Kapitel 26 - Endlich mein Song

Noah

Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es am nächsten Morgen ins Studio, nachdem ich Kristina verabschiedet habe. Wenn es nur nach uns gegangen wäre, hätte ich sie bis zum Gate gebracht, so blieb es bei einem langen Kuss auf der Rückbank des Taxis. Ich setze auf den Ehrencodex des Taxifahrers, dass davon nichts an die Öffentlichkeit dring. Okay, und ein bisschen auf das großzügige Trinkgeld, das ich von der Fahrt vom Flughafen bis hierher habe springen lassen.

Andy kommt mir aus der kleinen Küche mit zwei Kaffeebechern entgegen und drückt mir einen in die Hand.

„Danke, womit habe ich das denn verdient?“, frage ich überrascht. Normalerweise muss ich mir meinen Kaffee selbst holen.

„Ich dachte, du könntest den gebrauchen. Du hast doch bestimmt die halbe Nacht Klavier geübt.“ 

Er grinst und mir wird trotz der Hitze, die vom Kaffeebecher ausgeht, kalt.

 

So, wie Andy mich ansieht, glaubt er die Geschichte mit dem Klavierunterricht nicht. Aber wenn er denkt, dass er mir mit einem Kaffee die Wahrheit entlocken könnte, ist er schief gewickelt. Was zwischen Kristina und mir ist, geht ihn nichts an. Ich hebe den Becher ein Stück, als ob ich Andy zuprosten würde und klopfe ihm auf die Schulter.

 

„Danke, Kumpel. Sind die anderen schon da?“

 

Andy seufzt hörbar frustriert. „Klar, Liam hat schon drei Songs eingesungen.“

 

Er übertreibt maßlos, aber als ich gefolgt von Andy den großen Aufnahmeraum betrete, steht Liam tatsächlich schon in den Startlöchern und trinkt gerade den letzten Schluck seiner Cola.

 

Unser Produzent Dom sitzt neben Suma Liam gegenüber und trinkt ebenfalls aus einer Tasse. Haben die sich hier eigentlich alle zum Frühstück verabredet und ich habe es nicht mitbekommen? Na ja, wäre mir sowieso egal gewesen. Auf das Frühstück mit Kristina hätte ich nicht verzichten wollen. Als Liam mit Lippenflattern und Dehnübungen das Einsingprogramm beginnt, steht Dom auf und kommt auf mich zu.

 

„Hat alles gepasst?“, fragt er, während ich ihm im Vorbeigehen den Schlüssel für seinen Proberaum zurückgebe.

 

„Perfekt. Danke.“ Ich sage ihm besser nicht, wie perfekt alles war, und wofür wir seinen Proberaum genutzt haben. Im Gegensatz zu Andy fragt er glücklicherweise auch nicht.

 

„Okay, Jungs. Singt ihr euch warm, dann legen wir los“, ruft er in unsere Runde, ehe er mit der Kaffeetasse in den Regieraum verschwindet.

 

Nach dem Einsingen nehmen wir ein paar Chöre auf, was mir mehr Spaß macht als ich gedacht hätte. In den letzten Tagen war es im Studio eher anstrengend, aber heute kann ich mir das Grinsen nicht verkneife, als ich zwischen Suma und Andy am Mikro stehe und den Refrain von einem von Liams Songs einsinge.

 

Have you ever seen me?

Have you ever felt the pain

Of not even getting close

To what you deeply long for?

 

Die Haare auf meinen Unterarmen stellen sich auf. Verdammt, ich bin doch gar nicht die Zielgruppe dieses Songs, aber ich kann Liams Zeilen so gut nachvollziehen. Für wen er den Song wohl geschrieben hat? Er muss an jemand bestimmtes gedacht haben, so etwas schreibt man doch nicht einfach so. Aber ich werde ihn nicht fragen, wenn er es nicht von sich aus erzählt. Ich will meine Privatsphäre, was Kristina angeht, und das gleiche Recht gestehe ich Liam auch zu.  

