Kapitel 24 - Schlaflos in London

Noah

Die Doppelseite des Notizbuchs auf meinen Knien ist vollgekritzelt mit Vierzeilern, einzeln Sätzen, unterstrichen, durchgestrichen. Ein knapper Zentimeter am unteren Rand des Papiers ist noch frei und mit fliegender Hand schreibe ich noch ein paar Worte dazu.

You are like a mirror to my soul.

Ich starre auf die Zeile, deren Buchstaben sich stark krümmen, um überhaupt noch auf die Seite zu passen. Das Chaos im Notizbuch spiegelt so ziemlich wider, wie es in meinem Innern aussieht. Ein Spiegel meiner Seele. 

Der Stift gleitet mir aus der Hand, verschwindet in einer Falte der Bettdecke.

 

Ich fahre mir übers Gesicht. Mir ist nur zu bewusst, dass mit dieser letzten Zeile nicht mein Notizbuch gemeint ist. Wie genau ich das meine, kann ich mir allerdings auch nicht erklären. Irgendein Teil meines Körpers weiß etwas, teilt es aber meinem Hirn nicht mit. Egal wie häufig ich meine Notizen lese, ich werde einfach nicht schlau daraus, und von einem fertigen Songtext bin ich meilenweit entfernt.

 

„Warum auch? Ich hab ja Zeit“, murmle ich ironisch. Ich habe keine Zeit, oder höchstens noch sechs Stunden. Seit gestern sind wir wieder in London, um an neuen Songs zu arbeiten und erste Aufnahmen zu machen.  Während Suma sich gefreut hat, für ein paar Tage wieder bei seiner Familie sein zu können, wäre es mir lieber, ich könnte wie Andy und Liam im Hotel sein. Für unser Management wäre es egal gewesen, ob sie ein Zimmer mehr oder weniger gebucht hätten. Aber Dad hat natürlich darauf bestanden, dass ich während der Studiotage zu Hause bin.

 

Zu Hause. Schnaubend schüttle ich den Kopf und pfeffere das Notizbuch ans andere Ende meines Betts. Obwohl die Tage im Studio lang sind, bleibt Dad immer noch genügend Zeit, mich unter Druck zu setzen. Mum ist mit Lizzy in New York unterwegs und fällt somit als Vermittlerin zwischen Dad und mir weg. Und Marble besucht unsere ehemalige Nanny in Brighton, wie Dad mir erzählt hat. Ich glaube nicht an einen Zufall, dafür hat meine Schwester mich in den letzten Wochen zu konsequent ignoriert. Dabei hätte ich ihr so gern von Kristina erzählt. Marble ist die einzige, der ich mich in dieser Hinsicht anvertrauen könnte, weil ich weiß, dass sie mich nicht verraten würde. Blöd nur, dass ich sie verraten habe, und deshalb nun allein mit Dad in unserer riesigen Villa bin.

Andererseits ist gerade auch niemand hier, der mich jetzt, kurz vor Mitternacht, stören würde. Ich schnappe mir mein Handy und tippe auf die Nummer, die ich seit Tagen in Dauergebrauch habe, nur bislang habe ich noch nicht angerufen, sondern nur Nachrichten verschickt.

 

Ein Freizeichen ertönt. Einmal, zweimal, dreimal. Ein viertes Mal.

 

Fuck, in Deutschland ist es bereits eine Stunde später! Kristina schläft wahrscheinlich schon. Mein Finger steuert schon auf den rot leuchtenden Hörer zu, als doch noch abgenommen wird.

 

„Hi.“

 

Eine Silbe und mein Herz rast. Scheiße, wieso klingt Kristinas Stimme so dünn und zittrig?

„Hey. Sorry, hab ich dich geweckt?“ Ich klammere mich an diese Hoffnung, auch wenn sie noch so unbegründet scheint.

 

„Nein, ich kann nicht schlafen.“ Ein unterdrücktes Schluchzen und ein Schniefen durchbrechen Kristinas Satz und schneiden mir ins Herz.

 

„Was ist los?“

 

„Nichts“, erwidert sie sofort und mit beherrschter Stimme.

 

Ich unterdrücke ein grimmiges Lachen. „Ja, so klingst du“, sage ich. „Lief das Konzert nicht gut?“

 

„Doch, das war super. Ich habe bloß hinterher jemanden getroffen, den ich nicht sehen wollte.“

 

Die lockere Art, wie sie es sagt, passt nicht zu dem verzweifelten Schluchzen von eben, und ich glaube nicht, dass die Situation so harmlos war, wie sie mir weismachen will.

„Hat dir dieser jemand etwas getan?“, frage ich und bemerke zu spät, wie eifersüchtig ich klinge.

 

Kristina lacht auf. Es wirkt noch etwas zerbrechlich, aber es ist ein Lachen. „Nein, ich bin unversehrt. Du brauchst niemandem an die Gurgel gehen, auch wenn es lieb ist, dass du es anbietest.“

 

„Ich fürchte, in Sachen Nahkampf bin ich nicht so gut. Sonst bräuchte ich Jayden nicht. Aber für dich würde ich es natürlich wagen.“

 

Jetzt lacht Kristina ausgelassen und ich bin froh, dass sie über meinen Scherz wenigstens für einen Augenblick ihren Kummer vergessen kann. Trotzdem würde ich sie gerade lieber sehen und im Arm halten.

 

Ist ein befreiendes Lachen das, was sie gerade braucht?

