah Hammond“, sage ich und folge ihm in die geräumige Dusche.
Auch eine Woche später liegt noch immer ein zufriedenes Lächeln auf meinem Gesicht.
Wobei Lächeln untertrieben ist, Dauergrinsen trifft es eher, und es gleicht einem Wunder, dass ich noch nicht den Muskelkater des Jahrhunderts in meinen Wangen habe. Es fügt sich einfach gerade alles. Die Clubtour ist gut angelaufen, die Fans feiern uns und die Musik, die Promo-Termine machen Spaß, und seit Piet das Briefing für die Journalisten überarbeitet hat, müssen Freddy und ich auch keine Fragen mehr zu unserem angeblichen Beziehungsstatus beantworten.
Tja, und dann wäre da noch die Tatsache, dass ich mit Noah Hammond geschlafen habe. Und dass eben dieser Noah Hammond mir seitdem jeden Tag mindestens vier Nachrichten schreibt, auf die ich mindestens genauso oft antworte.
So auch jetzt, ehe ich aus meiner Koje im Nightliner klettere.
Guten Morgen aus irgendwo bei Berlin vermutlich. Hab noch nicht aus dem Fenster geschaut 😊 Was hast du geträumt?
Es ist kurz vor sieben. Noah wird diese Nachricht vermutlich frühestens in einer Stunde lesen, so wie ich ihn inzwischen kenne.
Doch ich täusche mich. Als ich von der Toilette zurückkomme, wartet eine neue Nachricht auf mich.
Sonnenschein. Du. Kaffee. – Kann mich nicht entscheiden, was davon Gruß oder Traum ist.
Schmunzelnd tippe ich meine Antwort. Wenn Kaffee das neue Guten Morgen ist, lautet meine Antwort Tee. Challenge für heute: Wer den schönsten Sonnenschein findet.
Ich schicke die Nachricht ab und gehe nach vorne in den Bus, wo Piet bereits mit einem Kaffee am Tisch sitzt und auf die Tastatur seines Notebooks einhackt.
„Moin“, grüße ich ihn und stelle den Wasserkocher in der Küchennische an.
„Moin, alles klar?“
„Logisch. Wo sind wir gerade?“
Piet sieht auf. „Kurz vor Berlin. Vielleicht noch eine halbe Stunde. Aber keine Sorge, ihr habt noch genug Zeit vor dem Radiointerview.“
Ich winke ab. Das Radiointerview mit irgendeinem Berliner Indie-Sender stresst mich nicht. Keine Ahnung, wieso Piet meint, mich in dieser Hinsicht beruhigen zu müssen. Ist aber auch egal. Ich gieße meinen Tee auf und setze mich unserem Manager gegenüber an den Tisch. Piet hat die Jalousie vor das Fenster gezogen, vermutlich damit er besser auf seinen Bildschirm schauen kann. Mir bleibt dadurch allerdings der Blick nach draußen verwehrt. Nicht, dass ich da draußen spektakuläre Landschaft erwarten würde, aber ich würde die von mir angestoßene Wette gegen Noah gern gewinnen und ein schönes Sonnenscheinbild machen. Wir haben vor drei Tagen mit den gegenseitigen Herausforderungen angefangen und aktuell liege ich einen Punkt zurück.
Doch bevor ich mich daran begeben kann, meinen Rückstand aufzuholen, kommt Freddy den Gang herunter und nimmt eine Flasche Mate aus dem Kühlschrank, während er uns gleichzeitig einen guten Morgen wünscht. Er hat seine Locken noch nicht zusammengebunden und offenbar auch noch nicht gekämmt, jedenfalls stehen sie in alle möglichen Richtungen, aber er sieht ausgeschlafen und vor allem gut gelaunt aus. Die gute Laune dürfte vor allem an Judith liegen, die keine Minute später hinter Freddy auftaucht und ihm einen Kuss in den Nacken gibt.
In meinem Nacken kitzelt es.
Da müssen irgendwelche Nerven oder Synapsen sitzen, die mich beim Anblick der Zärtlichkeiten zwischen Freddy und Judith direkt wieder an Noah erinnern. An seine Küsse auf meiner Haut, das sanfte Streicheln seiner Finger. Mir wird unwillkürlich heiß. Verdammt, ich wünschte, Noah wäre hier – oder besser noch, ich bei ihm.
Ich zucke zusammen, als ich eine Berührung auf meinem Rücken spüre. Bin ich so sehr in Gedanken versunken, dass ich mir Noahs Nähe nun schon deutlich einbilde?
Nein, es ist nur Judith, die mich zur Begrüßung kurz umarmt.