 

Mir gehen meine eigenen Zeilen durch den Kopf.

 

Jener Text, den ich vor wenigen Tagen nach dem Telefonat mit Kristina geschrieben habe.

 

Your eyes are like a mirror

It shows my heart

What my mind doesn’t get

 

Ich verstehe noch immer nicht, was dieser Verbindung zwischen Kristina und mir zugrunde liegt. Schon bei unserer ersten Begegnung im Lagerraum habe ich gespürt, dass da etwas ist. Und sie muss es auch gespürt haben, sonst hätten wir …

 

„Noah, was machst du für einen Mist?“ Suma versetzt mir einen Stoß gegen die Schulter und bringt mich kurz aus dem Gleichgewicht.

 

„Was ist denn los?“, frage ich, sobald ich mich wieder gefangen habe.

 

„Beim letzten Refrain ist der Text anders.“

 

Oh, das hätte ich wissen müssen. Ich kann es sogar schwarz auf weiß auf meinem Handy sehen, wo ich die Lyrics geöffnet habe. Aber wegen meiner abschweifenden Gedanken habe ich nicht mitbekommen, an welcher Stelle im Song wir waren.

 

„Sorry, war abgelenkt“, gebe ich zerknirscht zu und die anderen nehmen es zum Glück sportlich.

 

Trotzdem habe ich es, nachdem wir die Chöre erfolgreich eingesungen haben, ziemlich eilig, in den angrenzenden Proberaum zu kommen, wo ein E-Piano steht. Dom lässt sowieso erst Liam seinen Solopart einsingen, in der Zeit kann ich mich also gut um meinen Song kümmern. Besser gesagt darum, dass aus meinem Text auch wirklich ein Song wird.

 

Ich stelle mein Notizbuch aufgeklappt auf den Notenständer und lese den Text Zeile für Zeile, wobei es mir fast so scheint, als würde Kristina sich hier vor mir materialisieren. Wenn es doch nur so wäre! Aber dann würde ich garantiert nicht dazu kommen, einen Song zu schreiben.

 

Ich lege die Hände auf die Tasten, schließe die Augen.

 

Den Text brauche ich nicht, ich kenne ihn auswendig und spüre jede Zeile, ja, sogar Kristinas Blicke und Berührungen.

Spiel, was dein Herz dir sagt, erinnere ich mich an ihre Worte aus unserem ersten Klavierunterricht. So sehr gefühlt habe ich einen Text noch nie, es kann also nicht so schwer sein, jetzt eine passende Melodie dazu zu finden, oder?

 

Ich spiele ein paar Akkorde, summe mit, probiere verschiedene Tonfolgen, bis ich eine zusammenhängende Phrase habe. Leise singe ich die ersten beiden Zeilen zu dieser Melodie.

 

The evening I saw you sitting there

A silent spark lit up the air ...

 

Der Rhythmus passt noch nicht ganz, also ändere ich ein paar Töne, ergänze um eine weitere Tonfolge und starte einen weiteren Versuch.

 

The evening I saw you sitting there

A silent spark lit up the air

No words were spoken, none were needed

Still, my heart finally felt kind of completed.

 

Jetzt passt es. Ich nehme zur linken Hand die rechte dazu, führe die Akkorde etwas aus und singe die erste Strophe ein paar Mal hintereinander. Es fühlt sich gut an. Klar, Kristina hätte wahrscheinlich noch etwas ganz anderes daraus gemacht, aber diese Melodie ist das Beste, was ich in den letzten Monaten zustande gebracht habe. Und ich finde, es kann sich sehen, beziehungsweise hören lassen. Ich singe die zweite Strophe gleich hinterher und stelle zufrieden fest, dass ich keine Änderung am Text vornehmen muss, um sie in die Melodie einzufügen.