 

Oder wäre es besser, wenn sie sich ausheulen könnte? Es wirkt nicht so, als habe sie gerade jemanden an ihrer Seite, dabei sollte Kristina nicht allein sein. Nicht, wenn es ihr nicht gut geht.

 

„Prügle dich lieber nicht, auch nicht meinetwegen. Das führt nur zu Fragen in den Medien.“

 

Und schon ist die gelockerte Stimmung wieder dahin. Ich musste mich immer genau umsehen, ob keiner der Jungs mir über die Schulter schaut, wenn ich in den letzten Tagen mit Kristina geschrieben habe. Meine Freude über ihre Nachrichten und Bilder durfte ich nicht zu offen zeigen. Mein Profi-Lächeln scheint wie festgeklebt in meinem Gesicht, ich weiß schon gar nicht mehr, wie es ist, ehrlich zu lächeln. Vielleicht kann ich es auch gar nicht mehr. Ein nagendes Stechen breitet sich in meiner Brust aus und ich beiße mir auf den Daumen, um den Druck auszugleichen, was nur so halb funktioniert. Mir würde eine Umarmung gerade definitiv mehr helfen. Kristinas Umarmung.

 

„Wie läuft’s bei euch?“

 

„Hm“, antworte ich nichtssagend. „Das Übliche“, füge ich hinzu. Auch nicht sehr aussagekräftig. Also nehme ich einen dritten Anlauf. „Es sind gute Ideen dabei und zwei, drei Songs stehen auch schon, aber der Druck beim zweiten Album ist schon krass.“

 

Schweigen. Dann: „Verstehe.“

 

Es ist nur diese eine Wort, leise gesprochen und unscheinbar. Aber es bedeutet mir die Welt. Ich bin mir sicher, dass Kristina nicht nur weiß, wie hart die Arbeit am Album und wie stressig das Leben in der Öffentlichkeit ist. Die Art und Weise, wie sie es sagt, verrät mir, dass sie zumindest ahnt, dass da noch mehr ist.

 

So wie ich es bei ihr ahne. Nein, ich weiß es. Da ist etwas, das sie belastet, was nichts mit der Band zu tun hat. Etwas, über das sie nicht spricht, so wie ich nicht über Dad, geschweige denn über Marble rede. Dabei würde ich dieses Schweigen so gern endlich brechen, so sehr, dass es in meinen Augen brennt und mein Inneres zerreißt. Kristina ist die einzige, mit der ich mir vorstellen könnte, darüber zu reden.

 

Aber nicht jetzt. So weit sind wir noch nicht.

 

„Ich würde dich gern wiedersehen.“

 

Die Worte sind heraus, ehe ich sie zurückhalten kann. Aber ich schäme mich nicht. Kristina wiederzusehen, sie zu spüren, ist, was ich wirklich will. Jetzt. Immer.

 

„Ich dich auch.“ Sie atmet langsam aus, und ich meine fast die Luft aus dem Lautsprecher strömen zu spüren. „Wie sieht dein Zeitplan aus?“

 

„Bescheiden.“ Um das zu wissen, muss ich nicht einmal meinen Kalender öffnen. Aber ich habe keinen Bock mehr darauf, dass mir dieser verdammte Planer mein Leben vorschreibt. „Glaubst du, du könntest nach London kommen? Wir könnten uns abends nach den Aufnahmen treffen.“

 

Kristina schnappt nach Luft, zögert.

 

„Ich zahl dir natürlich den Flug“, sage ich hastig.

 

„Das ist es nicht.“

 

Verdammt. Sie hat recht. Wahrscheinlich klang das jetzt total überheblich. „Sorry, ich wollte nur sagen …“

 

„Noah, ich komme gern nach London. Aber könnten wir uns nicht in einem Hotel treffen?“

 

In der Spiegelung des Handydisplays sehe ich mein überraschtes Gesicht und muss grinsen. Wenn das Kristinas größte Sorge ist, kann ich Abhilfe schaffen. Ich werde sie nicht hierher in die Villa meiner Eltern einladen, so verrückt bin ich nicht. Aber ich werde einen Ort finden, wo wir ungestört sind.

 

„Kein Hotel, geht klar.“

 

„Cool, danke. Wie wäre es mit Montag?“

 

Ich drehe mich so ruckartig auf der Matratze um, dass das Smartphone vor mir einen kleinen Luftsprung macht, wie mein Herz. Montag ist in drei Tagen, streng genommen schon übermorgen.

 

„Super. Ich freu mich.“ Oh Mann, ich klinge wie ein verknallter Teenie. Aber sei es drum. Ich freue mich wirklich.

 

Kristina seufzt leise. Zufrieden, nicht so traurig wie am Beginn unseres Gespräch. „Danke, dass du angerufen hast, Noah.“

 

„Danke, dass du da bist. Kannst du jetzt schlafen?“

 

„Ich glaube schon. Gute Nacht, Noah.“

 

„Gute Nacht, Kristina.“

 

„Schlaf gut.“

 

„Schlaf besser.“

 

Wir könnten dieses Spiel vermutlich noch ewig weiterführen, aber Kristina klingt müde und sollte schlafen, also lege ich auf. Ich bin hingegen hellwach, und noch während ich das Handy zur Seite lege, schießt eine Idee durch meinen Kopf.

Ich angle nach dem Notizbuch, finde den Kugelschreiber zwischen den Laken und wenige Minuten später habe ich eine weitere Doppelseite vollgeschrieben.

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