„Hey, magst du auch einen Tee? Es ist noch heißes Wasser da“, sage ich hastig, um mich von meinen Gedanken abzulenken.
Judith schnappt sich einen Teebeutel und kurz darauf sitzen wir mit unseren jeweiligen Getränken zusammen.
„Ab auf die Insel“, frohlockt Freddy und sieht schwärmerisch gen Decke, als ob er dort zwischen Lichtschalter und Klimaanlage schon Strand und Meer ausmachen könnte. „Ich hab richtig Bock auf das Konzert heute Abend.“
„Und auf einen Mondscheinspaziergang über die Seebrücke“, fügt Judith in gespielt mahnendem Tonfall hinzu.
Freddy nimmt sie in den Arm und küsst sie. „Dreimal rauf und runter, und am Strand entlang“, verspricht er.
Ich lege meine Hände rund um die warme Teetasse und gebe mich für einen Moment der Vorstellung hin, ich könnte mit Noah ebenfalls über die Seebrücke spazieren. Ob mit Mondlicht oder ohne, meinetwegen auch komplett im Dunkeln.
Das wäre wahrscheinlich sowieso besser, schießt es mir durch den Kopf und augenblicklich bildet sich ein schwerer Klumpen in meinem Magen.
Freddy und Judith meiden tagsüber touristisch überlaufene Plätze, um unnötige Aufmerksamkeit zu vermeiden. Zwar macht Freddy aus seiner Beziehung zu Judith kein Geheimnis, seit den letzten Gerüchten schon einmal gar nicht mehr, aber er will sie auch nicht dem Rampenlicht aussetzen. Noah und ich dürften es hingegen nicht einmal im Dunkeln wagen, gemeinsam vor die Tür zu gehen.
Und das, was gemeinsam hinter geschlossener Tür stattgefunden hat, ist noch viel verbotener, raunt die Stimme der Vernunft irgendwo in meinem Hinterkopf. Aber die Erinnerung an die Stunden mit ihm, die Nachrichten und Gedanken, die wir uns seitdem unentwegt schicken, machen mich so unfassbar glücklich.
„Morgääähhn.“
Ich löse mich von der Vorstellung von Noah und mir am Geländer der Seebrücke und lächle Joshie an, die sich mit deutlich zerknitterter Miene neben uns in die Sitzgruppe fallen lässt.
„Guten Morgen, Sonnenschein!“
Joshie vergräbt ihr Gesicht in den Händen. „Boah ey, warum habt ihr eigentlich alle so scheiß gute Laune?
„Es ist ein wunderschöner Tag“, flötet Piet, erhebt sich von seinem Platz und geht noch weiter nach vorne, vermutlich, um in Ruhe zu telefonieren oder mit unserem Busfahrer zu reden.
„Bei Piet kann ich’s ja verstehen. Gib ihm sein Handy und einen Kaffee, und er ist happy. Freddy und Judith, okay, geschenkt. Selbst Johnny grinst nur noch, seit er gestern mit Elisa rumgeknutscht hat. Aber ich dachte, ich könnte mich wenigstens auf meine beste Freundin verlassen.“
Dafür, dass Joshie noch müde ist, war das eine ganz schön lange Rede. Doch meine Eingeweide verknoten sich noch etwas mehr. Ich darf nichts sagen. Auch wenn ich meine Gefühle so gern mit meinen Freunden teilen würde.
Zum Glück kommt Freddy mir unwissentlich zur Hilfe. „Johnny hat was mit Elisa?“
Seine Stimme schwankt zwischen Überraschung und Empörung. Vermutlich hätte er darauf gesetzt, dass sein bester Freund ihm etwas erzählt. Aber so wie es klingt, hat Joshie nur zufällig mitbekommen, was zwischen Johnny und einem Mitglied unserer Crew war.
Ich verkneife mir ein Seufzen. Auch Johnny und Elisa können tun und lassen, was sie wollen. Wieso musste ich mich ausgerechnet in Noah Hammond verlieben? Mein Leben ist auch so schon kompliziert genug.
„Also, was ist dein guter Grund?“
Mist, Joshie bohrt tatsächlich weiter. Um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen, weil sie dann garantiert ahnt, was bei mir los ist, ziehe ich mit einem Ruck die Jalousie vor dem Fenster nach oben, und gleißendes Morgenlicht flutet den Bus.
„Es ist ein wunderschöner Tag“, sage ich im gleichen Tonfall wie Piet vorhin. „Außerdem bewegt man beim Lachen viel mehr Muskeln als wenn man böse guckt.“
„Na dann, viel Spaß.“
Ich winke Freddy und Judith zu, die sich nach dem Konzert tatsächlich auf den Weg zur Seebrücke machen. Der Mond scheint zwar nicht, aber das stört offenbar weder Judith noch Freddy. Hand in Hand schlendern sie in Richtung Promenade und strahlen dabei so viel Harmonie und Zufriedenheit aus, dass selbst Joshie nicht mehr beleidigt sein kann.