 

Ein Kribbeln breitet sich von meinem Bauch in meinem ganzen Körper aus. Kein nervöses Kribbeln, wie vor der ersten Klavierstunde mit Kristina oder bei dem leichten Lampenfieber vor einem Auftritt, es ist mehr ein Gefühl voller Tatendrang, verbunden mit der Sicherheit, dass mir gelingen wird, was auch immer ich anpacke.

 

Ich widme mich also dem Refrain. Hier gelingt es mir schneller, die Worte in Töne zu kleiden, allerdings geistern mir die Zeilen sowieso ununterbrochen durch den Kopf. Nachdem ich den Refrain ein paar Mal gesungen habe, fange ich den Song wieder von vorn an, um ihn einmal komplett zu spielen.

 

Mein Enthusiasmus bricht jedoch recht schnell in sich zusammen. Zwar funktionieren die Strophen super und der Refrain klingt gut, aber ich bekomme keine sinnvolle Verbindung zwischen ihnen hergestellt. Egal, wie oft ich es probiere, es bleibt eine Lücke. Verdammt. Das kann doch nicht sein, es hat so gut angefangen!

 

Um nicht in Frust zu versinken, singe ich den Refrain in Endlosschleife, vielleicht kommt mir dabei über kurz oder lang der rettende Einfall.

 

„Wow, das klingt super.“

 

Erschrocken fahre ich herum und sehe Liam neben der Tür an der Wand lehnen. Wie lang er wohl schon zugehört hat, ohne dass ich es bemerkt habe?

 

„Findest du?“ Mir gefällt mein Song, aber ich weiß, dass ich nicht so gut im Komponieren bin wie Liam. Vielleicht will er nur nett sein?

 

„Ja, total. Ist der Song neu?“ Sein Lächeln mit dem Strahlen in seinen Augen ist aufrichtig, sein Lob also ehrlich. Das gibt mir Mut.

 

„Ich hab den Text vor ein paar Tagen geschrieben und arbeite noch an der Melodie. Glaubst du, das könnte was für uns werden?“

 

Liam schiebt die Ärmel seines Hemds ein Stück die Unterarme hoch und kommt auf mich zu. „Auf jeden Fall.“ Er schnappt sich den Stuhl, der neben dem Klavier steht und setzt sich rittlings darauf. „Was dagegen, wenn ich mitsinge?“

 

Ein bisschen überrascht mich Liams Initiative, auch wenn er grundsätzlich sehr enthusiastisch ist, was Musik anbelangt. Vielleicht liegt es immer noch daran, dass er mir vor einiger Zeit vorgeworfen hat, mich nicht genug für die Band zu engagieren. Aber ich kann nicht leugnen, dass seine Frage mich freut. Also reiche ich ihm mein Notizbuch und beginne noch einmal zu spielen.

 

Liam stützt einen Arm lässig auf die Rückenlehne des Stuhls und liest die Lyrics mit, während ich die Strophen singe. Beim Refrain stimmt er mit ein, erfindet beim zweiten Durchlauf sogar prompt eine zweite Stimme. Um diese Kunst beneide ich ihn ein wenig, mir gelingt das spontan nie. Aber es klingt gut.

 

„Starker Song, wirklich, Noah.“ Liam stößt mir mit der Faust locker gegen die Schulter.

 

„Danke. Ich finde nur noch keine richtige Überleitung zwischen den Strophen und dem Refrain.“

 

Liams Blick wandert von links nach rechts über die Seiten meines Notizbuchs. „Du hast doch hier noch zwei Zeilen für eine Bridge. Die passen super zwischen Strophen und Refrain.“

 

„Ja, ich find nur keine passende Melodie, vielleicht ist der Text einfach zu kitschig.“

 

„Quatsch.“ Liam steht auf, mein Notizbuch hoch erhoben in der Hand, als ob er gleich aus Shakespeare deklamieren wollen würde. Aber er sagt nichts, stattdessen formen seine Lippen lautlos die Textzeilen, während er im Takt nickt.