Die Laune unserer Drummerin hat sich allerdings auch so schon im Laufe des Tages erheblich gesteigert. Spätestens seit wir vor dem Konzert mit hochgekrempelten Hosenbeinen am Wasser entlangspaziert sind, trägt auch sie ein Grinsen im Gesicht.
„Also meinetwegen können wir hier morgen noch einmal spielen“, sagt sie, als ich neben ihr und Ben zum Hotel laufe, das nur ein paar Meter vom Club entfernt ist.
Ben nickt zustimmend. „Ja, das war schon ziemlich nice. Ich dachte immer, auf Usedom gäb’s nur alte Leute und Kurgäste. Aber die Leute heute Abend waren ja mal richtig gut drauf.“
Mir liegt eine Zustimmung auf den Lippen, doch bevor ich etwas sagen kann, vibriert mein Smartphone und ich ziehe es sofort aus der Hosentasche. Mein Grinsen wird breiter.
Okay, der Punkt geht heute definitiv an dich. Zwei Sonnenscheine auf einem Bild.
Noahs Nachricht wird von einem Kuss-Emoji begleitet. Das Foto von mir am Strand, das ich ihm heute Nachmittag geschickt habe, hat er mit einem Herz versehen.
Verdammt, ich möchte seine Küsse, nicht nur ein Emoji. Ich will seinen Herzschlag spüren, seine Stimme hören …
Wenigstens an dem letzten Punkt lässt sich etwas tun. Ich werde ihn gleich anrufen, sobald ich in meinem AirBnB bin.
„Gute Nacht, schlaf gut.“ Joshie umarmt mich vor der Tür zum Hotel, Ben hebt kurz die Hand und nickt mir zu.
„Bis morgen“, antworte ich und drehe mich um, mit einem freudigen Kribbeln in der Magengegend. Nur noch fünf Minuten, dann werde ich Noah meinen Namen sagen hören.
„Hi, Kristina.“
Wie aus dem Boden gewachsen stehen plötzlich zwei Teenies vor mir, ein Junge und ein Mädchen und lächeln mich an. Die T-Shirts, die sie unter ihren Jeansjacken tragen, sind aus unserer aktuellen Tour-Kollektion. Offenbar waren die beiden auf unserem Konzert.
„Hi“, erwidere ich.
„Sorry, dass wir dich einfach so ansprechen. Wir wollten eigentlich schon weg sein, aber wir haben unseren Bus verpasst“, sagt das Mädchen.
„Oh, habt ihr es noch weit?“
„Nur zwei Orte weiter. Zur Not leihen wir uns Räder und radeln zurück.“ Der Junge zuckt mit den Schultern.
„Können wir vielleicht noch ein Foto zusammen machen?“
„Klar.“ Im Gegensatz zu neulich, als mich die Mädels im Zug angequatscht haben, bin ich diesmal gescheit frisiert. Trotzdem ist meine Antwort eher ein Automatismus, nur kann ich den beiden schlecht sagen, dass ich gerade lieber mit dem Mitglied einer gewissen Boygroup telefonieren würde. Also stelle ich mich lächelnd neben das Mädchen, der Junge zückt sein Smartphone und macht das Foto.
„Danke, voll lieb von dir“, sagt sie.
„Kein Ding. Kommt gut nach Hause.“
Die beiden winken und gehen die Straße hinunter, und das sollte ich jetzt auch schleunigst tun, ehe mich diese Sehnsucht nach Noahs Stimme von innen zerreißt. Der Altbau, in dem Piet für mich ein kleines Apartment gemietet hat, ist von hier aus bereits zu sehen und mit beschwingtem Schritt steuere ich darauf zu.
„So vergeudest du also dein Talent, Kristina.“
Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Ich starre auf den Laternenpfahl einen Meter vor mir, auf den gelblichen Lichtschein, der auf den schwarzen Masten und die Straße fällt. Obwohl es verhältnismäßig warm ist, breitet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen und meinem Rücken aus.
Diese Stimme, ich muss sie mir eingebildet haben. Es ist Jahre her, dass ich sie zuletzt gehört habe.
„Willst du mich sogar jetzt ignorieren, Kristina?“
Ich wünschte, sie würde jemand anderes meinen. Irgendeine andere Kristina, die hier zufällig herumläuft. Aber hier ist niemand sonst. Und selbst wenn – die Wahrscheinlichkeit, dass eine andere Person diese zwei Sätze auf Litauisch verstehen würde, geht gegen null. Langsam drehe ich mich um.
Sie sieht noch genauso aus wie damals. Schlank, großgewachsen, in einen eleganten Mantel gekleidet, das Haar streng hochgesteckt. Ihre dunklen Augen sehen mich unter dem rotschimmernden Lidschatten vorwurfsvoll an.
Dort, nur zwei Meter von mir entfernt auf dem hell gepflasterten Weg steht Irena Petrauskaitė, meine ehemalige Klavierlehrerin.
„Irena“, bringe ich endlich hervor. „Was machst du hier?“
Die Worte fühlen sich ungewohnt an und Scham flammt in mir auf. Nicht etwa Irena gegenüber, weil meine Worte vielleicht unhöflich klingen. Mir geht in diesem Moment auf, dass ich mich schon viel zu lange nicht mehr bei meinen Großeltern gemeldet habe. Sonst würde es mir leichter fallen, Litauisch zu reden. Meine Muttersprache.
„Ich bin wegen einer Besprechung hier. Im Herbst findet hier ein Musikfestival statt und ich gebe in diesem Rahmen einen Meisterkurs für vielversprechende Klavierschüler.“
Irenas Blick ruht durchdringend auf mir, wie früher, wenn ich mich durch schwierige Passagen gequält habe und kurz davor war aufzugeben. Auch jetzt verfehlt der Blick seine Wirkung nicht, nur dass Irena nichts mehr sagen muss, ich höre ihr Mantra auch so.
Aufgeben zählt nicht. Es ist nicht unmöglich.
Ich schlucke. Damals habe ich ihr geglaubt, und was die Sonaten und Klavierkonzerte anging, hatte Irena recht. Aber alles andere …
„Du könntest einen Platz in der Meisterklasse haben“, sagt sie und lässt den zweiten Teil des Satzes unausgesprochen, der mir trotzdem klar ist. Ich bräuchte nur ein Wort zu sagen und der Platz wäre mir sicher.
Ich schüttle den Kopf. Irena Petrauskaitė ist Teil meiner Vergangenheit, dort sollte sie bleiben. Ich habe jetzt ein anderes Leben.
Zum ersten Mal während unseres Gesprächs geht nun eine Regung durch den beherrschten Körper meiner ehemaligen Lehrerin. In ihren Mundwinkeln zuckt es und sie macht einen Schritt auf mich zu, streckt ihre Hand nach mir aus. Automatisch weiche ich zurück.
„Kristina, bitte. Du kannst doch mehr als immer nur die gleichen vier Akkorde zu spielen. Dieses Talent darfst du nicht verschwenden.“
Es ist sinnlos mit einer Professorin für klassisches Klavier über die gleichwertige Berechtigung von U-Musik und E-Musik zu diskutieren, weshalb ich gar nicht erst den Versuch starte, ihr zu erklären, dass in unseren Songs mehr als vier Akkorde vorkommen.
„Ist es nicht meine Sache, was ich mit meinem Talent anfange oder nicht?“, frage ich stattdessen.
Irena seufzt, als wäre ich ein bockiges Kleinkind, und ja, vielleicht bin ich das in diesem Moment auch. Aber sie hat kein Recht, mir Vorschriften zu machen. Nicht mehr. Sie probiert es dennoch.
„Bitte, Kristina. Ieva würde …“
„Lass sie da raus“, sage ich mit scharfer Stimme und Irena verstummt. In meiner Brust wird es eng, mein Herzschlag nimmt so viel Raum ein, dass für Luft kein Platz mehr bleibt. Ganz ruhig. Einatmen. Ausatmen.
„Ich muss los, morgen wird ein langer Tag“, sage ich leise und will mich abwenden, um endlich zu meinem AirBnB zu gehen.
„Du bleibst nicht im Hotel wie deine Freunde?“ Irenas Stimme durchschneidet die laue Nachtluft wie ein Schwert. Oh ja, das kann sie gut. Diese Strenge, die mich immer noch zusammenfahren lässt und Widerspruch im Keim ersticken kann.
„Ich hasse Hotels.“
Ein schmerzlicher Ausdruck huscht über Irenas Gesicht, aber sie hat sich schnell wieder im Griff. „Du kannst nicht ewig davonrennen. Solltest du dir es noch anders überlegen, ruf mich an. Meine Nummer ist die gleiche.“
Ich nicke, auch wenn ich weiß, dass ich mich nicht melden werde.
„Tschüss“, murmle ich, dann lasse ich sie stehen und laufe los.
Auf dem Teppich im Flur des Apartments breche ich weinend zusammen.
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