 

„Was ist denn mit diesem Stück, das du dauernd übst?“, fragt er plötzlich. „Diese vier Takte, die würden genau passen.“

 

Ich schnappe nach Luft. Mir ist sofort klar, welches Stücker meint. Wie kann es sein, dass ich selbst noch nicht darauf gekommen bin? War es zu naheliegend?

„Welche vier Takte meinst du genau?“

 

Liam legt das Notizbuch ab, stellt sich neben mich und spielt mit lockerer Hand ein paar Takte aus den Variationen, die Kristina mir mitgegeben hat.

 

Meine Nackenhaare stellen sich auf

 

und in meiner Kehle macht sich ein Brennen bemerkbar, sodass ich hastig die Lippen zusammenkneife, um nicht zu heulen. Ich gebe es nur ungern zu, aber Liam ist ein Genie. Die Takte, die er gewählt hat, sind der perfekte Übergang zwischen Strophe und Refrain. Noch dazu ist es die ideale persönliche Ergänzung zu dem Song, ein ganz konkreter Teil von Kristina in meiner Melodie.

 

„Hammer, danke, Liam.“

 

„Spiel nochmal“, sagt er, ohne weiter auf meinen Dank einzugehen.

 

Ich nicke, spiele zwei Takte der Variation von Kristina vorweg und leite dann in die erste Strophe über. Die Bridge fügt sich plötzlich wie automatisch an, als hätte sie schon immer so sein sollen. Das Lachen auf meinem Gesicht wird mit jedem Ton breiter. Liam summt leise mit, ehe er im Refrain mit einsteigt.

 

„Macht ihr jetzt eure eigene Band auf, oder was?“

 

Diesmal zuckt auch Liam zusammen, als Andy in den Raum kommt und uns fassungslos ansieht. Liam grins ihn an.

„Natürlich nicht. Wir proben bloß schon den nächsten Hit.“

 

Andy verdreht die Augen gen Decke. „Ja klar. Noah, komm lieber mit rüber, du sollst deine Strophe für Deep einsingen.“

 

Für den Bruchteil einer Sekunde weiß ich nicht, was er meint, bis mir wieder dämmert, wo ich bin, und wieso. Ich nehme die Hände von den Tasten, schnappe mir mein Notizbuch und stehe auf.

 

„Ich komme.“

 

Liam läuft mir nach, als ich Andy folge. „Ey, wartet. Hier wird gerade ein Hit geboren, das könnt ihr doch nicht einfach so abbrechen.“

 

Dom schaut neugierig aus dem Regieraum. „Habe ich da eben Hit gehört?“

 

Ehe ich etwas sagen kann, nickt Liam, wieder mit diesem Strahlen in den Augen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass er irgendetwas genommen hat.

 

„Hast du. Du hast nur den Hit noch nicht gehört. Noah hat einen richtig geilen Song geschrieben.“

 

Okay, das Lob eben war schön und hat gutgetan, aber das kommt mir jetzt fast etwas übertrieben vor. Liams Worte verfehlen ihre Wirkung jedoch nicht, denn Dom richtet sich zu seiner vollen Größe von sechseinhalb Fuß auf und hebt die Augenbrauen, was ihn noch mal ein Stück größer wirken lässt.

 

„Den Hit will ich gleich hören“, sagt er, den Zeigefinger ausgestreckt vor der Brust. „Aber zuerst möchte ich deine Strophe von Deep im Kasten haben.“

 

Es kostet mich unendlich viel Kraft, mich auf meinen Part zu konzentrieren, so sehr beschäftigt mich der Gedanke, ob Dom und den anderen mein Song auch gefallen wird. Je länger ich darüber nachdenke, desto stärker wird mein Wunsch, diesen Song mit der Welt zu teilen. Nicht nur Kristina soll ihn hören, sondern alle. 

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